Erstmals in seiner Geschichte ist Deutschland in einer WM-Vorrunde gescheitert. Nach der 0:2-Niederlage gegen Südkorea musste die DFB-Elf die Heimreise antreten.
Woran hat es gelegen? Was lief falsch? Joachim Löw und seine Mannschaft haben acht große Fehler gemacht.
Fehler in der Vorbereitung: Den Ernst der Lage nicht erkannt
"Unser letztes gutes Spiel war im Herbst 2017", stellte Mats Hummels an der Seitenlinie nach dem Spiel gegen Südkorea treffend fest. So brutal deutlich hatte es zuvor noch niemand bei der DFB-Elf geäußert: Die Form im Team war nicht da, bis auf gute Phasen gegen Spanien waren die Testspiele allesamt mäßig bis schwach. Die großen Gegner konnten nicht bezwungen werden, der mittlere (Österreich) gewann, der kleine (Saudi-Arabien) schnupperte kurz vor WM-Start noch am Remis.
Trotzdem läuteten die Alarmglocken nicht. Gebetsmühlenartig wiederholte Joachim Löw, dass er zu 100 Prozent davon überzeugt sei, dass das Team bis zur WM bereit sein werde. Deutschland, die Turniermannschaft, wird's schon richten. Wenn es Kritik gab, wie etwa von Toni Kroos, richtete sie sich eher an den zweiten Anzug, der die etablierten Weltmeister nicht zu pushen vermochte. Die konnten sich ihrer Startplätze vor der WM sicher sein - womöglich auch ein Grund dafür, nicht das letzte Prozent Leistung herauszukitzeln.
Fehler in der Erdogan-Affäre: Schlechtes Krisenmanagement
Es habe keine andere Lösung für die Situation gegeben, erklärte DFB-Präsident Reinhard Grindel im Brustton der Überzeugung, als er vor Turnierbeginn auf das Foto von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Autokraten angesprochen wurde. Auch die Spieler hätten gar nicht mehr tun können - eine erwiesenermaßen falsche Aussage.
Fahrig wirkten die Gegenmaßnahmen des DFB, als sich Özil und Gündogan nicht von Erdogan distanzieren konnten oder wollten: ein Foto hier, eine Presseerklärung da, ein Treffen dort. Den Geist ging jedoch nicht mehr in die Flasche zurück.
So schleppte das Team die Erdogan-Affäre wie einen Rucksack durch die Vorbereitung. Pfiffe der entfremdeten Fans, ein konsequent schweigender Özil, ein sichtlich mitgenommener Gündogan, der dem Team nicht helfen konnte. Die übrigen Spieler taten ihr Möglichstes, um das Thema zu beenden, auch mit Vorwürfen in Richtung Presse. "Die Quittung für Störfeuer von außen", habe die Mannschaft bekommen, sagte Thomas Müller, während Manuel Neuer nach dem WM-Aus endlich zugeben musste, dass das Thema "belastend" auf das Team gewirkt hatte. Ob das Thema auch innerhalb der Mannschaft für Spannungen gesorgt hatte, ist nicht bekannt. Die Beziehung zu Fans wie Medien litt jedoch gewaltig.
Fehler in der Konzentration: Gedanklich schon im Finale
Es würde viel schwerer als noch 2014, hatte Löw gepredigt. Die Fehlschläge der Italiener 2010 und Spanier 2014 waren bekannt. Die Vorrundengegner allesamt als starke Gegner betitelt. Deutschland würde nicht den gleichen Fehler machen wie die Weltmeister zuvor.
Gedanklich war die Mannschaft aber schon viel zu früh über die Gruppenphase hinaus. Das ungeliebte Quartier in Vatutinki, als Sportschule belächelt, hatte der Verband nicht für die ersten drei Spiele ausgesucht, sondern im Hinblick auf Halbfinale und Finale. So saß der Tross vor den Toren Moskaus im Wald und sehnte den Strand von Sotschi herbei.
"Niemand wird uns zum Titel schreiben", betonte Toni Kroos, als die Mannschaft durch den Last-Second-Treffer gegen Schweden erst drei Punkte auf dem Konto hatte. Marco Reus gab nach seinem Bankplatz gegen Mexiko sogar zu, er würde in den "wichtigen Spielen" noch kommen. Mexiko, so entscheidend für einen gelungenen Start ins Turnier, war offensichtlich nicht wichtig genug.
Fehler im Matchplan: Kader und Taktik passten nicht zusammen
Ob Joachim Löw Fehler in der Zusammenstellung des WM-Kaders begangen hat, lässt sich im Nachhinein nicht eindeutig sagen. Für Manuel Neuer wurde das Leistungsprinzip außer Kraft gesetzt, doch der Bayern-Keeper rechtfertigte seine Nominierung voll und ganz. Ebenso Julian Brandt, der Leroy Sane den Platz weggeschnappt hatte. Sane wäre angesichts des Turnierverlaufs eine wertvolle Joker-Option gewesen, doch ihn angesichts seiner schwachen bisherigen Leistungen im Deutschland-Trikot zum Heilsbringer zu stilisieren, wäre verfrüht.
Eindeutig lässt sich jedoch festhalten, dass zu viele Spieler in ihrer Rolle nicht aufgingen: In einem 4-2-3-1 mit enorm hohen Außenverteidigern müssen diese auch Gefahr nach vorne ausstrahlen, das gelang (in Teilen) jedoch nur Joshua Kimmich. Die nominellen Flügelspieler wie Thomas Müller und Julian Draxler, eher umfunktionierte zentrale Spieler, gingen im Turnier nicht zufällig völlig unter. Und ein Timo Werner, der in einem hoch stehenden Team mit Ballbesitz die Speerspitze bilden sollte, ohne viel Platz, ist das genaue Gegenteil des erforderlichen Spielertyps. Nicht zufällig glänzte er genau dann, wenn er auf den Flügel ausweichen durfte.
