Nicht einmal zwei Jahre ist es her, als sich Niklas Süle das Kreuzband riss. Niedergeschlagen lag der damals 18-Jährige im Krankenhaus - bis Aufmunterung in Form einer SMS kam. Der Absender: Jerome Boateng. "Da bin ich kurz ausgerastet, das war schon ein Riesending für mich", erzählte Süle später über die unerwartete Nachricht des Nationalspielers.
Bereits 2013 bekam es Süle erstmals in seiner Karriere auf dem Platz mit Boateng zu tun. "Ein besonderer Moment" sei das gewesen, Boatengs Trikot sicherte sich der Hoffenheimer natürlich auch. Denn Boateng ist sein großes Vorbild, "derjenige, zu dem ich aufschaue". Aufschauen braucht Süle mittlerweile nicht mehr zu Boateng, mit 1,95 Metern ist er drei Zentimeter größer. Ein Vorbild ist er aber immer noch, wie sein Vater Georg Süle im Gespräch mit SPOX erzählt: "An Boateng muss er sich orientieren".
Orientieren kann er sich an Boateng künftig wohl nicht mehr nur als Gegenspieler, sondern auch als Teamkollege. Dann nämlich, wenn sich die deutsche Nationalmannschaft bei Länderspielterminen trifft.
Schnupperbesuch bei Jogi
Für das Freundschaftsspiel gegen Finnland und die WM-Qualifikationspartie in Norwegen wurde Süle erstmals in den DFB-Kader nominiert. "Wir wollen ihn gerne näher kennenlernen", sagte Bundestrainer Joachim Löw. Boateng wird Süle diesmal aber noch nicht näher kennenlernen, er laboriert noch an den Folgen seines Muskelbündelrisses.
Für Süle ist das natürlich ein umso größerer Antrieb, sich nachhaltig zu empfehlen. Die Chance dazu wird der Innenverteidiger bekommen. Dass sich Süle auf dem Platz zeigen darf, versprach Löw bereits. "Jetzt muss es das nächste Ziel sein, sich im DFB-Team zu etablieren und wieder nominiert zu werden", sagt Georg Süle. Zweifel, ob der Druck zu groß wird? Fehlanzeige! Süle hat schon bewiesen, dass er in wichtigen Spielen liefern kann.
18.5.2013. In der 85. Minute wird der damals 17-jährige Süle im Signal Iduna Park eingewechselt, seine Hoffenheimer führen 2:1. Kassiert die TSG noch einen Treffer, steigt sie ab. "Er wurde übel beschimpft", erinnert sich sein Vater, "dann hat er ein Kopfballduell gegen Lewandowski gewonnen und dem Reus einmal den Ball abgenommen und die Nervosität war weg." Hoffenheim siegte und hielt in den folgenden Relegationsspielen gegen Kaiserslautern die Klasse.
Ein Süle zittert nicht
Drei Jahre sind seit dieser Last-Minute-Rettung vergangen. Süle absolvierte in der Zwischenzeit 76 Bundesligaspiele, wurde zum absoluten Stammspieler in Hoffenheim. Die Zahlen bestätigen ihn. In der vergangenen Saison gewann Süle durchschnittlich 64,5 Prozent seiner Zweikämpfe. Ein Topwert. Gleichzeitig stieg er zu einer der wenigen Identifikationsfiguren im fluktuationsfreudigen Kader der TSG auf. Mit Sebastian Rudy und Eugen Polanski kicken lediglich zwei Spieler länger für die Hoffenheimer Profis als Süle.
Süle ist angekommen im Führungszirkel der TSG. In der vergangenen Saison sagte er Sätze wie: "Je älter ich werde desto mehr nehmen die anderen Spieler von mir an." Oder: "Jetzt möchte ich jemand sein, der die jungen Spieler heranführt." Führungsspielersätze. Zur Erinnerung: Niklas Süle ist 20. Man darf sich verdammt alt fühlen.
"Alt" ist im Fußball ein Prädikat, das gerne und leicht raunend mit den Begriffen "erfahren" und "abgebrüht" verstärkt wird. Alt ist Süle nur gefühlt, erfahren und abgebrüht aber tatsächlich. "Er zittert eigentlich nie", sagt sein Vater. Im Bundesligafußball schon gar nicht. Kurz nach seinem 18. Geburtstag erkämpfte er sich einen Stammplatz, Spiele in der Allianz oder Veltins Arena wurden für ihn schnell zur allwöchentlichen Routine.
Über 100 Tore in einer Saison
Diese liebgewonnene Routine des Talents würde aber bald jäh enden. Im Dezember 2014 riss sich Süle also das Kreuzband und fiel für die restliche Saison aus. An solchen Schicksalsschlägen können junge Kicker zerbrechen. Nicht so Süle. Dabei profitierte er nicht nur von Boatengs Aufmunterungs-SMS, sondern auch von Erfahrungen seiner Familienmitglieder: "Ich hatte keine Bedenken, weil mein Vater und mein Bruder schon jeweils einen Kreuzbandriss hatten und beide wieder auf den Fußballplatz zurückgekehrt sind."
