Nein, vorstellen musste er sich nicht noch einmal. Bei den Mitarbeitern, bei den Kollegen, bei den Vorgesetzten der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ist der Name Joshua Kimmich noch geläufig. Als er zum letzten Mal für den DFB spielte, war er noch 26, hatte eine andere Frisur und bekam weniger Kindergeld.
Im Oktober 2021 war er zuletzt auf dem Platz, als Nordmazedonien mit 4:0 geschlagen wurde. Es folgten Corona-Diskussionen, Quarantäne, Nachwuchs in der Familie Kimmich, als der Papa logischerweise zugegen sein musste, und so kann dann schon mal ein halbes Jahr vergehen, ohne ein Länderspiel bestritten zu haben. Auch wenn das DFB-Team in der Abwesenheit Kimmichs nicht auseinandergefallen ist, hat man ihn dennoch vermisst.
"Ich habe nicht das Gefühl, dass mich jemand krumm von der Seite anguckt, sondern dass ich hier gerne gesehen bin", sagte Kimmich am Freitag auf der Pressekonferenz einen Tag vor dem Duell mit Italien in Bologna (20.45 Uhr im LIVETICKER).
Es mag manchmal von außen so wirken, als sei dieser Joshua Walter Kimmich aus Rottweil ein verbissener Streber, der mit seinem ausgeprägten Sinn für Hingabe und Leistung seinen Kollegen und Chefs - salopp gesagt - manchmal auf den Sack geht. Würde man Hansi Flick fragen, würde dieser sagen: Wenn es so ist, dann ist es gut, dass er allen auf den Sack geht.
Joshua Kimmich: Zum ersten Mal Gegenwind
Aber Kimmich ist ein sehr geschätzter Kollege in seinen Mannschaften. Wer sich für den Erfolg seines Teams so aufopfert und selbstlos alles abverlangt, was er zu bieten hat, wird zumindest schon einmal geschätzt. Kommt die menschliche Komponente hinzu, die bei ihm auch mehr als stimmt, kommen Respekt und Anerkennung hinzu.
Die Anerkennung bleibt trotz der Tatsache, dass er sich "auf vier Nations-League-Spiele im Juni freut". Er lächelt dabei etwas verhalten, weil er weiß, dass nicht viele Fußballer die brutale Lust haben, nach einer anstrengenden Saison noch vier Spiele in einem Wettbewerb zu absolvieren, von dem sie nach wie vor nicht wissen, warum es ihn gibt.
Dass sich Kimmich so sehr freut, ist allein schon der Tatsache geschuldet, dass er einfach gerne kickt. Aber auch, um wieder den Anschluss an die Nationalmannschaft wenige Monate vor der WM 2022 herzustellen. Es sind wichtige Wochen und Monate für den zentralen Mittelfeldspieler, der vielleicht zum ersten Mal als gestandener Profi etwas Gegenwind erfährt und hinterfragt wird.
Klar taucht Kimmich in jeder Wunschelf auf, wenn man die Nationalmannschaft Deutschlands aufstellt. Aber der Dynamo des FC Bayern spielte tatsächlich nicht die beste Saison seiner Karriere. Kimmich hat ein Mindestlevel an Leistung, das er in jedem Spiel einbringt, aber es gab in den vergangenen Monaten durchaus ein paar Spiele, in denen er so abfiel wie nie zuvor.
Joshua Kimmich: Zu viele schwache Spiele beim FC Bayern
Da gab es das Pokalspiel in Mönchengladbach, die Ligaspiele beim FSV Mainz 05 oder beim VfL Bochum, das Champions-League-Spiel in Villarreal. Sicherlich alles Spiele, in denen die gesamte Mannschaft des FC Bayern nicht gut war. Aber womöglich auch, weil Kimmich seine Leistung nicht abrufen konnte. Er ist der Spieler, der alles zusammenhält. Bricht er zusammen, bricht alles andere mit.
Kimmich wurde in dieser Phase für seine Leistungen nicht nur kritisiert, sondern gar als Problem des FC Bayern ausgemacht. "Kimmich ist kein Zerstörer. Er will offensiv Akzente setzen, müsste aber für Stabilität und die Balance sorgen. Diese Kernaufgabe erfüllt er nicht", schrieb Ex-Bayern-Profi Dietmar Hamann in einer kicker-Kolumne und legte nach: "Er ist ein herausragender, intelligenter Fußballer. Aber ich glaube nicht, dass er bereit ist, sich auf der Sechser-Position für die Mannschaft zu opfern."
