Das neue, ungute Gefühl

Frank Oschwald
16. November 201614:50
Die deutsche Nationalmannschaft schied im EM-Halbfinale ausgetty
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Deutschland präsentierte sich in diesem Jahr gefestigt wie selten und dominiert die EM. Dennoch steht die Löw-Elf am Ende mit leeren Händen da. Ein Gefühl, dass das Team so noch nicht kannte. Bei der WM 2018 soll ein Deja-vu tunlichst vermieden werden. Dafür werden derzeit sämtliche Weichen gestellt. Ein Fazit des DFB-Länderspieljahres 2016.

Sportliches Fazit: Die Krönung bleibt aus

Beim kurzen Blick auf die Zahlen sieht das Jahr 2016 für den DFB durchaus erfolgreich aus. Insgesamt 16 Spiele absolvierte die Löw-Elf, alleine elf Mal hieß der Sieger der Partie am Ende Deutschland. Neben den zwei Unentschieden gab es zudem lediglich drei Pleiten: Zum Jahresauftakt gegen England (2:3), bei der Wasserschlacht gegen die Slowakei (1:3) und jenes bittere EM-Spiel am 7. Juli im Stade Velodrome in Marseille (0:2). Die ersten beiden Spiele waren Testspiele, in der teilweise experimentiert wurde oder unter regelwidrigen Bedingungen gespielt wurde. Doch vor allem die Pleite im EM-Halbfinale verhagelt die komplette Jahresstatistik.

Die deutsche Mannschaft erspielte sich gegen Gastgeber Frankreich ein deutliches Übergewicht, einzig der Ball wollte nicht über die Linie. Trotz der aus deutscher Sicht beeindruckenden Dominanz stand am Ende das Aus. Ein Gefühl, das die Mannschaft bisher so nicht kannte. "Wir hatten nicht das notwendige Glück. Als wir 2010 und 2012 ausgeschieden sind, hatten uns die Mannschaften etwas voraus. Heute hatten wir den Franzosen etwas voraus", erklärte der Bundestrainer Joachim Löw.

Von sämtlichen Seiten war deshalb von einem "sehr guten", aber eben nicht von einem "perfekten" Jahr die Rede. "Im Fußball steht das Ergebnis über allem. Dementsprechend können wir nicht hundertprozentig zufrieden sein. Es war gemessen an den Erfolgen kein toller Sommer", sagte auch Thomas Müller zum Abschluss des Länderspieljahres.

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Der Stachel nach dem verlorenen Halbfinale saß vor allem beim Bundestrainer tief. "Massiv enttäuscht" sei er gewesen. Deshalb zog sich der 56-Jährige nach dem Turnier komplett aus der Öffentlichkeit zurück und versuchte, die Akkus wieder aufzuladen. Als er zum ersten WM-Quali-Spiel in Norwegen wieder auftauchte, wirkte alles noch unausgegoren. Das Turnier wurde taktisch und spielerisch noch nicht analysiert, sodass Löw zugeben musste, dass das Team "ein bisschen aus der kalten Hose" spiele.

Dennoch hob er den Zeigefinger und setzte seine Mannschaft unter Druck: "Dieses Mal möchte ich nicht so eine durchwachsene Quali haben, wie es die letzte vielleicht war. Unsere Erwartungen sind klar an die Mannschaft gerichtet". Das Team lieferte. Denn anders als nach dem WM-Sieg 2014 blieb der deutsche Turnierkater komplett aus. Damals hatte Deutschland nach drei Spieltagen lediglich magere vier Punkte auf dem Konto. In der Quali zur WM 2016 pflügt sie derzeit in erfrischend dominanter Manier durch die Gruppe: vier Spiele, vier Siege, ein Torverhältnis von 16:0.

Auch bei noch sechs offenen Partien ist den Deutschen der Gruppensieg eigentlich nicht mehr zu nehmen. "Vor allem der Start nach der EM macht unglaublich Freude. Es war ein neuer Zug drin", erklärte Mats Hummels den Erfolg. Diese Überlegenheit bringt enorme Vorteile mit sich. Löw kann ohne Druck neue Systeme und junge Talente testen. Denn beim DFB sind bereits jetzt alle Augen auf die Titelverteidigung gerichtet.

