Die Wende der Wende

Etwa anderthalb Stunden vor dem geplanten Anstoß wurde die HDI-Arena am Dienstag evakuiert
© imago

Das für Dienstagabend angesetzte Länderspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden in Hannover wurde etwa anderthalb Stunden vor dem geplanten Spielbeginn (20.45 Uhr) abgesagt. Grund dafür war eine Anschlagswarnung. Im plötzlich eintretenden Schreckmoment zeigten sich außergewöhnliche Verhaltensweisen, die später doch von Anspannung überholt wurden. Die Einordnung der Lage fällt nun schwer - in vielerlei Hinsicht. Ein Stimmungsbericht aus Hannover.

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Wer am Dienstagabend nach 22 Uhr durch die Straßen Hannovers lief, fand eine verlassene Stadt vor. Bis auf wenige beschäftigungslose Taxen und dem Schweraufgebot der Polizei rührte sich so gut wie nichts. Wohin man schaute, blendete das Blaulicht der allgegenwärtigen Polizei-Absperrungen. Bis auf den gelegentlich eintretenden Lärm von Sirenen und den peitschenden Regen war am Ende eines erneut furchtbaren Abends nichts mehr zu hören.

Ticker: Alles zum gestrigen Tag in Hannover

Dabei war der Dienstag in Hannover zunächst ruhig gewesen - ganz normal für die auch an lebendigen Tagen eher unaufgeregte Landeshauptstadt Niedersachsens. Nach den schrecklichen Attentaten von Paris, die nach wie vor die Berichterstattung in den deutschen Medien bestimmten, war der Respekt vor unsichtbaren Gefahren zwar spürbar, Anspannung oder Panik konnte man in den Straßen und vor dem Stadion aber nicht ausmachen.

Das massive Polizei- und Sicherheitsaufgebot in der Stadt verstärkte das Bewusstsein einer Ausnahmesituation, jedoch ließ man sich nicht einschüchtern. Viele Vereine und Organisatoren, aber auch Einzelne zeigten sich über den Tag hinweg solidarisch mit den Franzosen.

Nach den vielen Bekundungen der vergangenen Tage war eine leichte Aufbruchstimmung zu spüren - je näher der für 20.45 Uhr geplante Anpfiff des Test-Länderspiels zwischen Deutschland und den Niederlanden rückte, desto zuversichtlicher wurden die Menschen.

Für die "schönste Nebensache der Welt"

Natürlich kam keine Party-Atmosphäre oder überschwängliche Euphorie auf. Auch nicht unmittelbar vor dem Stadion, als Tausende zu den Eingangstoren pilgerten. Man verhielt sich der Situation entsprechend respektvoll, jedoch wirkten die zahlreichen Gruppierungen auf dem Platz vor der HDI-Arena entspannt und auch sorgenfrei.

Denn obwohl der sportliche Wert des Spiels gen Null lief, drängten sich durch die Besonderheit des vergangenen Freitags ganz andere Aspekte in den Vordergrund. Wie verhalten würden Jubel und generelle Stimmung auf den Rängen ausfallen? Welche Solidaritätsmaßnahmen sind geplant? Wie würden die Spieler nach einem Tor reagieren?

Gerade in Sachen Emotion und Gänsehaut hätte die Partie im Vergleich zu anderen Spielen deutlich hervorgestanden. Um die Symbolik zu unterstreichen, plante der Fan Club Nationalmannschaft eine große Choreographie mit dem Schriftzug "Nous Sommes Unis", flankiert vom Friedens-Zeichen und den beiden Länderflaggen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte zudem demonstrativ ihren Besuch angekündigt.

Man war "gewillt, sich nicht die schönste Nebensache der Welt nehmen zu lassen", erklärte ein Fan auf dem Weg in die Arena seinen Entschluss, das Spiel trotz der jüngsten Terror-Attacken zu besuchen. Ein gewisser Trotz war erkennbar, vor allem aber die Stärke der Gemeinschaft. Denn Anfeindungen oder Provokationen gab es bei aller Rivalität zu den niederländischen Nachbarn keine.

Evakuierung aus dem Nichts

Dann jedoch platzte in die Ruhe und Gelassenheit große Besorgnis und alles ging ganz schnell - jedenfalls in den Katakomben und im Medienbereich des Stadions. Denn dort erfuhren die Anwesenden als erste, wie es um den restlichen Abend bestellt war.

Ohne Ankündigung rauschte ein Sicherheitsbeauftragter in den Pressearbeitsraum und gab in unmissverständlichem Ton zu verstehen: "Alle Menschen in diesem Raum verlassen sofort das Stadion." Zeit, die aufgebauten Kamera-Stative abzubauen, blieb keine. Das Stadion wurde evakuiert.

Wenige Sekunden zuvor hatten sich alle noch in Sicherheit gewähnt. Die Vorkehrungen waren schon im großen Umkreis vor der HDI-Arena enorm gewesen. Alle Autos, die sich in die Nähe des Stadions und der umgebenden Parkplätze bewegten, wurden ausgeleuchtet und kontrolliert. Auch an allen Eingängen und Toren der Arena versperrten Polizisten - fast alle mit Maschinengewehren ausgestattet - die Wege, die erst nach Filzung der Kleidung passiert werden durften.

Auf zusätzliches Equipment in Rücksäcken, wie Kameras oder Laptops, wurden Spürhunde angesetzt. Ausnahmslos.

