SPOX: Herr Klinsmann, die U-19-Auswahl des US-Verbands wird am Wochenende beim renommierten Mercedes-Benz Junior Cup in Sindelfingen teilnehmen. Wie kam es zu dieser Einladung?
Jürgen Klinsmann: Zunächst einmal freue ich mich ungemein, dass es geklappt hat. In den USA haben wir so ein topp besetztes Turnier mit der Creme de la Creme der Jugendmannschaften nicht. Hier können sich unsere Jungs einen Eindruck davon verschaffen, wie bei Euch gespielt wird. Es wird eine nicht-alltägliche Erfahrung für die Jungs, da freuen wir uns ungemein drauf. In erster Linie wird es darum gehen, so viel wie möglich zu lernen. Unsere Auswahl reist nicht mit dem Anspruch an, das Turnier gewinnen zu wollen. Zumal der Hallenfußball in den USA fast unbekannt ist.
SPOX: Was sind die größten Unterschiede zwischen dem Jugendfußball in den USA und dem in Deutschland?
Klinsmann: Ein großes Problem ist, dass der Jugendfußball losgelöst ist von der Profi-Vereinsstruktur. Das sieht dann so aus, dass es viele Klubs gibt, die gar keinen Erwachsenenfußball anbieten. Den Jugendmannschaften fehlen dann die weiterführenden Teams im Seniorenbereich. Hier sind die Strukturen nur dafür da, die besonders Begabten herauszufinden und ihnen ein Stipendium am College zu verschaffen. Der Fußball dient in erster Linie dazu, in der Ausbildung den nächsten Schritt machen zu können.
SPOX: Und was steuern die Profiklubs bei?
Klinsmann: Vor zwei, drei Jahren haben die MLS-Klubs angefangen, ihre eigenen Jugendakademien zu unterhalten. Das sind erste Schritte, aber es fehlen noch die festen Strukturen. Es gibt viele gute Ansätze, aber die Dinge sind in dem großen Land auch sehr weit verstreut und nicht immer leicht miteinander zu verknüpfen. Da haben wir noch einen langen Weg vor uns. Deshalb ist es Gold wert, eine kleine Auswahl zu einem Turnier wie dem Junior Cup schicken zu können.
SPOX: Orientieren Sie sich in der Weiterentwicklung des Fußballs in den USA auch an gewissen Vorbildern oder muss man dafür quasi etwas ganz Neues erfinden?
Klinsmann: Man kann sich vor allen Dingen im technischen Bereich Vorbilder nehmen, wie die Kinder und Jugendlichen geschult werden sollten. Auch die Traineraus- und fortbildung ist noch ein ziemliches Wild West: Der US-Verband fährt die Ausbildung in A-, B-, und C-Stufen, während der College-Verband seine eigenen Richtlinien hat. Um Brücken zu bauen, findet demnächst ein großes Symposium statt, auf dem die 5000 bis 6000 College-Trainer vorsprechen werden.
SPOX: Kommt der Soccer denn überhaupt gegen die populären Sportarten an?
Klinsmann: An den großen Drei, Baseball, Basketball und Football, dazu noch Hockey, ist natürlich schwer vorbeizukommen. Aber die Amerikaner merken, dass der Fußball eine Sportart ist, die von innen heraus betrieben wird, sprich: dass der Spieler selbst seine Entscheidungen trifft und dass von außen nicht viel gesteuert werden kann. Ohne Playbooks mit standardisierten Spielzügen, die auswendig zu lernen sind; und ohne Timeouts. Die Leute tun sich noch ein bisschen schwer, zu akzeptieren, dass es kein Trainer-, sondern ein Spieler-Sport ist. Aber da immer mehr Kinder und Jugendliche Fußball spielen, da wir mittlerweile fünf Fernsehkanäle haben, die Fußball zeigen und weil die Medien dem Fußball immer mehr Raum geben, tut sich einiges.
SPOX: Wer hilft Ihnen bei der Umsetzung?
Klinsmann: Wir haben mit Claudio Reyna (ehemals Leverkusen, Wolfsburg, ManCity u.a., Anm. d. Red.) einen Direktor für den Jugendfußball. Er sammelt Erfahrungen und Eindrücke auf der ganzen Welt, geht in die Jugendakademien. Das Ergebnis sieht so aus, dass es eine gewaltige Nachfrage gibt nach amerikanischen Spielern, auch bei europäischen Klubs.
SPOX: Wie kann der Soccer in den Staaten ein besseres Image bekommen?
