Julian Brandt, Karim Bellarabi, Sebastian Rudy und Marco Reus sind gestrichen. So lautete das Fazit der finalen Kader-Bekanntgabe von Löw für die EM 2016.
Das bedeutete gleichzeitig, dass Kimmich mit nur einem Länderspiel auf dem Buckel mit nach Frankreich fahren durfte. Er war mit 21 Jahren der elftjüngste Spieler bei einer EM in der Geschichte der deutschen Nationalmannschaft. "Es war für mich wie ein Traum", erzählte Kimmich DAZN und SPOX.
Der Gedanke ans DFB-Team sei zuvor nie dagewesen: "Für mich war es extrem überraschend." Im Nachhinein, erklärte Kimmich, war die Entscheidung von Löw, der Kimmichs Nominierung vor allem mit dessen Variabilität erklärte, ein absoluter Glücksfall.
Joshua Kimmich: Underdog mit körperlichen Defiziten
Der damalige Neuzugang des FC Bayern hatte zuvor ein halbes Jahr als Stammspieler beim Rekordmeister beeindruckt. Begünstigt durch die verletzungsbedingten Ausfälle von Jerome Boateng und Medhi Benatia vertraute Pep Guardiola plötzlich auf Kimmich als rechter Innenverteidiger.
Eine gänzlich neue und bei weitem keine einfache Situation, in die der damalige Bayern-Trainer seinen Lieblingsschüler da geworfen hatte. Doch mit eben solchen Situationen hatte er schon Übung, sei es kurz nach seinem Wechsel in die Jugend des VfB Stuttgart, zu Leipzig oder dann eben zu Bayern gewesen.
Immer wieder stand ihm sein Körper im Weg. "Ich hatte körperliche Defizite, war nicht dynamisch und hatte immer Punkte, an denen ich arbeiten musste", erinnerte Kimmich bei DAZN und SPOX. Kontinuierlich musste er sich hinten anstellen, andere Wege finden, um sich durchzusetzen: "So musste ich eben versuchen, schneller zu denken und zu handeln."
Dauerbrenner Joshua Kimmich: "Möchte diesen Platz nicht mehr hergeben"
Der Underdog, dessen Wechsel zu den Bayern viele aufgrund der mangelhaften Perspektive auf Einsatzzeit nicht nachvollziehen konnten, überraschte auch in München. Schnell wurden aus "einfinden, reinschnuppern und von den Mitspielern lernen" 90 Minuten gegen Dortmund, Bremen oder Leverkusen - Woche für Woche erledigte Kimmich einen guten Job.
Ähnlich lief das im DFB-Team. Plötzlich reingerutscht und dann auf ungewohnter Position abgeliefert. Im Nationalteam war das die rechte Abwehrseite. Seit dem dritten EM-Gruppenspiel stand Kimmich jede Minute auf dem Platz - mit Ausnahme der letzten zehn Minuten gegen Saudi-Arabien und dem Freundschaftsspiel gegen Frankreich, in dem er nicht zum Einsatz kam.
28 Länderspiele in zwei Jahren. "Das war für viele eine Überraschung. Für mich war klar, dass ich diesen Platz nun nicht mehr hergeben möchte", sagte Kimmich zu DAZN und SPOX.
Nationalspieler mit den meisten Einsätzen seit dem 3. EM-Gruppenspiel
Spieler | Einsätze | Spielminuten |
Joshua Kimmich | 28 | 2541 |
Julian Draxler | 23 | 1749 |
Jonas Hector | 22 | 1916 |
Thomas Müller | 18 | 1368 |
Mats Hummels | 17 | 1470 |
Toni Kroos | 16 | 1455 |
Mesut Özil | 15 | 1197 |
Leon Goretzka | 14 | 881 |
Sebastian Rudy | 14 | 805 |
Emre Can | 14 | 669 |
Joshua Kimmich ersetzt Philipp Lahm
Nach und nach merkte er, dass er eine Option für die Zukunft darstellte. Der Abschied des vermeintlich unersetzbaren Philipp Lahm war überraschend schnell verschmerzt, auch wenn das zu Beginn der neuen Ära überhaupt nicht machbar schien.