Ruhe anstatt Panik

Hektik kam trotzdem nicht auf - weder im Stadion, noch rundherum, wo die wartenden Zuschauer erst nach und nach von der Spielabsage erfuhren. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer - ein sehr gemächliches Lauffeuer.

Anstatt eines Ausbruchs von Panik nahmen viele Personen die Information sehr ruhig zur Kenntnis. Genaue Hintergründe waren nicht bekannt. Auch offizielle Anweisungen ließen noch einige Minuten auf sich warten. Es war zeitweise ein sehr skurriles Bild: Anstatt zu flüchten, begaben sich viele Menschen weiter an die umliegenden Imbissstände, kauften sich in Ruhe Snacks und Getränke. Vermutlich, weil keine direkte Gefahr zu sehen war.

Erst als einige Momente später die offiziellen Durchsagen aus den Lautsprechern der Polizeibusse schallten, kam etwas Bewegung in die Massen. "Alle Besucherinnen und Besucher werden aufgefordert, unverzüglich die Heimreise anzutreten. Es gibt keinen Grund mehr, sich weiterhin in Stadionnähe aufzuhalten. Der Imbiss-Betrieb ist sofort einzustellen", lautete die Kundgebung. Mit zunehmender Dauer wurden die Ansagen verschärft - man war gewillt, die Flächen um das Stadion schneller zu räumen.

Nationalmannschaft in Sicherheit

Je häufiger sich die Durchsagen, mit strengerer Tonalität, wiederholten, desto bewusster wurde allen noch Anwesenden der Ernst der Lage. Die Menschentrauben ergaben sonst kaum vorstellbare Bilder, in denen plötzlich auch die sonst so unnahbare Prominenz - egal ob sportliche oder politische - inmitten der vielen "Normalbürger" zu ihren Autos und in Richtung der öffentlichen Verkehrsmittel floh.

Währenddessen war die Nationalmannschaft bereits in Sicherheit. DFB-Pressesprecher Jens Grittner teilte über Twitter mit: "Sind auf dem Weg ins Stadion von der Polizei umgeleitet worden und an sicherem Ort. Mehr können wir derzeit nicht sagen, bitte um Verständnis." Auch Angela Merkel war zu keinem Zeitpunkt im Stadion gewesen.

Auf den Straßen dagegen spielten sich längst Szenen ab, die dem deutschen Bundesbürger sonst glücklicherweise sehr fremd sind. Zu Dutzenden rasten Polizei- und Sicherheitsfahrzeuge mit Blaulicht und Sirenen durch die Stadt, die Anspannung war förmlich zu greifen. Sie gipfelte vor dem Gebäude des niedersächsischen Innenministeriums.

Kompromisslosigkeit vor dem Innenministerium

Als die Meldung die Runde machte, dass Bundesinnenminister Thomas De Maiziere, Boris Pistorius (Innenminister Niedersachsen) und Ligapräsident Reinhard Rauball dort eine Pressekonferenz abhalten würden, fanden sich schnell zahlreiche Medienvertreter vor dem Gebäude ein.

Es entwickelte sich eine absonderliche Situation: Die wartenden Journalisten standen - im strömenden Regen - vis-a-vis mit mehreren schwer bewaffneten Polizisten, die das Innenministerium absicherten - wenige Zentimeter weiter im Trockenen. Dass dabei keine Kompromisse gemacht wurden, konnte jeder nachvollziehen.

An der PK durften nur streng kontrollierte Kollegen teilnehmen. Einer sprach davon, erstmals verstanden zu haben, "was es heißt, auseinander genommen zu werden". Es waren diese ausführlichen, zeitraubenden Kontrollen, die dazu führten, dass sich der Beginn der Pressekonferenz um etwa 45 Minuten verspätete.

"Eine andere Wende gegeben"

Die Veranstaltung selbst sollte Antworten liefern. Viel war bereits spekuliert worden, Gerüchte über Festnahmen und Sprengkörper hatten längst die Runde gemacht. Die Atmosphäre im Raum war dermaßen packend, man hätte vermuten können, dass bereits Schlimmeres passiert sei.

De Maiziere wich zwar der Frage nach den genauen Hinweisen und Gründen für die Absage aus. Dann antwortete er doch - und seine Worte ("Ein Teil der Antworten würde die Bevölkerung verunsichern") verbreiteten ungewollt Angst. Sprengkörper seien zwar keine gefunden worden, so Pistorius, und man wolle die Lebensweise nicht ändern, ergänzte De Maiziere. Doch allen war klar: "Dieser Abend hat dem Fußball in Deutschland in vielen Facetten eine andere Wende gegeben", brachte es Rauball auf den Punkt.

Zwar richte sich der Terror nicht nur gegen den Fußball, jedoch warf man die Frage auf, inwiefern zukünftige Veranstaltungen, wie zum Beispiel Bundesliga-Spiele, nicht auch von der Thematik betroffen sein. Es ist erst der Anfang einer womöglich lange andauernden Diskussion.

Der Abend hätte anders verlaufen sollen. In jeglicher Hinsicht. Knapp zwei Stunden vor der eigentlichen Anstoßzeit hatten sich am Neuen Rathaus, das in den französischen Nationalfarben angestrahlt war, dutzende Menschen in Gedenken an die Opfer von Paris versammelt. Mit Kerzen und Musik drückten sie ihre Trauer aus, ehe sie in einem gemeinsamen Marsch zum Stadion aufbrachen. Dort stellten sie sich in Form eines großen Friedens-Zeichens auf. Ein Symbol, das an diesem Abend leider nicht lange genug strahlte.

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