Während Toni Kroos verletzungsbedingt bereits vor dem ersten WM-Qualifikationsspiel abreisen musste, überzeugt das DFB-Team spielerisch ohne ihn besonders in der Mittelfeldzentrale. Sollte die Besetzung auch bei der EM so bleiben, oder muss Kroos in der Nationalmannschaft gesetzt sein? Das Pro und Contra.
DFB-Team: Toni Kroos muss bei der EM gesetzt sein
von Kerry Hau
Wie eine Länderspielnominierung von Toni Kroos mittlerweile abläuft? Er bekommt keinen Anruf, keine SMS und auch keine WhatsApp mehr vom Bundestrainer, er erscheint einfach zu den Länderspielen. Das allein sagt alles über das Standing des Spielgestalters von Real Madrid bei Joachim Löw. Für Löw ist Kroos eine Führungspersönlichkeit, im Team "hoch respektiert" wegen "seiner Professionalität" - und ein "Weltklasse-Spieler".
Das trifft auch alles (nach wie vor) auf Kroos zu. Anderenfalls würde er bei Real nicht noch immer Woche für Woche den unkaputtbaren Mittelfeld-Dreizack mit Casemiro und Luka Modric bilden. Nun sind Joshua Kimmich, Leon Goretzka und Ilkay Gündogan in überragender Verfassung. Einen Platz im von Löw mittlerweile favorisierten 4-3-3 gibt es für den erfahrenen Denker und Lenker aus Madrid aber nach wie vor - indem Kimmich einfach die alles andere als optimal besetzte Position des rechten Außenverteidigers übernimmt. Deutschland hat keinen besseren Spieler für diese Position als den Bayern-Star. Warum also der eigenen Stärke berauben?
gettyDer momentan gesetzte Lukas Klostermann mag defensiv zwar solide agieren, entwickelt aber zu wenig Tempo nach vorne. Und Ridle Baku vom VfL Wolfsburg ist einer der Senkrechtstarter dieser Saison, muss sich aber auch erst einmal auf internationalem Niveau empfehlen und sollte vor diesem Hintergrund nicht sofort als Stammkraft für die EM eingeplant werden.
Kimmich, so wichtig er auch im Mittelfeld ist, würde der deutschen Elf als Rechtsverteidiger mehr helfen. Klar, er ergänzt sich hervorragend mit Bayern-Kollege Goretzka, aber beim Champions-League-Turnier in Lissabon ließ Hansi Flick ihn auch hinten rechts spielen und vertraute im Zentrum auf den nicht weniger ballsicheren Thiago. Der Plan ging auf, auch weil Kimmich in seiner ungeliebten Rolle lieferte.
Kurzum: Mit Kroos auf der Bank würde sich Löw eine zusätzliche Baustelle öffnen - und die andere (die Rechtsverteidiger-Position) nicht schließen. An Kroos' spielerischer Tauglichkeit sollte es ohnehin keinen Zweifel geben. Mit ihm hätten Goretzka und Gündogan gewiss keinen schlechteren Mitspieler als Kimmich an ihrer Seite.
DFB-Team: Kroos? Am Bayern-Zentrum ist kein Vorbeikommen
von Jonas Rütten
Qualitativ ist Toni Kroos sicherlich über viele Zweifel erhaben, immerhin ist man nicht einfach mal so bei den Königlichen seit nun fast sieben Jahren ein Schlüsselspieler. Aber: Das sind Leon Goretzka und Joshua Kimmich beim FC Bayern auch. Und zwar gemeinsam. Als Duo, das sich hervorragend im Zentrum ergänzt, eingespielt ist, ja gar gemeinsame Aktionen wie "We Kick Corona" ins Leben ruft, ergo auch privat recht gut miteinander auskommt.
Es ist jene Eingespieltheit gerade in Zeiten von Corona, in der es für Joachim Löw kaum noch Gelegenheiten gibt, in einer normalen Turniervorbereitung Abläufe und Automatismen einzuüben, durch die Kroos' Status der Unantastbarkeit in der DFB-Elf und im Hinblick auf die EM hinterfragt werden muss. Das wäre auch durchaus angesichts des Alters von Kroos (31) im Sinne des so oft von Löw proklamierten und so knallhart vorangetriebenen Umbruchs.
Und nicht nur das. Es wäre auch in puncto Spielidee sinnvoll, denn Kroos und Kimmich ergänzen sich qua Spielertyp nicht so gut im Zentrum, wie es beispielsweise Kimmich mit seinem Mannschaftskollegen aus München tut. Dort ist Kimmich der Spielgestalter und Goretzka der offensivere Arbeiter, der häufiger den Torabschluss sucht. Mit Kimmich und Kroos würden hingegen zwei sehr ähnliche Spielertypen im Zentrum stehen, die den Ball fordern und verteilen wollen.
gettyDass Kimmich für die EM wieder auf die Rechtsverteidigerposition rücken wird, ist weder ratsam noch wahrscheinlich. Dort ist die Qualität zwar nicht so hoch wie im Mittelfeldzentrum, aber Kimmich ist mittlerweile zu wichtig in seiner dortigen Rolle. Zumal Alternativen auf rechts durchaus vorhanden sind, sollten gelernte Kräfte wie Lukas Klostermann Löw nicht von sich überzeugen können.
Ridle Baku, der eine starke Saison in Wolfsburg und eine gute Rolle in der U21 spielt, wäre ein Kandidat. Oder gar Niklas Süle, der seine Sache auf der Außenposition bei Bayern sogar phasenweise so überzeugend gestaltete, dass er dort spielte, obwohl Benjamin Pavard und Bouna Sarr einsatzfähig gewesen wären.
Das DFB-Zentrum muss zunächst dem Bayern-Duo gehören, unabhängig von Kroos' Fitnessstand. Und sollte Löw wie in den bisherigen beiden WM-Quali-Spielen auf drei Spieler im Zentrum setzen, so gehört der dritte Platz aktuell allein aus leistungstechnischen Gründen Ilkay Gündogan, der sich in der Form seines Lebens befindet.
Kann er diese bis in den EM-Sommer retten und seine Klub-Leistungen auch in der Nationalmannschaft zeigen, bleiben Kimmich und Goretzka verletzungsfrei, dann ist für Kroos in der ersten Elf erstmal kein Platz.