Viel zu feilen

Andreas Lehner
12. Oktober 201514:36
Knifflige Aufgabe: Joachim Löw muss bis zur EM 2016 Lösungen findengetty
Werbung

Die deutsche Nationalmannschaft hat sich zum 12. Mal für eine Europameisterschaftsendrunde qualifiziert. Der Weg durch die Qualifikation war etwas holpriger als in den Jahren zuvor. Was bleibt von diesen 13 Monaten? Eine Mannschaftskritik.

Torhüter

Das gute, alte Luxusproblem. Im Tor hat Bundestrainer Joachim Löw noch immer jede Menge Auswahlmöglichkeiten. Wobei sich diese auf die Positionen zwei und drei beschränken, denn an Manuel Neuers Status als Nummer eins ist nicht zu rütteln.

Neun Gegentreffer hat Neuer in der Qualifikation hinnehmen müssen und dabei bei dem einen oder anderen (wie in Schottland) vielleicht nicht ganz glücklich ausgesehen, aber im Allgemeinen seine außergewöhnliche Klasse bewiesen. Gerade im internationalen Vergleich ist es immer wieder beeindruckend, wie Neuer das Torwartspiel interpretiert und wie weit er damit seinen Konkurrenten voraus ist.

Der stellvertretende Kapitän hat neun der zehn Partien absolviert und bekam nur in Gibraltar eine Pause verordnet. Dort durfte Roman Weidenfeller das Tor hüten und musste das mit mehr Aktionen und Paraden tun, als er erwartet haben dürfte. Vermutlich war dieses Spiel aber auch das letzte des Dortmunders im DFB-Dress.

Du willst mit Coca-Cola und SPOX zum Länderspiel nach Paris? Bewirb dich jetzt!

Löw und Bundestorwarttrainer Andreas Köpke wollten "den einen oder anderen jungen Torhüter dazu holen und uns ein Bild von ihnen verschaffen. Wir haben noch nicht entschieden, wen wir außer Manuel Neuer zur EM mitnehmen."

Zuletzt durfte sich erstmals Bernd Leno zeigen und neben Neuer auch mit seinem alten Weggefährten aus den Jugendnationalmannschaften Marc-Andre ter Stegen trainieren. Beide gelten als heißeste Kandidaten für die Plätze in Frankreich.

Ron-Robert Zieler war zwar für acht Länderspiele nominiert, blieb aber ohne Einsatz. Bei starken Konkurrenten in der Bundesliga wie Ralf Fährmann, Timo Horn, Loris Karius oder Oliver Baumann ist sein Platz gefährdeter denn je.

Torhüter: Das gute, alte Luxusproblem

Abwehr: Deutschland hat wieder einen Kaiser

Mittelfeld: Verschüttete Qualität

Angriff: Kommt Gomez oder nicht?

Trainer: Viel zu feilen

Abwehr

Deutschland hat wieder einen Kaiser. Zwar verteilte Thomas Müller diesen Titel nach dem Bundesligaspiel gegen Borussia Dortmund an Jerome Boateng, aber der Innenverteidiger hat auch in der Nationalmannschaft seine gewachsene Persönlichkeit und Klasse unterstrichen. Er gehört mittlerweile zu den besten Innenverteidigern der Welt. Als einziger Spieler hat er alle Spiele über die volle Distanz absolviert.

Als bevorzugten Partner in der Innenverteidigung hat Löw Hummels ausgemacht. Der Dortmunder zeigte sich insgesamt stabil, aber doch fehleranfälliger als Boateng. Nur im ersten Spiel gegen Schottland lief Benedikt Höwedes neben Boateng auf. Der Schalker, der verletzungsbedingt lange ausfiel, könnte zukünftig auch wieder eine Option auf den Außenverteidigerpositionen sein.

Gute Links- oder Rechtsverteidiger wachsen nach wie vor nicht auf den Bäumen und nach Philipp Lahms Rücktritt ist kein Spieler der Kategorie Weltklasse vorhanden. Auf links scheint Jonas Hector momentan gesetzt, er übernahm die Rolle am 4. Spieltag, als er für Erik Durm eingewechselt wurde, und hat laut Löw eine gute Entwicklung genommen, seit er bei der Nationalmannschaft sei.

Auf rechts scheint Löw nach dem Trial-and-Error-Prinzip vorzugehen. Nacheinander durften sich Sebastian Rudy, Antonio Rüdiger, Emre Can und Matthias Ginter versuchen. Ein Rechtsverteidiger war noch nicht dabei. Aber da Lahm eine Rückkehr sicherheitshalber ausgeschlossen hat, wird Löw eine Lösung finden müssen.

