Auf Kante genäht

Führungspersönlichkeiten unter sich: Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger
© getty

Bundestrainer Joachim Löw hat vor der WM eine gewagte Rechnung aufgemacht und nicht fitte Spieler wie Sami Khedira, Bastian Schweinsteiger und Miroslav Klose mit zur WM genommen. Das Risiko scheint sich gelohnt zu haben.

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Wenn Deutschland Weltmeister wird, bekommen Günter Herrmann, Paul Steiner und Frank Mill bald Nachfolger. Denn so wie es aussieht, werden Kevin Großkreutz, Erik Durm und Matthias Ginter die einzigen Feldspieler sein, die bei dieser WM nicht eingesetzt wurden.

Die Ersatztorhüter müssen schon vor Turnierbeginn damit leben, dass sie wahrscheinlich die WM auf der Bank verbringen und ihr Einsatz nur im Training und im Teamquartier an der Tischtennisplatte oder am Billardtisch gefragt ist.

Aber Großkreutz und Durm waren nicht als klassische Reservisten nach Brasilien gereist, beide durften sich nach der Bekanntgabe des WM-Kaders auch berechtigte Hoffnungen machen, eine nicht ganz unerhebliche Rolle in diesem Turnier zu spielen.

Radikales Umdenken

Doch dann entschied sich Joachim Löw dafür, auf Außenverteidiger im klassischen Sinn bei dieser WM zu verzichten - zumindest bis zur Rückversetzung von Kapitän Philipp Lahm auf die Position des Rechtsverteidigers.

Es war ein radikales Umdenken, das Löw auch mit einer klaren Vorstellung verbunden hatte. Offensive Außenverteidiger seien aufgrund der extremen Bedingungen in Brasilien nicht erforderlich. Außer Deutschland hat keine Mannschaft so gedacht und auch Löw hat sich im Laufe des Turniers zumindest ansatzweise korrigiert.

Löw musste Zeit gewinnen

Die Abwehrkette mit vier Innenverteidigern mag eine unkonventionelle Idee von Löw gewesen sein, es war aber auch immer klar, dass er darüber auch nur nachdenken musste, weil es ihm seit Jahren an tauglichen Außenverteidigern fehlt. Die Umstellung war aus der Not heraus geboren.

Großkreutz und Durm haben bei Borussia Dortmund gute Spiele gemacht als Außenverteidiger, aber gelernt haben sie diese Position erst in den letzten Monaten unter Jürgen Klopp. Beide kommen von offensiveren Positionen und füllen die Verteidigerpositionen im Dortmunder Spiel auch entsprechend aus.

Beide passen ins System Klopp, aber passen sie auch in die Nationalmannschaft? Löw beantwortete die Frage mit Nein. Er verfolgte einen anderen Gedanken. Er wollte die Defensive stärken und Zeit gewinnen. Zeit, die er für die völlige Regeneration einiger angeschlagener Spieler brauchte.

Gewagtes Spiel

Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira und Miroslav Klose durften die Reise nach Brasilien antreten, während Mario Gomez wegen mangelnder Fitness zuhause bleiben musste.

Es war ein gewagtes Spiel, das Löw mit seiner Nominierungstaktik einging. Die größten Zweifel gab es bei Khedira, der nach seinem Kreuzbandriss Mitte November erst kurz zuvor sein Comeback gefeiert hatte.

"Er ist zurzeit natürlich nicht am Leistungslimit, aber wir sind überzeugt, ihn dahin zu bringen", sagte Löw. Der Bundestrainer wollte auf die Persönlichkeit Khedira und dessen Erfahrung nicht verzichten und sprach davon, ein "kalkuliertes Risiko" eingegangen zu sein.

Es wurde eine große Rechenaufgabe daraus, nachdem im Trainingslager in Südtirol auch noch Philipp Lahm und Manuel Neuer mit Verletzungen Sorgen bereiteten und Lars Bender sowie Marco Reus das WM-Aus ereilte. Löws Mantra vom "Survival of the fittest" wurde in Frage gestellt.

Nicht stolpern und dann zuschlagen

Bis zum Auftaktspiel blieben Löw noch knapp drei Wochen, um seinen Kader in Schuss zu bringen, bis zur K.o.-Runde und den möglichen Krachern im Viertel- und Halbfinale waren es aber fünf bis sechs Wochen. Genügend Zeit, um im körperlichen Bereich nochmal einen Schritt nach vorne zu machen.

Es ging also darum, in der durchaus anspruchsvollen Gruppe nicht ins Stolpern zu geraten, um die erfahrenen Schlüsselspieler Schweinsteiger, Khedira und Klose in den entscheidenden Spielen bringen zu können.

Der erste Schlüssel dazu war eine etwas zurückhaltendere Spielausrichtung, mehr Konzentration auf die Defensive und die damit verbundenen personellen Umstellungen. Khedira und Schweinsteiger teilten sich die Spielzeit auf und sammelten so Spielpraxis und Wettkampfhärte.

Härtetest gegen Argentinien

Das ganze Projekt stand gegen Algerien auf der Kippe, als Schweinsteiger mit seinen Kräften frühzeitig am Ende war und Khedira nach seiner Einwechslung ebenfalls kraftlos wirkte. Es war zu spüren, dass der Plan auf Kante genäht war.

Das Halbfinale gegen Brasilien bestätigte das Vorgehen aber in jeglicher Hinsicht. Schweinsteiger ordnete das Spiel aus seiner tiefen Position vor der Abwehr und sorgte für defensive Stabilität im Zentrum, während Klose und Khedira die Brasilianer frühzeitig anliefen und hohes Pressing spielten.

Dieser außergewöhnliche Sieg lässt den Schluss zu, dass Löw mit seinem Personalpuzzle viele Dinge richtig gemacht zu haben scheint. Allerdings war die Partie auch nach 30 Minuten entschieden, die Spieler mussten in der Schlussphase nicht an ihre Grenzen gehen. Das dürfte gegen Argentinien anders werden.

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