0:1 gegen Mexiko: Weltmeister Deutschland hat sich beim Start in die WM 2018 erschreckend schwach gezeigt. Offensive und Umschaltspiel präsentierten sich indisponiert. Schlimmer noch: Auch taktisch ließ sich die DFB-Elf vorführen.
Es war mehr als ein sportliches Erdbeben. Als Hirving Lozano den gefühlt zehnten hochkarätigen Konter der Mexikaner abschloss, Mesut Özil mit einem Haken stehen ließ und den Telstar 18 vorbei an Manuel Neuer ins kurze Eck donnerte, erschütterte er damit nicht nur die Sportwelt. Sogar die Seismographen in der Heimat schlugen aus, als Millionen von TV-Zuschauern simultan aufsprangen und jubelten, im Delirium angesichts einer hochverdienten Führung gegen den Weltmeister.
Im Stadion hatte man das fast ahnen können: Nicht nur auf dem Rasen waren die Grünen überlegen, auch auf den Rängen hatten sie dominiert, von dem Zeitpunkt an, als Neuer als erster Spieler zum Aufwärmen hinausgekommen war und donnernde Buhrufe über sich ergehen lassen musste, bis hin zum Schlusspfiff. Laut, stolz und enthusiastisch waren die Fans von El Tri, wohingegen die Zuschauer in den schwarz-weißen Trikots ein wenig farblos wirkten und nur selten zu hören waren.
Die Spieler in schwarz-weiß waren wenig später ähnlich sprachlos, als sie erklären mussten, warum man sich von einer sehr guten, aber keineswegs überragenden Elf die Butter hatte vom Brot nehmen lassen. Warum es schon wieder nicht geklappt hatte mit dieser vermaledeiten Abstimmung zwischen Abwehr und Angriff, warum man ein ums andere Mal ins offene Messer gelaufen war.
Deutschlands Schwächen: Ballverluste und harmlose Offensive
Schonungslos hatte der vermeintliche Underdog die Schwächen des Weltmeisters aufgedeckt: Ideenlosigkeit im Angriff, mangelnde Absicherung in der Vorwärtsbewegung, gravierende Schnelligkeitsdefizite im zentralen Mittelfeld und der Innenverteidigung. Ja, Deutschland hatte ebenfalls die eine oder andere gute Abschlussmöglichkeit. Mit nur einem Gegentor war man nach 90 Minuten aber noch gut bedient.
Man wusste gar nicht, wo man in der Fehleranalyse beginnen sollte. Bei den unnötigen Ballverlusten im Mittelfeld? Oder bei der Tatsache, dass man angesichts der harten Gangart des Gegners viel zu schnell resignierte und flehend - im weiteren Spielverlauf lamentierend, dann frustriert - in Richtung Schiedsrichter schaute, auf der Suche nach einem Pfiff, der nicht kam.
"Wir wussten, dass sie hart und wild spielen, uns durcheinanderbringen wollten", wisperte Timo Werner in der Mixed Zone. Referee Alireza Fahgani habe viel laufen lassen, "aber wir sollten uns nicht an der Schiedsrichterleistung aufhängen."
Wie wäre es stattdessen mit der zahnlosen Offensive? Auf enorme 26 Torschüsse kam die DFB-Elf im Spielverlauf, doch wirkliche Hochkaräter waren kaum dabei. Kombinationen in den Strafraum waren Mangelware. Stattdessen Weitschüsse und viele Flanken, hauptsächlich über rechts. Was Mexiko gern zuließ, schließlich ist Werner kein Kopfballungeheuer im Stile eines Miro Klose - und die neun Hereingaben eines Joshua Kimmich bedeuteten im Umkehrschluss, dass dessen Abwehrseite sperrangelweit offen stand.
Mexikos Kontertaktik überrascht naive DFB-Elf
Am unheilvollsten jedoch mutete die Tatsache an, dass die Spieler freimütig zugaben, von der Taktik Mexikos überrascht worden zu sein. Man habe das übliche Spiel mit hohem Pressing erwartet, verriet Thomas Müller. Stattdessen habe sich Mexiko "weiter zurückgezogen und nur auf den Ballverlust geschielt". Man habe einen fast nur auf Konter lauernden Gegner "so nicht erwartet", sagte auch Marco Reus.
Diese Aussagen offenbarten eine erschreckende Naivität: Wie man nicht darauf vorbereitet sein kann, dass es der Gegner - nicht umsonst übrigens mit schnellen, wendigen Offensivspielern ausgestattet - darauf anlegt, die eigenen Schwächen knallhart auszunutzen, ist das Geheimnis von Bundestrainer Joachim Löw. Als hätte Mexikos Trainer Juan Carlos Osorio bei den Tests gegen Österreich und Saudi-Arabien nicht ganz genau hingeschaut.
Doch während Osorio sein Team auf maximalen Erfolg kalibrierte, schien man im deutschen Lager auf ein Gentlemen's Agreement zu hoffen: "Ihr spielt doch so wie immer, gell? Bitte nicht unsere bekannten Schwächen attackieren."
Stattdessen konstatierte Werner, dass es "ein ähnliches Spiel wie gegen Saudi-Arabien" gewesen sei. Nur der Gegner sei eben "deutlich besser" gewesen. So schnell wird aus einem 2:1 ein 0:1.
Deutschland droht WM-Aus: Ist Schweden ein angenehmerer Gegner?
Immerhin: Von den Schweden dürfte am Samstag ganz sicher kein Offensivfeuerwerk zu erwarten sein. Das Offensiv- und Konterpotenzial der Nordeuropäer kann mit dem Mexikos nicht mithalten - eine gute Nachricht für die zu oft entblößten Mats Hummels und Jerome Boateng. Woher die Kreativität kommen soll, um einen Abwehrriegel zu knacken, an dem Italien in den Playoffs scheiterte, ist nach dem Auftritt im Luschniki-Stadion allerdings unklar.
Von Panik oder gar Resignation wollte in den Katakomben des Moskauer Stadions niemand etwas wissen. "Ich habe keine Angst", sagte Boateng, "wir haben uns das selbst eingebrockt und dürfen uns jetzt nicht unterkriegen lassen."
"Warnschuss" treffe es ganz gut, erklärte Werner, doch damit gab er den Ernst der Lage nur unzureichend wieder. Man habe schon im letzten Testspiel einen "Schuss vor den Bug bekommen", bilanzierte Mats Hummels sichtlich angefressen nur Minuten nach Abpfiff. Bleibt man bei diesem Bild, kassierte die DFB-Elf am Sonntag die volle Breitseite knapp unter der Wasserlinie. Das deutsche Flaggschiff hat tüchtig Schlagseite davongetragen.
Bis Samstag müssen die zahlreichen Lecks nun geflickt werden. Dafür bietet der Strand von Sotschi ideale Bedingungen. Gelingt es nicht, könnte die Mission Titelverteidigung um einiges früher absaufen als erwartet.