Dieser Artikel erschien erstmals am 15. Juli 2014
Die bewegendste Szene des Spiels nahm man kaum wahr. Im TV war sie kaum sichtbar, sie ging unter. Sie fand nicht auf der Tribüne statt, wo sich die deutschen Fans im Jubel verloren und die Argentinier in Schockstarre um Fassung rangen. Nicht an der Seitenlinie, wo Joachim Löw sich über den verdienten Lohn von acht Jahren harter Arbeit freute. Nicht in der chaotischen Traube aus Spielern, die ihrer kollektiven Reizüberflutung freien Lauf ließen.
Es war ein paar Meter entfernt, wo Bastian Schweinsteigers Gesichtszüge vor Schmerz keinerlei Fröhlichkeit ausstrahlen konnten. Thomas Müller stützte und umarmte ihn gleichzeitig. Den Schweinsteiger, der in totaler Erschöpfung über den Platz humpelte. Der weder Kraft noch Bedarf zu haben schien, sich weiter im freudetaumelnden Menschenwust zu wühlen.
Sekunden zuvor hatte Schweinsteiger zu einem letzten Kopfball ausgeholt, bevor ihm ein übermotivierter Javier Mascherano in den Rücken sprang und ihn zu Boden streckte. Zum wiederholten Mal blieb er liegen - doch diesmal war klar: Es ist das letzte Mal.
Müller packte ihn, schüttelte ihn euphorisch und signalisierte seinem Kollegen: Gleich ist es geschafft! In diesem Moment ertönte der Schlusspfiff. Und Schweinsteiger humpelte dahin, in Müllers Armen, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Und doch dürfte kaum jemand auf dem Platz eine vergleichbare Zufriedenheit empfunden haben wie er. Kurz darauf weinte er Tränen der Erlösung, Tränen der Glückseligkeit.
Den Kritikern das Maul gestopft
Schweinsteiger hatte soeben sein Meisterstück abgeliefert. Das größte Spiel seiner Karriere. Das größtmögliche Statement an alle Kritiker und Skeptiker. An die, die in einem unfitten Schweinsteiger ein Hindernis zu sehen wagten. Schweinsteiger hat jenen - auf gut Deutsch formuliert - das Maul gestopft und sich nebenbei ein Denkmal gesetzt.
Die ganz Großen treten in den entscheidenden Spielen auf, im besten Fall entscheiden sie diese. Schweinsteiger lieferte in einer der wichtigsten Partien seiner Karriere, nur vergleichbar mit den Finals in der Champions League, das Spiel seines Lebens ab. Schweinsteiger, dem ach so oft Führungsqualität abgesprochen wurde, ging voran wie kein Zweiter.
Er verlieh dem deutschen Spiel Struktur und Rhythmus, stand Greenhorn Christoph Kramer bis zu dessen Auswechslung zur Seite und übernahm daraufhin dessen Aufgaben kurzerhand, als Löw mit Andre Schürrle einen Offensivspieler brachte. Auch um Lionel Messi kümmerte er sich, schnitt dessen Mitspielern oft die Passwege ab oder grätschte im Zweifelsfall selbst dazwischen. Er kümmerte sich um alles.
Martialisches Symbol der Willensstärke
Am Ende hatte er die zweitmeisten Ballkontakte (124), gewann fast 70 Prozent seiner Zweikämpfe. Doch wirklich beeindruckend ist eine andere Zahl: Sechsmal wurde er gefoult. Nicht durch Trikotzupfen oder harmlose Schubser. Schweinsteiger wurde getreten, umgegrätscht, von Sergio Agüero im Gesicht getroffen.
Als sein Cut unterm Auge behandelt wurde, stand schon Kevin Großkreutz zur Einwechslung bereit - doch Schweinsteiger winkte ab. "Das gehört dazu, da muss man sich einfach reinhauen. So ein Spiel spielt man nicht so oft in seinem Leben."
Auch eine blutende Wange konnte ihn nicht am Weitermachen hindern. Sie war Symbol für seinen Willen, der durch die zahlreichen Fouls nur stärker zu werden schien. Für die Führungsqualität, die er auszustrahlen vermochte. Das Bild des blutenden Schweinsteiger wird fortan mit diesen Charakteristika verbunden sein.
"Drama dahoam" als Impuls
Vor zwei Jahren noch schien es, als würde mit Schweinsteiger ein anderes Symbol verbunden bleiben. Das eines Elfmeterschützen, der anläuft, verzögert, verschießt, scheitert. Der kurz unsicher durch die Arena blickt, dem binnen Sekunden die Tragweite seines Fehlschusses bewusst wird. Der sein Gesicht unterm Trikot vergräbt und bittere Tränen weint.
