Richtig glauben konnte es Serge Gnabry selbst nicht. Erst wenige Wochen hatte er sich mit seinen Leistungen ins Rampenlicht gespielt. Und nun ein Anruf des Bundestrainers? Das muss doch ein Scherz sein. "Ich musste kurz überlegen, ob das jetzt echt ist oder nicht. Es gibt ja diese Jux-Anrufe vom Radio. Davon wollte ich kein Opfer werden", erklärte der 21-Jährige dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.
Doch der Mann am anderen Ende der Leitung hatte weder Flausen im Kopf noch wollte er den Youngster an der Nase herumführen. Zudem hatte er diesen markanten badischen Akzent, den sowieso kein lustiger Radiomoderator in Deutschland imitieren kann. Auch Gnabry wurde schließlich klar, dass es sich tatsächlich um Joachim Löw handeln muss. Und statt eines diabolischen Streichs wollte dieser für den bisherigen Höhepunkt der noch jungen Karriere des 21-Jährigen sorgen.
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Es war die Belohnung für eine ganze Reihe richtiger Entscheidungen in den letzten Wochen und Monaten. Denn was derzeit nach dem reibungslosen Aufstieg eines unbekümmerten Shootingstars aussieht, war in Wirklichkeit an unzählige Rückschläge und Verletzungen gekoppelt. Gnabry hätte eigentlich den einfachen Weg nehmen können. Mit jungen Jahren wechselte er zur U12 des VfB Stuttgart und durchlief dort bis zur U17 sämtliche Jugendmannschaften.
Gnabry neben Kimmich und Werner
An der Seite von Joshua Kimmich, Timo Werner und Rani Khedira machte er in der Saison 2010/11 in der B-Jugend-Bundesliga mit starken Leistungen auf sich aufmerksam. Plötzlich stand der FC Arsenal bei den Schwaben auf der Matte und wollte den gerade einmal 16-Jährigen in die bekannte Academy holen. Statt sich mit seinem Talent im gewohnten Umfeld in die Bundesliga treiben zu lassen, drückte er auf das Karriere-Gaspedal und nahm das Angebot wahr.
Bei den Gunners war er zunächst nur für die U18 eingeplant. Doch dank starker Leistungen winkte im Sommer 2012 bereits die Beförderung ins Reserveteam. Natürlich sollte auch das nur ein weiterer Schritt sein. Mit 17 unterzeichnete er seinen ersten Profivertrag, wenig später feierte er sein Debüt in der ersten Mannschaft und ging nach Jack Wilshere und Cesc Fabregas als drittjüngster Ligatorschütze für die Gunners in die Geschichtsbücher ein. Die englische Presse sah im Deutschen bereits "the Next German Wunderkind". Eine Entwicklung für die Drehbücher Hollywoods.
Doch der vorläufige Höhepunkt war damit erreicht. Zahlreiche kleine Muskelverletzungen und eine Knieverletzungen verhagelten den Weg nach oben. Auch die Berufseinstellung des Youngsters soll zu dieser Zeit alles andere als tadellos gewesen sein. Die Quittung bekam er direkt im Anschluss. Gnabry wurde 2015 zu West Bromwich Albion ausgeliehen, machte dort allerdings kaum Spiele. Nach seiner Rückkehr zu den Gunners steckte er im Nachwuchsteam fest.
Keine Reue
Die Kritiker in der Heimat sahen sich endlich bestätigt. Der Schritt nach England sei halt doch zu früh gekommen, war die einhellige Meinung. Bei Gnabry war von Reue dennoch nichts zu spüren. "Ich wäre ohne England heute nicht der Spieler, der ich bin. Da ist zum Beispiel Arsenals schneller Spielstil, den ich lernen durfte. Und wenn du drei Jahre als junger Spieler mit solchen Topspielern wie denen von Arsenal trainieren kannst, ist es klar, dass du was mitnimmst, dass du dich verbesserst", betonte der 21-Jährige immer wieder.
