Der Sportjournalismus im Allgemeinen neigt ja gerne dazu, zu viel in scheinbar banale Szenen hineinzuinterpretieren. Da wird aus einem ausgelassenen Handschlag gleich mal ein Zwist und jedes schlichte Zitat wird von sämtlichen Richtungen beleuchtet. Beim Spiel zwischen Deutschland und Finnland gab es eine dieser von Bedeutung triefenden Momente. Die 67. Minute war angebrochen, der vierte Offizielle bereitete gerade seine elektronische Anzeige für die anstehende Auswechslung vor.
Wenige Momente später hielt der Mann in Schwarz seine Tafel hoch und eine rote Sieben flackerte auf. Für Bastian Schweinsteiger war das das Zeichen, Feierabend zu machen. Feierabend vom Spiel. Und Feierabend von der Nationalmannschaft. Der Kapitän lief zur Seitenlinie und klatschte mit dem bereitstehenden Julian Weigl ab.
Analyse: DFB siegt bei Schweinsteiger-Abschied
Dieser kommt wie Schweinsteiger aus der Nähe von Rosenheim, die beiden Geburtsorte der Spieler liegen gar nur wenige Kilometer entfernt. Recht viel mehr verbindet die Spieler jedoch nicht. Weigl steht mit 20 Jahren und lediglich zwei DFB-Einsätzen in den Startlöchern seiner Karriere, Schweinsteiger ist in diesen Sekunden dabei, diese in der Nationalmannschaft nach 121 Länderspielen zu beenden.
Entwicklung als Sinnbild
Schweinsteigers Karriere steht sinnbildlich für die Entwicklung des DFB in den letzten Jahren. Im Juni 2004 machte der damals unbekümmerte Teenager sein erstes Spiel für das brachliegende deutsche Team. Bei der EM in selbigem Jahr scheiterte der DFB ohne Sieg in der Vorrunde gegen Tschechien, die Niederlande und Lettland. Fußball-Deutschland lag am Boden.
Jürgen Klinsmann und Joachim Löw nahmen sich der Sache an, der Rest ist Geschichte und endete im Maracana mit dem gold schimmernden WM-Pokal und der berühmten blutenden Narbe unter dem Auge. Jetzt endete der Weg des damaligen Final-Heldes. Es hört sich nach großen pathetischen Sprüchen an, doch mit dem Capitano geht auch ein Stück der jüngsten DFB-Geschichte. Die Entwicklung von Schweinsteiger, der den Mythos La Mannschaft mit prägte und mit ihr wuchs, ist zu Ende. Wie ein emsiger Insolvenzverwalter half er mit, den DFB aufzumöbeln und erfolgreich zu machen. Jetzt hinterlässt er einen Weltmeister.
Deutschland "weltweit führend"
Von einem großen Schnitt oder einem Umbruch im deutschen Team kann dennoch nicht die Rede sein. Mit Manuel Neuer, Jerome Boateng, Mesut Özil und Co. sind die zentralen Stützen der letzten Jahre noch immer dabei. Für Joachim Löw gilt es vielmehr, an den Leistungen der letzten Jahre zu feilen. "Unser Weg ist sehr gut. Wir sind in der Art, wie wir Fußball spielen, weltweit führend", erklärt der Bundestrainer Joachim Löw bei jeder Gelegenheit gebetsmühlenartig.
Alle Spiele des DFB in der Übersicht
Der Bundestrainer hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit seiner Mannschaft eine Ära zu prägen. Wie dies gelingen soll, ist klar. Nach 2014 soll der WM-Pott auch über 2018 hinaus in der Bundesrepublik bleiben. Das Kunststück, den Titel zu verteidigen, gelang mit Italien (1934 und 1938) und Brasilien (1958 und 1962) überhaupt erst zwei Ländern.
Dass es im Sommer dabei nicht zu einem EM-Titel gereicht hat, haben die Verantwortlichen inzwischen verkraftet. Auch wenn Löw zugab, dass er speziell in den Tagen danach "schon massiv enttäuscht" gewesen sei. Der Stachel saß jedoch hauptsächlich so tief, weil der gebürtige Badener sah, dass "wir eigentlich die beste Mannschaft des Turniers" waren.