Eine Möglichkeit wäre auch eine Formation ohne klassische Außenverteidiger und einer Dreierkette. Diese Variante wählte der Bundestrainer aber nur in den Duellen mit Gibraltar. Das Hinspiel in Nürnberg war übrigens der einzige Einsatz von Shkodran Mustafi.

Torhüter: Das gute, alte Luxusproblem

Abwehr: Deutschland hat wieder einen Kaiser

Mittelfeld: Verschüttete Qualität

Angriff: Kommt Gomez oder nicht?

Trainer: Viel zu feilen

Mittelfeld

Das 4-2-3-1 und die Doppelsechs sind anders als bei der WM (4-3-3) wieder Löws bevorzugte Grundformation. Die Konstante der Qualifikation auf der Position vor der Abwehr war Toni Kroos. Allerdings musste der Real-Madrid-Profi häufig den defensiveren Part der beiden Mittelfeldspieler einnehmen, weil Bastian Schweinsteiger nur vier Spiele absolvierte. Sami Khedira kam sogar nur auf zwei Einsätze, beide gegen Gibraltar und beide Male spielte er nicht auf der Sechs, sondern auf einer offensiveren Halbposition.

Weitere Partner von Kroos, der nur in Gibraltar eine Pause bekam, waren Christoph Kramer, Matthias Ginter und Ilkay Gündogan. Allerdings offenbarte das Pärchen Kroos/Gündogan erhebliche Schwächen in der defensiven Absicherung, so dass der Dortmunder Gündogan wohl bei einem fitten Schweinsteiger aus dem Team fällt oder eine Position weiter vorne nach einem Platz suchen müsste.

Hier machte er nach seiner Einwechslung im Heimspiel gegen Polen und in Schottland seine besten Spiele. Allerdings müsste Mesut Özil dann auf den ungeliebten Flügel weichen, wo er auch in der Qualifikation das eine oder andere uninspirierte Spiel ablieferte.

Das gilt auch für viele andere Vertreter der so hochgeschätzten, feinfüßigen Offensivabteilung des DFB. Andre Schürrle steckt seit mehreren Monaten in einem tiefen Leistungsloch, Marco Reus ist eigentlich ständig damit beschäftigt, sich nach einer Verletzung wieder in Form zu bringen, Julian Draxler war ebenfalls lange verletzt und muss in Wolfsburg jetzt den nächsten Schritt seiner Entwicklung machen.

Karim Bellarabi muss sich erst noch dauerhaft auf internationalem Niveau etablieren und bei Lukas Podolski konnte man den Eindruck gewinnen, er sei nur noch dabei, weil er Lukas Podolski ist. Kurz reinschnuppern durfte auch Patrick Herrmann, zum Auftakt gegen Schottland stand sogar Sidney Sam noch im Kader.

Wären da nicht Thomas Müller (neun Tore in neun Einsätzen) und der in den entscheidenden Spielen gegen Polen und Schottland starke Mario Götze, Löw hätte noch viel mehr Grund mit der fehlenden Konsequenz seiner Offensivspieler im Abschluss zu hadern. Denn die Chancenverwertung hat der Bundestrainer als größtes Problem dieser Qualifikation ausgemacht. "Was wir an Chancen ausgelassen haben, war schon ein bisschen an der Grenze zur Arroganz", sagte Löw beispielsweise nach dem Sieg in Faro gegen Gibraltar.

Es gibt also auch in diesem Mannschaftsteil, in dem die Qualität grundsätzlich enorm ist, genügend Ansatzpunkte für Verbesserungen. Doch aktuell sind wohl zentrale Spieler wie Müller oder Schweinsteiger aufgrund ihrer herausragenden Fähigkeiten nicht zu ersetzen.

Torhüter: Das gute, alte Luxusproblem

Abwehr: Deutschland hat wieder einen Kaiser

Mittelfeld: Verschüttete Qualität

Angriff: Kommt Gomez oder nicht?

Trainer: Viel zu feilen

Angriff

Echte Stürmer, falsche Neuner... Zwei Spiele haben gereicht, um die in Deutschland mittlerweile liebgewonnen Debatte über die Besetzung der zentralen Angriffsposition wieder zu entfachen. Seit dem Rücktritt von Miroslav Klose rätseln sowohl die Nation als auch der Bundestrainer, ob das denn auf Dauer gut geht, ohne einen ausgebildeten Strafraum- und Abschlussstürmer.

Löw sagt scho au eher ja, die Nation nein. "Die Diskussion haben wir jetzt schon einige Jahre", meint Löw und stellt sich die Frage: "Wie passen ganz bestimmte Spielertypen in unsere Mannschaft, wie ist ihr Kombinationsspiel, wie sind ihre Bewegungen, ihre Laufwege?"

