Die einen können gar nicht schnell genug ihren Rollkoffer durch die Mixed Zone im Untergeschoss des Kölner Stadions ziehen. Auto steht bereit, Bus steht bereit, muss den Flieger erwischen. Schnell weg, bloß nicht aufhalten lassen. Andere haben es nicht ganz so eilig, etwa weil sie um die Ecke wohnen. Wie Lars Stindl.
Der steht eine Stunde nach seinem Last-Minute-Ausgleich beim 2:2 im Test gegen Frankreich geduldig bei den Journalisten und beantwortet ihre Fragen. Obgleich er zuvor vor den TV-Kameras schon ein gefragter Gesprächspartner war, nimmt er sich die Zeit.
Einer, der es etwas eiliger hat, sorgt für einen humorvollen Moment. Sandro Wagner huscht schnellen Schrittes an seinem Teamkollegen vorbei, logischerweise den Rollkoffer hinter sich herziehend, geht kurz in die Knie und ruft mit verstellter Stimme "Matchwinner! Matchwinner!" Kurzer Blickkontakt, ein paar nette Grüße, dann verschwindet Wagner in der Türe und Stindl redet weiter.
Nun, ein Erbsenzähler könnte sagen, Wagner habe Unrecht. Immerhin war Stindl de facto kein Matchwinner - das Spiel wurde ja nicht gewonnen. Irgendwie fühlt sich ein Unentschieden in letzter Sekunde aber immer ein bisschen danach an, als habe man gewonnen.
Frankreich-Test bringt mehr Erkenntnisse als England
Die Partie gegen Frankreich war der drittletzte Test auf allerhöchstem Niveau vor der WM 2018 in Russland gegen einen der großen Favoriten (gegen die beiden anderen Favoriten Spanien und Brasilien testet Deutschland im März).
Und während das 0:0 am Freitag in Wembley gegen die englische B-Mannschaft eher ein Muster ohne Wert war, brachte das 2:2 gegen die Equipe Tricolore einige Erkenntnisse.
Allen voran zeigte sich die größte Errungenschaft für Bundestrainer Joachim Löw im nun beendeten Länderspieljahr. "Wir haben mittlerweile sehr viele Optionen", sagte Toni Kroos über die Möglichkeiten, die der gewachsene Spielerpool bietet. Dass beispielsweise Stindl oder eben Wagner nun fester Bestandteil des Teams sind und für entscheidende Momente da sein, also auch "Matchwinner" sein können, hat sich vor einem halben Jahr noch nicht abgezeichnet. Beide debütierten erst im Juni für das DFB-Team, wirken jedoch wie langjährige integrale Bestandteile des Teams.
Werner, Stindl und Wagner geben Optionen für den Sturm
Selbiges gilt für Timo Werner, der in den letzten sieben Länderspielen sieben Tore erzielte. Wie aus dem Nichts hat das DFB-Team auf der Problemposition im Sturm auf einmal wieder Alternativen, Optionen.
Diese sind auch im Mittelfeld zu Genüge vorhanden, erst recht durch die Comebacks von Ilkay Gündogan und Mario Götze. Auf Sicht werden auch noch Spieler wie Julian Weigl, Leon Goretzka und Marco Reus wieder eine Rolle spielen.
Gegen Frankreich bot Löw ein 4-2-3-1 auf, das sich nach Bedarf zu einem 4-3-3 mit Khedira auf der Sechs und Kroos plus Özil oder Gündogan auf den Halbpositionen formierte. Weiterhin eine Option, nachdem in diesem Jahr auch die Dreierkette immer salonfähiger wurde.
Erfolgreiche Qualifikation, okaye Testspiele, Confed-Cup-Titel
Systematisch und personell ist eine große Breite vorhanden. Eine Breite, die ein erfolgreiches Jahr garantierte: keine Niederlage, eine souveräne WM-Qualifikation, okaye Testspiele, der Sieg beim Confed Cup mit einer vermeintlich zweiten Garde und die ersten Schritte einer erfolgreichen Zusammenführung der Weltmeister- mit der Confed-Cup-Sieger-Truppe.