Es war das "Finale dahoam", das man fortan mit Schweinsteigers fassungsloser Mimik assoziierte. Ein Endspiel im eigenen Stadion, vor märchenhafter Kulisse, an einem scheinbar perfekten Sommertag. Ein Spiel, das für immer als vollkommener Triumph in die Geschichte hätte eingehen können, doch zu einem Trauma wurde. Unter anderem, weil Schweinsteiger verschoss.
In vielen Fällen wirkt jegliche "Was-wäre-wenn"-Diskussion mühselig und überflüssig. Doch mit Blick auf den Schweinsteiger von 2014 scheint eine Frage angebracht: Dieser Wille, diese Ausstrahlung im Finale, "die letzten Prozente", die man in München so gerne beschwört... Hätte Schweinsteiger jemals dieses Level erklimmen können, wenn es das Drama von 2012 nicht gegeben hätte? Wenn Bayern sein Traumfinale in Hollywood-Manier gewonnen hätte?
An der Dramaturgie gewachsen
Schweinsteiger ist an der Dramaturgie des "Finale dahoam" gewachsen wie kein Zweiter. Und das, obwohl er es weiterhin schwer hatte. Mehrere Operationen am Sprunggelenk musste er über sich ergehen lassen, dazu bereitete die Patellasehne immer wieder Sorgen.
Vor dem Champions-League-Finale 2013 erwischte ihn Mario Mandzukic beim Aufwärmen am Knöchel, Schweinsteiger musste behandelt werden, spielte die Anfangsphase nur auf Halbgas. Doch er kämpfte sich ins Spiel, überzeugte in der zweiten Halbzeit und erfuhr durch den Titelgewinn die substanziell wichtige Genugtuung für 2012.
Der Triumph in der Königsklasse war ein Muss, für Schweinsteiger und den FC Bayern. Eine notwendige Konsequenz, um die jahrelange Titeljagd in der Champions League mit den zwei verlorenen Finals nicht zu einem andauernden Trauma ausarten zu lassen. Bayerns brutale Dominanz auf Klub-Ebene machte ihn 2013 ebenso erwartbar und folgerichtig.
Unverzichtbar trotz Verletzung
Auf den WM-Sieg traf das nicht zu. Zu unklar schien, ob Löw in der kurzen Zeit den Kader auf seine taktische Linie einschwören könne. Zu ernüchternd waren die Auftritte in den zurückliegenden Testspielen. Und zu mächtig schienen die spanischen Dominatoren des Weltfußballs und Gastgeber Brasilien, der eine unvergleichbare Euphorie im Rücken wusste. Dass beide auf je unterschiedliche Art und Weise - die einen früh, die anderen spektakulär - scheitern sollten, war kaum zu erwarten.
Auch die Voraussetzungen für Schweinsteiger hätten weitaus besser sein können. Wie schon 2012 ging er verletzt in ein Turnier, wurde im Auftaktspiel geschont. Doch schon gegen Ghana setzte er ein entscheidendes Zeichen: Mit seiner Einwechslung kam neuer Schwung ins Team. Schweinsteiger riss seine Kollegen mit. Fortan spielte er von Beginn an.
Gegen Algerien mühte man sich zum Sieg, gegen Frankreich reichte ein Standardtor und taktische Disziplin zum Halbfinaleinzug. Brasilien schaufelte sich mit unkoordiniertem Überfallfußball früh sein eigenes Grab. Der Finaltriumph wiederum war mitunter auch ein Sieg des Glücks, aber vor allem ein Sieg des Willens. Mit Schweinsteiger als Symbolträger.
Mehr als nur Genugtuung
Dabei hatte er mit dem CL-Sieg 2013 schon die zwingend notwendige Genugtuung erfahren. Doch offenbar wollte er mehr, als nur die Scharte von 2012 auswetzen. Es schien, als wollte er auf der größtmöglichen Bühne all die Kritiker Lügen strafen, die ihm Führungsqualität abgesprochen hatten. Die ihm nicht zugetraut hatten, in großen Spielen eine noch größere Rolle zu spielen. Oder es zumindest infrage gestellt hatten.
2012 hatte Stefan Effenberg das CL-Finale als ultimativen Führungsspielertest für Schweinsteiger bezeichnet. 2012 lieferte er die falsche Antwort, 2013 die richtige. Und 2014, um jeden übrigen Zweifel zu beseitigen: sein Meisterstück.