Der Bundestrainer hat sich in diesem Atemzug auch von der Brechstange distanziert, aber die Tür für Mario Gomez offen gehalten. Der 30-Jährige nimmt in Istanbul bei Besiktas gerade einen neuen Anlauf und hat dort zuletzt drei Doppelpacks erzielt. Ebenfalls im Dunstkreis der Nationalmannschaft schwebt der Name von Stuttgarts Daniel Ginczek, der aber bis Jahresende ausfällt und somit erstmal nicht vorspielen kann.

Götze, Müller, Schürrle. Aus diesem Trio suchte sich Löw Spiel für Spiel seinen Stürmer aus, nur zuhause gegen Gibraltar durfte Max Kruse von Beginn an ran. Der Gladbacher war am Ende mit drei Toren und drei Assists sogar zweitbester Scorer des DFB-Teams in der Qualifikation. Nebenbei kam auch Kevin Volland auf zwei Kurzeinsätze.

Torhüter: Das gute, alte Luxusproblem

Abwehr: Deutschland hat wieder einen Kaiser

Mittelfeld: Verschüttete Qualität

Angriff: Kommt Gomez oder nicht?

Trainer: Viel zu feilen

Trainer

"Grundsätzlich sind wir zufrieden, dass wir die Qualifikation geschafft haben." Der Satz kam Joachim Löw recht schwer über die Lippen. Die Leistungen gegen Irland und Georgien haben doch mehr Fragen als Antworten geliefert und den grundsätzlich durchwachsenen Eindruck dieser Qualifikation unterstrichen. Die Auftritte hatten auch beim Bundestrainer Wirkung gezeigt.

Er wirkte angespannt, nicht mehr so gelassen, wie noch in Faro, als er sich gegen Gibraltar die Nägel feilte. Eine Aktion, die international nicht gerade gut ankam und Löw den nicht unbegründeten Vorwurf des mangelnden Respekts gegenüber dem Gegner einbrachte.

Noch im Vorfeld der Partie am Sonntag warnte der Bundestrainer vor allzu großer Schwarzmalerei. Ergebnisse oder die eine oder andere Niederlage spielen zwischen den Turnieren keine Rolle, erklärte Löw. "Wichtig sind für mich die Entwicklung der Mannschaft und einzelner Spieler."

Aber auch hier hat sich in den 15 Monaten seit dem WM-Titel kaum etwas getan. Löw hat zwar erklärt, es sei "unheimlich wichtig, Veränderungen vorzunehmen", nur hat er sich ob des engen Ausgangs in der Qualifikation kaum an die Umsetzung gewagt. Er ist sogar wieder einen Schritt zurückgegangen und hat die erfolgreiche 4-3-3-Ordnung wieder größtenteils in ein 4-2-3-1 verändert. Die Dreierkette kam nur in den wenig aussagekräftigen Spielen gegen Gibraltar zum Einsatz.

Das übergeordnete Ziel mehr Flexibilität, hat Löw bisher nur mit einer veränderten Anordnung seiner Offensivspieler in Angriff genommen. Dabei hat er die Außenstürmer in den vier Spielen gegen Polen, Schottland, Irland und Georgien mehr oder weniger abgeschafft.

Breite brachten die aufrückenden Außenverteidiger ins Spiel, während sich die eigentlich offensiven Außen in die Mitte bewegten. Das klappte gegen Polen zum Teil ordentlich, danach aber nicht mehr. Es führte eher zu einer Überfrachtung des Zentrums und offenen Räumen auf den Flügeln in der Rückwärtsbewegung.

Dass Löw die fehlenden Qualitäten von Hector und Ginter im Dribbling und im Eins-gegen-eins herausstellte, dafür über Douglas und Arjen Robben referierte, überrascht bei dieser vorgegebenen Ausrichtung doppelt. Denn mit Reus, Schürrle und Bellarabi standen Löw auch gegen Georgien schnelle, dribbelstarke Spieler zur Verfügung, die über Außen hätten durchbrechen können. Und ein Spiel über außen ist nicht zwingend gleichzusetzen mit den bei Löw verpönten hohen Flanken.

Auch die Stärke bei Standards, eine Grundlage des WM-Erfolgs, könnte die Nationalmannschaft nicht über das Turnier hinaus in die Qualifikation retten. Nur zwei Tore (davon ein Elfmeter) gelangen in zehn Spielen. Bei der WM waren es sechs Tore in sieben Spielen.

Auf die Nationalmannschaft warten jetzt Testspiele gegen Frankreich, die Niederlande, England und Italien sowie das Trainingslager im Tessin. Löw: "Die letzten Spiele entsprechen nicht unserem Standard. Es liegt viel Arbeit vor uns."

Torhüter: Das gute, alte Luxusproblem

Abwehr: Deutschland hat wieder einen Kaiser

Mittelfeld: Verschüttete Qualität

Angriff: Kommt Gomez oder nicht?

Trainer: Viel zu feilen