"Mit dem Jahr können wir hochzufrieden sein", resümierte Löw deshalb nach dem Frankreich-Spiel: "Es war sehr erfolgreich. Ich bin nach diesem Jahr völlig entspannt und habe keine schlaflosen Nächte."
Schlaflose Nächte muss der Bundestrainer nach dem Jahresabschluss wahrlich nicht haben. Und doch haben die Tests gegen England und vor allem Frankreich noch einmal offengelegt, wo die Baustellen für das WM-Jahr liegen.
Deutschland wird nicht nach Belieben dominieren
Ja, Deutschland ist 2017 ungeschlagen geblieben. Ja, Deutschland ist Weltmeister und Confed-Cup-Sieger. Ja, Deutschland hat einen riesigen Pool an starken Spielern. Und doch wird das Team nicht über Jahre hinaus unschlagbar sein und alle Gegner nach Belieben dominieren. Schon gar nicht die Mitfavoriten.
Gegen Frankreich fiel dem DFB-Team streckenweise das hohe Tempo vor die Füße. "Es war schon mit Bayern in Paris schwierig", ordnete Niklas Süle die zwischenzeitlich großen Probleme der deutschen Defensive in der Mixed Zone ein: "Wir wussten, was auf uns zukommt. Wir haben gegen einen sehr, sehr guten Gegner gespielt, der mit uns und Brasilien der Topfavorit auf die WM ist."
In der defensiven Abstimmung und in der Idee gegen das temporeiche Umschaltspiel zeigten sich große Probleme. Ein Nachteil der fehlenden Eingespieltheit bei Ausschöpfung der immer größer werdenden Optionen. Für Löw jedoch völlig normal: "Natürlich sind wir noch nicht komplett eingespielt. Auch nach diesem überragenden Jahr müssen sich die Automatismen weiter einspielen. Wir müssen die Räume, die man für eine kurze Phase zur Verfügung hat, nutzen. Zudem ist die Feinabstimmung wichtig sowie die Organisation und die Kompaktheit in der Defensive. Wenn wir ins Trainingslager gehen, können wir noch einige Dinge einspielen. Ich mache mir natürlich Gedanken, aber keine Sorgen."
Außenverteidiger-Optionen rar gesät
Darüber hinaus haben die Spiele gegen England und Frankreich gezeigt, dass die Außenverteidiger-Position nach wie vor eine Baustelle ist. Zumindest wenn die 1a-Lösungen Joshua Kimmich und Jonas Hector nicht zur Verfügung stehen oder geschont werden. Links wussten Marcel Halstenberg und Marvin Plattenhardt nur eingeschränkt zu überzeugen, rechts machte Kimmich-Ersatz Emre Can ein sehr durchwachsenes Spiel.
Auf den defensiven Außen sind die Alternativen mittlerweile zwar gegeben, sind jedoch beiweitem nicht gleichwertig zum ersten Anzug.
Allen erhobenen Zeigefingern zum Trotz fiel das Fazit letztlich positiv aus: "Das Ergebnis hat nicht die absolute Priorität. Es ist aber gut, dass man das Gefühl hat, dass man immer wieder zurückkommen kann", analysierte Löw. Ein gefühlter Sieg dank des späten Ausgleichstreffers durch einen, den vor einem halben Jahr nur wenige zum Kreis der wahrscheinlich WM-Fahrer gezählt hätten. Durch einen, der sinnbildlich für die Errungenschaft des DFB-Teams im Jahr 2017 steht.
WM-Auslosung am 1. Dezember
Ein wichtiger Termin steht für den Nationalmannschaftstross in diesem Jahr noch an: die Auslosung zur WM am 1. Dezember. Mit Spanien als möglichem Gegner: "Wir nehmen es, wie es kommt", sagte Comebacker Götze beinahe mantraartig: "Aber ich gebe zu, Spanien wäre ein Brett in der Gruppe."
Löw blickt der Zeremonie eher pragmatisch entgegen: "Danach kann man sich gezielter auf die Gegner vorbereiten und entscheiden, welches Camp von den zwei Optionen wir nehmen."
Optionen. Das DFB-Wort 2017. Und in vielerlei Hinsicht die größte Errungenschaft.