Fehler in der Anpassung auf den Gegner: Kein Überraschungsmoment
Wegen eines schlechten Spiels alles über den Haufen zu werfen, sei keine Option, sagte Joachim Löw nach der Auftaktniederlage gegen Mexiko - dass seine Truppe seit Herbst 2017 nicht mehr gut gespielt hatte, hatte ihm Hummels offensichtlich verschwiegen. So hielt der Bundestrainer stur an seinem Rezept fest: 4-2-3-1, viel Ballbesitz, hoch angreifen, das Spiel kontrollieren und dominieren.
Alle drei Gruppengegner wussten so genau, was sie erwartet. Sie konnten sich darauf einstellen, wie Südkorea. Oder Deutschland überraschen, wie es Mexiko gelang. In einem Turnier nur auf die eigenen Stärken zu vertrauen, greift zu kurz. Zudem ist die Ausnutzung der Schwächen des Gegners gerade im heutigen Fußball unumgänglich. Der Wille dazu war bei Löw nicht ersichtlich. So kam das deutsche Spiel ohne Überraschungsmoment daher, das deutsche Team konnte die Gegner nicht in ungewohnte Situationen und damit in Verlegenheit bringen.
Fehler im Coaching: Keine Reaktion auf die schwachen Leistungen
Drei Spiele absolvierte die deutsche Mannschaft. Dreimal war die erste Halbzeit unterirdisch. Trotzdem ließ das Trainerteam, inklusive Marcus Sorg auf der Tribüne, jeweils viel zu viel Zeit verstreichen, bevor es Änderungen gab. Gegen Mexiko lief Deutschland so schon in Halbzeit eins in Konter über Konter, gegen Schweden gab es in den ersten 45 Minuten kaum eine Torchance. Trotzdem schauten die Verantwortlich lange nur zu. Reaktionslos.
Am taktischen Korsett des Teams rüttelte Löw jeweils erst, als die Verzweiflung zunahm und die Grundformation mit weiteren Offensivkräften umgeworfen werden musste. Das Spiel von Grund auf umzustellen, etwa von einem 4-2-3-1 auf ein 4-3-3 oder auf eine Dreierkette in der Abwehr, blieb jedoch aus. So spielte Leon Goretzka gegen Schweden auf dem Flügel für Thomas Müller, dabei ist er für die Außenbahn als Spielertyp genauso ungeeignet wie dieser. Wild würfelte Löw seine Spieler durcheinander, schickte insgesamt 20 seiner 23 Akteure aufs Feld. Das System, in dem sie sich nicht entfalten konnten, blieb jedoch gleich.
Fehler in der Offensive: Keine Torgefahr im deutschen Spiel
Zugegeben, die deutsche Elf hatte Chancen, teilweise sogar reichlich. Wenn diese ein ums andere Mal vergeben werden, aus aussichtsreichster Position, ist jeder Trainer an der Seitenlinie machtlos. Zu den meisten Chancen kam es jedoch erst, als Deutschland vorne schon alles oder nichts spielte.
Aus der Grundformation hatte die Mannschaft nach vorne erschreckend wenig zu bieten. Das Spiel war nicht auf die Spielertypen zugeschnitten, aber auch der Plan A war einfach zu durchschauen. Ohne Platz für Steilpässe verlegte Deutschland sich darauf, die Bälle irgendwie in Richtung Grundlinie zu bekommen, vornehmlich über die rechte Seite, von dort sollte die Hereingabe kommen.
Für Torgefahr sorgte das nicht. Hohe Flanken auf Timo Werner, der in dieser Saison für RB Leipzig ein ganzes Kopfballtor erzielt hat? Oder ein flacher Pass, der irgendwie durch bis zu acht paar Beine hindurchfinden soll? Dieses Risiko nahmen die Gegner gerne auf sich.
Dazu kam die Schwäche bei Standards. 2014 hatte das DFB-Team endlich den eigenen Stolz überwunden und Standards trainiert - und so gleich mehrfach entscheidend getroffen. In Russland war lediglich Toni Kroos bei direkten Freistößen eine Gefahr, Ecken und sonstige Hereingaben waren harmlos. Zwar betonte Löw, dass Standards häufig trainiert worden seien, doch davon war nichts zu sehen. Hansi Flick, nach der WM 2014 zurückgetreten, fehlte doch stärker als gedacht.
Fehler in der Einstellung: Die Spieler waren zu satt
Es sind unangenehme Klischees - sonst landet man schnell bei der überflüssigen Hymnendiskussion. Trotzdem: Über das gesamte Turnier war nicht zu erkennen, dass Spieler auf dem Platz standen, die sich für den WM-Titel buchstäblich zerreißen wollten. Es fehlte an Tempo, an Einsatzwillen, an Entschlossenheit.
Bei zu vielen Schlüsselspielern stimmte die Form nicht, trotz einer oft gelobten Vorbereitung. Aber wenn ein Manuel Neuer aus seinem Strafraum den "unbedingten Willen zum Sieg" nicht erkennen kann, wenn Toni Kroos gegen Südkorea bemängelt, dass nicht zu sehen gewesen sei, dass es sich um ein Finale handelte, dann waren die Weltmeister am Ende vielleicht doch einfach zu satt.