53 Tage nach der EM
Löw nahm sich im Nachklapp des großen Turniers gewohnt viel Zeit und mied die Öffentlichkeit nahezu komplett. Er brauche da immer ein bisschen Zeit für sich, um die Akkus aufzuladen, betont der Bundestrainer. Erst vor dem Finnland-Spiel betrat er wieder die große Bühne und sprach über die Wochen nach der EM. Gerade einmal 53 Tage sind seit dem Halbfinal-Aus in Frankreich an diesem Montag vor dem ersten Testspiel vergangen.
Nicht ausreichend Zeit, um alle Probleme zu identifizieren und Lösungsansätze zu präsentieren. Einzelne EM-Spiele habe er bereits analysiert, doch er werde mit seinen Assistenten erst "alles zusammentragen, eine eingehende Analyse machen und in die Tiefe gehen".
Die zentralen und großen Baustellen im DFB-Spiel hatte der 56-Jährige dennoch bereits in der Tasche. "Diese EM hat keine Revolution gebracht, von daher glaube ich, dass wir jetzt zwei zentrale Themen in der Mannschaft haben: Schnelleres Umschalten und die Chancenverwertung", resümierte Löw.
Neue Probleme, alte Probleme
Beides Themen, die nicht wirklich neu sind und nach dem EM-Aus auf der Hand lagen. Dass Deutschland sich gegen defensiv orientierte Mannschaften schwer tut, wird inzwischen fast schon zum Running Gag. Das zeigte sich auch zuletzt bei der EM. "Bei uns ging der erste Kontakt zu oft nach hinten", analysierte der 56-Jährige den Spielstil seines Teams: "Wir sind eine Mannschaft mit sehr viel Ballbesitz. Da sind wir auch abhängig, was der Gegner macht - oder eben nicht macht." Das von ihm häufig zitierte vertikale Spiel soll deshalb noch stärker trainiert und im Spiel forciert werden.
Auch die Kaltschnäuzigkeit vor dem Tor ist kein fürchterlich neues Thema und zog sich bereits zuletzt durch die komplette EM-Quali. "Wir hatten eine schlechte Chancenauswertung", erklärte der Bundestrainer. Die EM frischten die Probleme mal wieder auf. Lediglich sieben Tore erzielte das DFB-Team in den sechs Turnierspielen. Obwohl gute Chancen hier und da sehenswert herausgespielt wurden, ließ die Mannschaft diese häufig liegen. Man sei "nicht mehr so tödlich" wie man schon mal war.
Die nicht endende Debatte um die echte und die falsche Neun wird die Nation weiter auf Trab halten. Mario Gomez wird mit seinen 31 Jahren nicht jünger, dahinter stehen unter anderem mit Davie Selke interessante Stürmer in der Warteschlange, die früher oder später ans Team herangeführt werden könnten.
Junge Spieler im Mittelpunkt
Ein Thema, das sich Löw neben den taktischen Aspekten fest auf die Fahne für 2016/17 geschrieben hat. "Vermehrt" wolle er junge Spieler mit Perspektive heranführen und in der A-Nationalmannschaft testen. Immer wieder betonte er, dass ihm die Spielweise der U21 bei Olympia gefallen habe und er die Spieler genau beobachte. Im Test gegen Finnland machte er direkt den Anfang und schmiss mit Niklas Süle Debütant Nummer 83 ins kalte Wasser.
Für das erste Spiel in Norwegen wirken der DFB-Stab und die Mannschaft noch etwas unsortiert. Der frühe Termin direkt nach dem Bundesliga-Start scheint den Verantwortlichen ein Dorn im Auge zu sein. Die Aufarbeitung der EM ist noch in vollem Gange und die Spieler im Kopf eher noch bei den Vereinen. "Wir spielen ein bisschen aus der kalten Hose, weil die meisten erst einen Wettkampf hatten. In einigen Situationen merkt man, dass sie noch nicht den Rhythmus haben. Das ist nicht ganz so einfach", gibt Löw zu.
Dennoch, klar, unterstrich der Bundestrainer die Bedeutung des Spiels und hob den Zeigefinger. Schließlich habe man auch 2014 die ersten Spiele nach dem Titel in den Sand gesetzt. Damals folgte auf die wilde Party im Maracana ein Kater. In den vier Spielen nach dem Titel gab es in zwei Monaten lediglich einen Sieg. Die Fans werden sich erinnern, einer fehlte auch in diesen Partien aufgrund einer Patellasehnenverletzung: Bastian Schweinsteiger.
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