Personal: Das Gerüst für Russland steht

Die zumindest auf dem Papier wichtigste Personalie wurde im Herbst des Jahres geklärt: Joachim Löw setzte seine Unterschrift unter einen Vertrag bis 2020 und klärte frühzeitig seine Zukunft. So umgeht der Bundestrainer nervige und störende Fragen um seine Zukunft vor der WM. Ein Vertrauensbeweis von beiden Seiten, mehr aber auch nicht.

Für seine Amtszeit schrieb sich der Bundestrainer eine klare Aufgabe auf die Fahne: "Vermehrt" wolle er junge Spieler mit Perspektive heranführen und in der A-Nationalmannschaft testen. 2016 gelang das gut. Insgesamt 38 Spieler trugen in diesem Jahr das Nationaldress. "Zu Beginn meiner Amtszeit hatten wir nicht diese Auswahl. Die Spieler hatten damals in ihren Vereinen keinen Stammplatz", freute sich Löw.

Natürlich kommt es dem Bundestrainer entgegen, dass die WM-Qualifikation bereits nach vier Spielen kaum mehr zu nehmen ist. Es geht in erster Linie darum, dass auch der zweite Anzug hinter der Stammelf sitzt und kein Vakuum entsteht. Klar, bis zur WM 2018 ist es noch weit, doch es ist unwahrscheinlich, dass die jungen Spieler flächendeckend am Thron der Etablierten kratzen können. Dazu scheint die aktuelle Mannschaft um Hummels, Boateng, Özil und Co. schlicht zu gut und zu eingespielt. Das Gerüst an Spielern, das in Russland den Titel holen soll, steht bereits.

"Ich glaube tatsächlich, dass dieser Stamm aus 15, 16 Spielern aktuell eine sehr tragende Rolle spielt. Die großen, wirklich wichtigen Spiele werden erst einmal mit diesem Personal ausgefüllt. Bis 2018 wollen wir in der Breite so gut sein, dass wir zwei Top-Mannschaften auf den Platz stellen können", sagte Hummels zuletzt entschieden.

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Somit will der DFB eine Situation wie bei der EM 2016 umgehen. Denn sowohl in der heißen Phase der Vorbereitung (Reus, Gündogan, Rüdiger) als auch während des Turniers (Khedira, Gomez, Boateng) warfen zahlreiche Verletzungen die komplette Mannschaft immer wieder zurück. Damals konnte das Team hinter dem Team die Verluste nicht kompensieren.

Von einem Umbruch kann deshalb trotz der vielen jungen Spieler nicht gesprochen werden. Es ist vielmehr ein natürliches Nachrücken der Talente, die früher oder später die Etablierten ersetzen werden. So interessant macht diesen Trend wohl nur die Tatsache, dass Deutschland einen scheinbar unerschöpflichen Talentpool besitzt. Das hat sich der DFB in den letzten Jahren hart erarbeitet und erntet dafür nun die Lorbeeren.

So trieft beispielsweise die Auswechslung von Bastian Schweinsteiger in seinem Abschiedsspiel gegen Finnland vor Symbolkraft. Denn an keiner Personalie lässt sich die Entwicklung des DFB in den letzten Jahren so schön festmachen. 2004 feierte der Mittelfeldspieler sein Debüt im Nationaldress. Während heutzutage eine Bande Hochbegabter über den Platz tänzelt, regierte damals noch der Rumpelfußball. Der 32-Jährige verließ das Feld und übergab den Staffelstab an den 21-jährigen Julian Weigl. Eine Wachablösung.

Ein schier unlösbares Rätsel knackte Löw in diesem Jahr ebenfalls: Auf den Außenpositionen in der Viererkette herrschte eine Konstanz wie lange nicht. Während der Bundestrainer in den letzten Jahren stets experimentierte, entwickelte sich vor allem Jonas Hector links hinten zum absoluten Dauerbrenner. Bis auf das Testspiel gegen Italien verpasste der Kölner kein Spiel in der Nationalmannschaft. Auch auf der Gegenseite spielte sich Joshua Kimmich bei der EM in der Startelf fest.

Baustellen: Killerinstinkt und Flexibilität

Direkt bei Löws erstem Auftritt nach der Europameisterschaft erklärte er überraschend offen, an welchen Dingen es bei der Nationalmannschaft zuletzt hakte. "Diese EM hat keine Revolution gebracht, von daher glaube ich, dass wir jetzt zwei zentrale Themen in der Mannschaft haben: schnelleres Umschalten und die Chancenverwertung", erklärte der Bundestrainer. Beide Themen sollen gezielt ins Training eingebunden werden.

