Auf den Pressekonferenzen des DFB in Santo Andre geht es manchmal ziemlich abstrus zu. Die Spieler werden schon mal gefragt, ob sie die Möglichkeit hätten, hier zum Friseur zu gehen. Ein brasilianischer Reporter wollte das wissen, weil der Superstar der hiesigen Nationalmannschaft Neymar in den ersten Spielen seine Frisur wechselte und damit wieder einen Trend bei den Jugendlichen auslöste.
Solche Fragen könnten mit "Ja" oder "Nein" oder "Das tut hier nichts zur Sache" beantwortet werden. Die Antwort hängt natürlich ganz davon ab, wen der DFB auf sein Pressepodium gesetzt hat. In diesem Fall war es Thomas Müller. Und wenn Müller spricht, gibt es keine Standardantworten.
"Wer mich kennt", sagte Müller, "weiß, dass ich in der Vergangenheit schon immer verrückte Sachen mit meinen Haaren gemacht habe." Der Oberbayer beherrscht die feine Ironie ebenso wie den direkten, lockeren Spruch.
Alle vier Jahre ist WM und alle vier Jahre fragen sich die Journalisten der Weltpresse, wer dieser Thomas Müller eigentlich ist. 2010 war das ja noch verständlich. Müller hatte gerade sein erstes starkes Jahr beim FC Bayern hinter sich. Louis van Gaal hatte ihn zu seinem zentralen Spieler gemacht und der damals 20-Jährige wurde Torschützenkönig.
Kein Superstar wie Neymar
Die vier Jahre danach hat Müller beim FC Bayern gespielt und alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Er hat dabei fast immer gespielt, auch wenn er in dieser Saison das eine oder andere Mal öfter auf der Bank saß.
Auch bei der WM ist Müller auf den Punkt genau fit und bereit. Er hat bisher vier Tore geschossen in diesem Turnier, drei davon im Auftaktspiel gegen Portugal. Er gehört zu den Stars dieser WM.
Die ausländischen Journalisten fragen sich aber: Warum wissen wir über Neymar und Ronaldo eigentlich alles und über Müller so gut wie nichts? So ist auch die Frage nach seiner Frisur zu verstehen, die er schon immer so trägt.
"We call it Pausenclown"
Müller ist der Star der etwas anderen Art, er interpretiert die Rolle des Fußball-Helden auf seine Art und ist damit schon fast ein Unikat im modernen Fußballzirkus. Er gibt sich gänzlich unprätentiös, ist volksnah und echt. Er ist zwar auch in den sozialen Medien bei Twitter und Facebook präsent sowie in der Werbung, definiert sich aber nicht darüber.
Neben seiner Frisur sollte Müller auch noch etwas über Neymar sagen und sich mit ihm vergleichen. Der Brasilianer sei ein kompletter Spieler, lobte Müller, um dann mit einer Pointe zu schließen. "Ich habe mir sagen lassen, ich sei schwer vergleichbar."
Müller ist ein Gaudibursch, wie man in Bayern sagen würde. Der in München geborene Mats Hummels brachte Müller den amerikanischen Journalisten nach dem Spiel gegen die USA so näher. "Müller is a very funny guy. In Germany we call it Pausenclown."
Gereift und ehrgeizig
Auf dem Platz ist der Spaß aber ganz schnell vorbei. Müller ist ein Spieler, der bei gegnerischen Fans oft nicht gut ankommt. Er versucht in 90 Minuten immer alles für seine Mannschaft herauszuholen. Er arbeitet, er schindet, er reklamiert. Aber er alles auf fairem Niveau.
"Thomas ist gereift", sagt Co-Trainer Hansi Flick. "Er geht auf dem Platz vorweg und gibt bis zum Schluss immer alles." Mit seiner extrovertierten Art sei er aber außerhalb auch für jeden Spaß zu haben. "Das entspricht genau unserer Mentalität, die wir haben wollen", sagt Teammanager Oliver Bierhoff. "Er kann auch mal lachen, ist aber unglaublich ehrgeizig."
Müller ist auf seine Art ein Führungsspieler. Unvergessen, wie er beim Champions-League-Finale des FC Bayern 2012 vor dem Elfmeterschießen auf Anatolij Tymoschtschuk einredete, weil der sich weigerte, zu schießen.
Diskussion um falsche Neun beendet
Müller hat mit der Angst des Schützen vorm Elfmeter keine Probleme. Er verwandelte gegen Portugal mit Souveränität und Coolness. Insgesamt hat er schon vier Treffer auf dem Konto. Wie 2010 könnte er auch bei dieser WM den Goldenen Schuh für den besten Torschützen gewinnen. "Die Trophäe ist nur zweitrangig für mich, die habe ich ja schon zuhause. Wichtiger ist die Mannschaft, ich will Weltmeister werden", sagt Müller.
Er lebt die Entschlossenheit vor, die die Mannschaft für den ganz großen Wurf braucht. Er hat mit seiner Interpretation des Stürmers die Diskussion um die falsche Neun auf einen Schlag beendet.
Löw hat aber auch lange gebraucht, um sich für die Variante mit Müller als Angreifer zu entscheiden. Meist spielte er mit Mario Götze oder Mesut Özil im Zentrum.
Der gerade Weg zum Tor
"Egal, wer im Sturm spielt, wir werden uns immer bewegen und die Räume suchen", sagt Müller über das Offensivspiel. Auch er ist kein Mittelstürmer, der strikt seine Position hält und mit Wucht die Gegenspieler überwindet. Es sind die unkonventionellen Laufwege, die ihn immer wieder in gute Abschlusspositionen bringen.
Selbst Löw meinte, er wisse nie, "welchen Weg Thomas gerade macht. Er ist ein unorthodoxer Spieler, der immer nur einen Gedanken im Kopf hat: Wie kann ich am schnellsten ein Tor erzielen?" Dabei schont er sich nicht und tut das, was für einen Stürmer laut deutscher Definition unerlässlich ist. Er geht dahin, wo es weh tut. Beim Spiel gegen Ghana holte er sich so einen Cut am Auge.
Was Müller macht, wir oft etwas staksig und ungewöhnlich, aber neben Miroslav Klose und Lukas Podolski ist Müller der geradlinigste und abschlussstärkste Spieler im deutschen Kader. Auf ihn und seine lockere Art kann Deutschland nicht verzichten.