Klinsmann: Der Imagewandel ist bereits geschehen. Die Eltern haben erkannt, dass der Fußball eine weitere Spotart ist, die viele Türen an den Universitäten und High Schools öffnen kann. Die große Aufgabe wird in den kommenden Jahren sein, die Brücken zu bauen vom Jugend- in den Erwachsenenfußball. Die MLS-Klubs haben sich mittlerweile auch dem Jugendfußball verschrieben, deshalb ist derzeit einiges im Umbruch. Aber: Der traditionelle Amerikaner wird "seinen" Sportarten immer die Stange halten. Der Fußball soll aber auch gar nicht als Konkurrenz angesehen werden. In einem Land mit mehr als 300 Millionen Einwohnern ist genügend Platz für den Fußball da und auch genügend Potenzial, um zu wachsen. Es leben alleine ca. 30 Millionen Hispanics in den USA, die sind alle Fußball verrückt... Ich sage es so: Du kannst den Fußball jetzt nicht mehr stoppen!
SPOX: Ist diese Erkenntnis erst mit Ihrem Engagement als Nationaltrainer gewachsen oder der Tatsache geschuldet, dass Sie mittlerweile schon über zehn Jahre in den USA leben?
Klinsmann: Das sind Erkenntnisse aus mittlerweile 13 Jahren USA-Erfahrung. Wenn man die College-Veranstaltungen der anderen Sportarten betrachte, die March Madness im Basketball etwa, mit 90.000 Fans im ausverkauften Stadion und einen ungeheuren TV-Präsenz, dann merkt man schnell, dass es für den Fußball noch ein langer Weg sein wird. Und trotzdem ist es schön zu sehen, wie schnell sich der Fußball in den letzten 20 Jahren hier entwickelt hat. Seit 1990 hat sich die USA für jede WM qualifiziert, hat eine eigene Liga gegründet mit großen Investoren dahinter. Da können weltweit nur wenige Ligen Paroli bieten. Der Knackpunkt ist für mich: Wo hat der Amerikaner sein Herz für den Sport verloren? Ich denke, dass das nicht im Profisport geschehen ist. Sie lassen sich begeistern von der NBA, NFL, MLB oder vom Hockey oder eben Fußball. Aber ihre emotionale Bindung liegt klar an den Colleges. Da lassen sie sich gehen, in den Sportbars oder in den Hallen. Der Profisport ist das Entertainment mit Hot Dogs, Bier und Fan-Shirts. Aber die eigentliche Emotion liegt begründet in ihrer Ausbildungsstätte, in der High School oder am College. Und hier hat der Fußball viel an emotionaler Bindung gewonnen.
SPOX: Welche Vorteile sehen Sie noch?
Klinsmann: Im Football kommt es regelmäßig zu schweren Verletzungen, der Soccer ist da ungefährlicher. Und beim Basketball spielt nun mal die Körpergröße eine entscheidende Rolle, unter 1,90 Meter hat man es schwer. Beim Baseball ist nicht genügend Bewegung auf dem Feld.
SPOX: Gibt es in den USA so etwas wie den klassischen Straßenfußballer, also tummeln sich die Kinder nach der Schule auf den Straßen und spielen Fußball?
Klinsmann: Das eher nicht. Vornehmlich sind das die Hispanics, die im Hinterhof kicken. Das ist aber eine spannende Aufgabe für uns, weil diese Kinder ja hier aufwachsen und natürlich amerikanische Pässe haben. Das ist unsere Aufgabe, diese Jugendlichen zu finden und zu scouten. Die meisten spielen in "hispanic leagues", zu denen wir als Verband kaum Zugang haben. Aber dort spielen Hunderttausende von Jugendlichen, deshalb müssen wir da hin gehen. Amerikanische Jugendliche aus der Mittelklasse wird man aber nirgendwo kicken sehen.
SPOX: Wie ist Ihre Erwartung bezüglich der Verjüngung der A-Nationalmannschaft im Hinblick auf die WM 2014 in Brasilien?
Klinsmann: Wir kommen jetzt in eine sehr interessante Phase. Überall auf der Welt spielen Jungs mit doppelten Staatsbürgerschaften, auch in der Bundesliga. In Buenos Aires zum Beispiel gibt es zwei U-18-Spieler, die auch sehr interessant sind. Das geht bis runter in den U-18-, U-17-, U-16-Bereich. Dazu kommt, dass die Amerikaner, die in Europa in den Ligen spielen, auch Stammspieler sind. Das war früher noch nicht so. Das sind schon andere Kaliber. Der nächste Schritt wäre jetzt, dass wir diese Spieler auch gerne in der Champions League sehen würden. Aber es ist ein deutlicher Qualitätssprung zu sehen. Wir wollen mitspielen mit den großen Nationen und nicht nur auf Konterfußball lauern, wir sind dabei, das Gesicht der Nationalmannschaft zu ändern. Deshalb versuchen wir auch immer wieder, große Nationen als Gegner zu gewinnen. In der Spielumsetzung stehen wir aber erst am Anfang unserer Entwicklung.
Jürgen Klinsmann im Steckbrief