Speziell die EM zeigte klar, dass die Durchschlagskraft im letzten Angriffsdrittel fehlte. Das führte dazu, dass die spielstärkste Mannschaft des Turniers um ihren eigentlich verdienten Erfolg gebracht wurde. "Wir hatten eine schlechte Chancenauswertung", so der Bundestrainer weiter. Ein altes Problem, das in Frankreich wieder an die Oberfläche gespült wurde. Lediglich sieben Tore erzielte das DFB-Team in den sechs Turnierspielen. Obwohl gute Chancen hier und da sehenswert herausgespielt wurden, ließ die Mannschaft diese häufig liegen. Man sei "nicht mehr so tödlich" wie man schon mal war, so Löw.

Eine richtige Lösung für dieses Problem ist immer noch nicht gefunden. In der WM-Quali läuft es derzeit zwar wieder gut, doch diese Gegner sind weit entfernt von Topniveau. Sobald das deutsche Team auf eine organisierte Defensive trifft, hat sie Probleme. Gegen Polen, Italien und Frankreich gab es keinen Sieg in der regulären Spielzeit. Böse Zungen behaupten gar, dass das DFB-Team in diesem Jahr gegen überhaupt kein Spitzenteam unter Wettkampfbedingungen gewann.

SPOXspoxMario Gomez war sicherlich einer der (wenigen) Gewinner der Europameisterschaft. Sein Spielstil war unter Löw bereits aus der Mode gekommen. Mit einer falschen Neun sollte alles spielerisch gelöst werden. Der Brecher Gomez passte nicht in dieses System. In Frankreich setzte Löw jedoch wieder vermehrt auf den Wolfsburger, der immer wieder Abwehrspieler auf sich zog und somit Räume schuf. "Gegen tief stehende Mannschaften brauchst du Mittelstürmer, die Präsenz im Sechszehner haben. Mario tut das sehr gut", analysierte Hummels. Es wird eine der zentralen Aufgaben Löws, für die mangelnde Durchschlagskraft eine Lösung zu präsentieren.

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Einen ersten Schritt hat der Bundestrainer dazu bereits gemacht. Er rückte ab von seinem starren Systemdenken und experimentierte in der letzten Zeit immer wieder mit unterschiedlichen Formationen. Bei der EM gegen Italien setzte er beispielsweise auf eine Dreierkette, zum Abschluss des Jahres - wieder gegen Italien - lief sein Team gar in einem etwas ungewöhnlichen 3-4-2-1 auf. "Es ist nicht entscheidend, ob wir mit Dreier- oder Viererkette spielen. Das wird in den nächsten zwei Jahren vielleicht auch variabel sein. Ich finde es gut, dass wir da mehrere Möglichkeiten haben", so Löw.

Abgesehen von den altbekannten Problemen im Sturm braucht die Mannschaft die ganz große Weiterentwicklung gar nicht mehr. Denn selten fand man schon so früh in einer Qualifikation eine so gefestigte Mannschaft vor. Vielmehr müssen hier und da winzige Stellschrauben nachgezogen und eventuell an den Gegner angepasst werden. "Unser Weg ist sehr gut. Wir sind in der Art, wie wir Fußball spielen, weltweit führend", sagte der Bundestrainer.

Vor allem die Defensive, eine langjährige Problemzone, ist inzwischen das Prunkstück der Mannschaft. Hummels und Boateng ergänzen sich immer besser, weltweit sucht mal wohl vergebens nach einem besseren Duo. Auch davor hat der DFB mit Gündogan, Kroos und Khedira drei Spieler auf Weltklasse-Niveau. Dieses kompakte Defensivmonster führte dazu, dass Deutschland in elf von 16 Spielen die weiße Weste behielt.

Die Richtung des DFB stimmt. Aufgrund der günstigen Lage in der WM-Quali sind bereits jetzt alle Augen auf die Titelverteidigung gerichtet. In Russland soll verhindert werden, was man dieses Jahr erlebte: Erdrückende Dominanz ohne Ertrag.

Italien - Deutschland: Daten zum Spiel