Die anfänglichen Vergleiche zwischen Kimmich und Lahm scheute der Youngster. Aus Lahms Schatten hervorzutreten, war unmöglich für ihn. "Philipp hat diese Position, den Verein und die Nationalmannschaft über Jahre hinweg geprägt, war Kapitän, ein Leader", sagte Kimmich über seinen Lehrmeister.
Wenngleich Kimmich stets betonte, dass er versuchen wolle, "Joshua Kimmich zu sein und nicht Philipp Lahm", schlüpft er immer mehr in die Rolle des ehemaligen Kapitäns. Weniger auf spielerischer Ebene, vielmehr in der Bedeutung für die Mannschaft. Nicht nur, dass er auf der rechten Abwehrseite genauso alternativlos ist, Kimmich wächst langsam zum Führungsspieler heran.
Natürlich erfüllen Spieler wie Manuel Neuer, Mats Hummels oder Thomas Müller diese Aufgabe noch dominanter, doch Kimmich übernimmt seit dem Confederations Cup immer mehr Verantwortung: "Viele etablierte Spieler nahmen nicht an dem Turnier teil. Da konnte und musste ich in eine etwas andere Rolle schlüpfen, weil ich ein paar Länderspiele mehr gemacht hatte. Da merkte ich, dass ich in der Mannschaft schon ein anderes Standing und Auftreten habe." Kimmich avancierte zu einem der Wortführer und Leader auf und abseits des Platzes.
Jogi Löw über Joshua Kimmich: "Eines der allergrößten Talente"
Einst als Notnagel auf die Rechtsverteidiger-Position beordert fährt Kimmich zwei Jahre später als feste Säule der Mannschaft mit zur WM. Experten, Fans und Kollegen überschütten ihn mit Lob.
Selbst der ansonsten eher diplomatische Nationaltrainer konnte sich vor wenigen Tagen nicht zügeln und hob die Leistungen des Stammspielers hervor: "Joshua ist eines der allergrößten Talente, die ich in den letzten zehn Jahren gesehen habe. Er hat diesen Biss und diesen Hunger, in jedem Training an seine Leistungsgrenze zu gehen."
Zur Erinnerung: Kimmich ist 23 Jahre alt. Trotz solcher Aussagen von Löw, wonach Kimmich bereits auf "ganz hohem internationalen Niveau" spiele und der Rest auf dieser Position noch ein wenig reifen müsse, adaptiert Kimmich konstant weiter - eben auf hohem Niveau.
Joshua Kimmich dank Zweifel bald Weltstar?
Blickt man auf die zwei Jahre beim Nationalteam zurück, stellt man fest: Kimmich ist noch ball- und passsicherer, zweikampfstärker, torgefährlicher und vor allem extrem wichtig als Flankengeber geworden. In der WM-Quali bereitete er neun Treffer in zehn Spielen vor. Jede dritte seiner Hereingaben kam an den Mann.
Joshua Kimmich bei der WM-Quali | Wert (opta) |
Spiele | 10 |
Tore | 2 |
Assists | 9 |
Torschussvorlagen | 28 |
Flankenquote | 31,1 Prozent |
Passquote | 90,1 Prozent |
Zweikampfquote | 56,3 Prozent |
Der Grund für Kimmichs stete Entwicklung? Zweifel. "Das ist für mich die Basis zur Entwicklung. Du kannst dich nur verbessern, wenn du dir eingestehst, dass du Schwächen hast", erklärte Kimmich: "Ich finde Zweifeln ist nichts Negatives, wenn man es richtig umsetzt."
Er habe seine Skepsis immer versucht positiv umzusetzen, weiß aber selbst: "Bisher habe ich diese Situationen immer gemeistert bekommen, das gibt mir natürlich Selbstvertrauen." Zweifelt Kimmich weiter hin und wieder an sich, könnte aus einem der allergrößten Talente der letzten zehn Jahre ein Weltstar werden - die große Bühne in Russland ist die perfekte Gelegenheit für den nächsten Schritt in diese Richtung.
Der unterschätzte, schmächtige Junge vom bescheidenen VfB Bösingen könnte nach Stuttgart, Leipzig, München und Deutschland die ganze Welt überraschen.
"Man merkt schon, da steht etwas ganz Großes bevor", beschrieb Kimmich seine Vorfreude auf das anstehende Turnier. Eine Aussage, die sich genauso gut auf ihn selbst münzen lässt.