Im letzten Sommer traf Gnabry erneut eine folgenschwere Entscheidung. Horst Hrubsch lud ihn zum Olympiaturnier nach Rio ein. Lange grübelte er, ob es denn sinnvoll sei, die intensive Saisonvorbereitung bei Arsenal für einen sportlich eher untergeordneten Wettkampf sausen zu lassen. Gnabrys Entschluss ist Geschichte. Er wurde bei Olympia zur Entdeckung des Turniers und katapultierte das teilweise unorganisierte deutsche Team mit insgesamt sechs Treffern und unzähligen Einzelaktionen zu Silber. Dabei saß der Youngster im ersten Spiel zunächst noch auf der Bank und kam erst nach der Verletzung von Leon Goretzka zum Einsatz.
Unzählige Bundesligisten wurden aufmerksam und machten Gnabry schöne Augen. Die Angebote aus der Heimat kamen wohl zur richtigen Zeit. In England steckte der Deutsche weiterhin hinter den etablierten Spielern fest, eine Besserung war nicht in Sicht. Etwas überraschend erhielt Werder Bremen den Zuschlag für den Wirbelwind. Dort sollte er endlich für sorgenfreie Jahre ohne Abstiegskampf sorgen. Zentnerschwere Lasten wurden auf den Schultern abgeladen. Gnabry selbst reagierte gelassen und meinte bei der Vorstellung lässig: "Fußball ist ein Teamsport".
Topwerte bei Bremen
Inzwischen ist er in Bremen sportlich und menschlich längst angekommen. In der Offensive ist er mit seinen vier Toren und fünf Torbeteiligungen der zentrale Spieler, der in 90 Minuten im Schnitt über zwei Torschüsse abgibt und zwei weitere vorbereitet. Immer wieder stößt er tief in den Sechzehner des Gegners vor und sorgt dort für Alarm (5,1 Ballaktionen im Strafraum pro Spiel). Er profitiert dabei stets von seinem pfeilschnellen Antritt, seiner Dynamik und seiner exzellenten Technik.
Vor allem seine Qualität im Eins-gegen-eins und sein Zug zum Tor machen ihn für die Nationalmannschaft so interessant. Immer wieder sucht Gnabry bewusst das direkte Duell und sprintet mit Hochgeschwindigkeit in Richtung des Gegners. In der gesamten Bundesliga gingen beispielsweise nur Ousmane Dembele (79 Mal) und Julian Brandt (69 Mal) häufiger ins Dribbling als Gnabry (63).
Eine Fähigkeit, die Bundestrainer Joachim Löw in seiner Mannschaft voller überqualifizierter Edeltechniker hin und wieder fehlt. Das fehlende Puzzleteil ist Gnabry sicherlich nicht, dafür sind Marco Reus, Andre Schürrle und Julian Draxler zu ähnlich. Doch Spieler wie er und Brandt bereichern Löws Werkzeugkiste und machen Hoffnung für die Zukunft.
Löw beeindruckt
Beeindruckend ist zudem die Kaltschnäuzigkeit des 21-Jährigen. Gnabry verwandelte in der Liga fast 30 Prozent seiner Möglichkeiten. Eine Fähigkeit, die er mit seinem Dreierpack beim Debüt im Nationaldress schon unter Beweis stellte. Klar, der Gegner hieß nur San Marino. Doch das Selbstbewusstsein, einen Ball bei der Premiere volley zu nehmen, muss man erstmal haben.
"Er ist sehr schnell, hat einen guten Rhythmus und einen guten Abschluss", sagte Löw über den 85. Debütanten in seiner Amtszeit: "Das ist klasse für ihn, für seine Entwicklung und für sein Selbstbewusstsein. Egal gegen welchen Gegner ist das ein sehr guter Auftakt in der Nationalmannschaft."
Abgesehen von seinen drei Toren ging Gnabry gegen San Marino immer wieder weite Wege, haute sich in jeden noch so aussichtslosen Zweikampf und gab die meisten Torschüsse der Partie ab. Er wollte dem Bundestrainer seine Bereitschaft zeigen und eine Duftmarke hinterlassen. Über den ersten Debüt-Dreierpack seit 40 Jahren kann er nur müde lächeln. "Daraus sollte man nicht so viel machen", meint er locker. Es ist gut zu sehen, dass er sich nicht wichtiger nimmt, als er ist. Anders ist der Zweifel an Löws Anruf wohl auch nicht zu erklären.
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