Ratschläge und Erfahrungswerte seines Vaters halfen Süle auch schon früher in seiner Karriere. In der Jugend von Rot-Weiss Walldorf war der Papa einst auch sein Trainer. Innerhalb von drei Jahren ging nur ein Spiel verloren, Süle - der jüngste im Team - schoss über 100 Tore in einer Saison. "Damals spielte er noch Stürmer oder Zehner", erinnert sich sein Vater.
Bald aber wurde Rot-Weiss Walldorf zu klein für Süle. Mit zehn wechselte er in die Jugendabteilung der Frankfurter Eintracht, zog bald weiter zu Darmstadt 98, um sich dann 2010 Hoffenheim anzuschließen.
Aus dem hoffnungsvollen Stürmer wurde bald ein noch hoffnungsvollerer Innenverteidiger. In der U15 von Hoffenheim hatten sich sämtliche Innenverteidiger verletzt. Süle half in der Not aus, erinnert sich sein Vater, "und hat das so gut gemacht, dass er nicht mehr von dieser Position weggekommen ist".
Frühe Karrierepläne
Geblieben ist ihm trotz seiner defensiveren Position natürlich die hervorragende Technik, über die er immer schon verfügte. Erstmals in Erscheinung trat sie im heimischen Garten, direkt neben dem Sandkasten. Dort hat Georg Süle mit Niklas' älterem Bruder einst das Stoppen geübt. Ball hoch zuschmeißen, annehmen.
"Niki war damals drei Jahre alt", erzählt sein Vater, "er kam aus dem Sandkasten raus und sagte, er will das auch probieren." Da wurde erst einmal geschmunzelt, erinnert sich Süle Senior, aber zum allseitigen Erstaunen konnte es der Junior einfach. "Das brauche ich nicht üben, das kann ich schon", sagte der kleine Niklas und ging zurück in den Sandkasten.
Wozu dieses große Talent führen kann, stellte dann der sechsjährige Niklas fest. Bei sengender Hitze konnte er mal wieder nicht genug bekommen vom Kicken. Ob er sich nicht abkühlen wolle, wurde er gefragt. "Nein, ich will weiter Fußball spielen, weil ich will es in die Bundesliga schaffen", lautete die entschlossene Antwort.
Zuschauer und Neymar im Griff
Gesagt, getan. Nicht einmal zehn Jahre sollten vergehen, ehe die Tür zum Bundesligafußball dann tatsächlich aufging. Unter Holger Stanislawski durfte der damals 15-jährige Innenverteidiger mit der ersten Mannschaft trainieren. "Dort haben sie sein Talent erkannt und ihm beigebracht, sich zu quälen", sagt Georg Süle. Und das Quälen sollte sich lohnen. Bald kam Süle in der deutschen U16-Nationalmannschaft zum Einsatz. Jahr für Jahr sprang er eine Stufe höher. Insgesamt absolvierte Süle bereits 41 Spiele für diverse Junioren-Nationalteams.
Dann ging es nach Rio. Mit der deutschen Olympia-Mannschaft kämpfte sich Süle bis ins Olympia-Finale vor. Der Gegner: Brasilien. Die Fans: parteiisch. "Vor 70.000 Brasilianern, die einen ständig auspfeifen, so clever und routiniert aufzutreten ist schon beeindruckend", sagt Süle Senior, "je mehr die Fans gegen ihn sind, desto besser wird er." Die Zuschauer konnten Süle also nicht aus der Ruhe bringen - und Gegenspieler Neymar schon gar nicht. "Ich kann mich nicht erinnern, dass er ihm einmal davongelaufen ist", sagt sein Vater stolz.
Die Niederlage gegen Brasilien konnte auch Süle nicht abwenden, obwohl er im Elfmeterschießen seinen Strafstoß verwandelte. Ausgelassen gefeiert wurde daheim in Walldorf trotzdem. Stolz trugen Freunde und Bekannte Shirts mit dem Aufdruck "Niklas-Supporters". Um zwei Uhr nachts gab es dann auch ein großes Feuerwerk über Walldorf zu bestaunen.
Dort, wo Süle einst auszog, weil ihm der lokale Verein zu klein wurde. Irgendwann wird ihm auch Hoffenheim zu klein sein. "Es haben sich schon mehrere große Vereine bei uns gemeldet", sagt sein Vater, "aber da soll er erst hingehen, wenn er ein großer Spieler ist." Körperlich ist er das bekanntlich schon längst - und fußballerisch auf dem besten Weg.
Niklas Süle im Steckbrief