Inwiefern Kimmich Kolumnen liest und Kritik von Ex-Fußballern an sich ranlässt, ist nicht übermittelt, aber den Vorwurf, dass er nicht bereit ist, sich zu opfern, wird den Bayern-Profi sicher erreicht und womöglich auch ein wenig getroffen haben. Auch wenn Hamann der Nummer 6 des FC Bayerns mit seiner Aussage, dass er sich nicht opfern will, sicher nicht die Einsatzbereitschaft absprechen wollte, sondern vielmehr zum Ausdruck brachte, dass Kimmich lieber offensiv Akzente setzt als defensiv.
Dass sich kurze Zeit später auch Bayern-Trainer Julian Nagelsmann öffentlich "ein, zwei Pressingmaschinen" für das Mittelfeld wünschte, dürfte Kimmich dann aber ganz sicher nicht entgangen sein. Das Interesse an Konrad Laimer vom Ex-Kimmich-Klub Leipzig ist genauso bekannt wie die bevorstehende Verpflichtung von Ajax-Juwel Ryan Gravenberch.
Joshua Kimmich: Hansi Flick sendet Signale
Es ist ein Signal des FC Bayern, dass man zumindest im Radius Kimmichs Probleme sieht und sich dort verstärken will. Über seinen Stammplatz in München braucht sich Kimmich deswegen keine Gedanken machen, aber die Selbstverständlichkeit, dass Kimmich in jedem Spiel zu den besten Spielern gehören wird, ist abhandengekommen und muss von ihm wieder hergestellt werden.
Dabei geht es auch um seinen Platz in der Nationalmannschaft. Geklärt ist schon mal, dass Hansi Flick, unter dem Kimmich beim FC Bayern seine beste Zeit hatte, seinen Ex-Schüler aus München ausschließlich auf der Sechs sieht. Dies gab der Bundestrainer unmissverständlich bekannt. Keine Ausflüge mehr wie unter Joachim Löw auf die rechte Abwehrseite oder als Schienenspieler im 3-4-3.
Aber dass ihn Flick auf der Sechs sieht, heißt nicht, dass er dann auch sicher spielt. Flick ließ zuletzt aufhorchen, als er sagte, dass die Doppelsechs Kimmich/Leon Goretzka "nicht von Haus aus gesetzt" sei. Das wirkte in der Wahrnehmung der Nationalmannschaft zumindest immer anders.
Als Flick am Freitag nach Kimmich und dessen kleiner Delle gefragt wurde, ließ der Bundestrainer alle obligatorischen Nettigkeiten zum Einstieg weg und sagte: "Ich erwarte von jedem Spieler, dass er sich weiterentwickelt - da gehört natürlich auch Joshua dazu."
Joshua Kimmich: Noch muss er sich keine Sorgen machen
Als Kimmich mit den Aussagen Flicks konfrontiert wurde, sagte er: "Prinzipiell erwarte ich immer viel von mir und möchte mich immer weiterentwickeln. Als Sechser hat man eine Verantwortung für die Defensive." Dann schwenkte er um "auf uns" und ließ durchblicken, dass beim FC Bayern das Gesamtgefüge nicht funktionierte und nicht nur einzelne Spieler.
Man ist nicht in einem Stadium, um sich Sorgen um Deutschlands Fußball-Zentrum zu machen. Auch weil man einfach weiß, was Kimmich kann und was er über die meiste Zeit seiner Karriere gezeigt hat.
Das wissen besonders die Kollegen zu schätzen: "Joshua ist ein wichtiger Spieler, weil er eine Position bestückt, die entscheidend ist. Im Zentrum des Mittelfeldes gilt es abzuwägen: Mache ich das Spiel schnell, mache ich es langsam. Dort versucht man, strategisch vorzugehen, auch mit viel Sprechen", sagt Manuel Neuer.
Und auch ein anderer Bayern-Kollege, Thomas Müller, sieht kein Kimmich-Thema in der Nationalmannschaft, weil er weiß: "Das Vertrauensverhältnis zwischen Hansi und Josh ist sehr groß." Ein Vertrauen, das Flick offenbar noch einmal auffrischen will, wenn man die Aussagen richtig deutet. Mit der Erwartung, dass Kimmich dazu in der Lage ist, alsbald auf sein altes Niveau zurückzukommen und dann nur noch den Gegnern auf den Sack geht.