Plötzlich bellte im Büro von Massimo Moratti das Telefon. Der Inter-Patron hatte einen 17-jährigen Jungen vor sich sitzen, ganz blass und aufgeregt vor der wichtigsten Unterschrift seines jungen Lebens. Moratti war verärgert über die Störung, aber er nahm den Hörer ab.
Urbano Cairo war am anderen Ende der Leitung. Cairo, Chef der größten Werbeagentur Italiens und ehemaliger Vertrauter von Silvio Berlusconi, war drauf und dran, den AC Turin übernommen.
Torino war gerade erst zwangsweise abgestiegen und Cairo wollte in dem ganzen Chaos im Piemont einen Neuanfang wagen. Und dafür brauchte er den Jungen.
Torino musste verkaufen
Nur saß dieser bereits in Mailand und hatte einen Kugelschreiber in der Hand. Ein Fünfjahresvertrag lag vor ihm auf dem Tisch, der Deal schon fast in trockenen Tüchern. Und trotzdem bettelte Cairo Moratti an, sich die Sache doch noch einmal zu überlegen.
Robert Acquafresca, in einem kleinen Dörfchen vor den Toren Turins als Sohn eines Italieners und einer Polin geboren, war das letzte an Tafelsilber, das Torino aus seiner geschrumpften Konkursmasse noch geblieben war.
Doch die extrem hohen Schulden und der Zwangsabstieg ließen dem Verein keine andere Wahl, als seinen Besten ziehen zu lassen. Jetzt erbat Cairo noch ein paar Tage Aufschub. Erfolglos. Moratti blieb hart und ein paar Minuten später unterschrieb Acquafresca das Papier.
Nicht ein Spiel für Inter
Vier Jahre ist die kleine Episode nun her. Vier Jahre lang gehörte Acquafresca den Nerazzurri - und vier Jahre lang bestritt er nicht ein einziges Spiel im Trikot der Internazionale.
Dabei ist Acquafresca der beste Nachwuchsstürmer, den das Land des Weltmeisters sein Eigen nennt. Momentan beweist er das eindrucksvoll bei der U-21-EM in Schweden. Wenn die deutsche Mannschaft im Halbfinale (Fr., 20.30 im LIVE-TICKER). auf den ewigen Rivalen trifft, dann ist der 21-Jährige eine latente Bedrohung für die Finalträume der DFB-Elf.
Drei Tore hat er im Endturnier schon erzielt, ist damit in der Torjägerliste hinter Schwedens Marcus Berg Zweiter. Bereits in der Qualifikation zur EM war er mit fünf Treffern bester Torschütze der Mannschaft von Coach Pierluigi Casiraghi, der gegen Deutschland in Claudio Marchiso (Gelb-Sperre) und Paolo De Ceglie (Knöchelverletzung) die beiden wichtigsten defensiven Mittelfeldspieler fehlen werden.
Verwirrung um seine Zukunft
Dabei hatte Robert Acquafresca, den alle Welt nur Bobo nennt, enorme Anlaufschwierigkeiten im Turnier. Er wollte weg von Inter, sein Vagabundenleben beenden, endlich sesshaft werden und bei einem anderen Verein seine Karriere weiter vorantreiben.
Eine eigenartige Viererkonstellation raubte ihm den Schlaf. Da war sein Besitzer Inter, sein momentaner Arbeitgeber Cagliari Calcio, sein neuer Wunschverein FC Genau und Atalanta Bergamo im Hintergrund. Die Klubs wollten sich nicht einigen, Acquafresca hing wochenlang völlig in der Luft. Die Parallele zu Marko Marin war verblüffend.
Die ganze Geschichte wurde am Ende so heikel, dass sich seine Berater sogar im Mannschaftsquartier der Italiener in Helsingborg eine Etage über ihm einnisteten, um ihrem Klienten auch ja alle paar Minuten den aktuellsten Stand der Verhandlungen ins Ohr zu säuseln.
Nach Bergamo - wie Pippo
Erst vor dem zweiten Gruppenspiel gegen den Gastgeber war Acquafrescas Zukunft geklärt. Ein Konstrukt, so chaotisch wie der Feierabendverkehr in Neapel: Sein letzter Arbeitgeber Cagliari, an den er von Inter ausgeliehen war, ist komplett raus. Über eine Klausel von Inter, ihn zu späterer Zeit doch wieder zurückkaufen zu können, wird gemunkelt. De facto gehört er kurz Genua, die ihn aber Stunden später schon wieder weiter nach Bergamo verliehen.
Bergamo also. Die Talentschmiede schlechthin in Italien. Nicht das schlechteste Pflaster. Dachte sich wohl auch Acquafresca und netzte sofort zum vorentscheidenden 2:0 gegen die Schweden ein. Im letzten Gruppenspiel gegen Weißrussland besorgte er beide Tore zum Halbfinaleinzug der Azzurrini, der kleinen Squadra Azzurra.
In Bergamo startete auch sein großes Vorbild einst erst so richtig durch. Von der Lombardei aus katapultierte sich Filipo Inzaghi nach zuvor fünf Stationen in fünf Jahren zu Juventus Turin und einige Jahre später zum AC Milan.
Ein Ebenbild Inzaghis
Viele Beobachter rieben sich bei der EM schon verwundert die Augen. Die schlaksige Gestalt.Die langen schwarzen Harre, das hagere Gesicht. Die Gestik, die Mimik, der Bewegungsablauf. Robert Acquafresca ist seinem Idol so ähnlich, dass es diesem bisweilen ganz unheimlich wird.
"Er erinnert mich an meine frühen Jahre. Er hat auch diesen Hunger nach Toren", sagt Super Pippo über Bobo. Und tatsächlich ist auch Acquafrescas Spiel wie das von Inzaghi. Er hat keinen harten Schuss, keinen schnellen Antritt, kein perfektes Kopfballspiel. Aber hat die Essenz des Fußballs in sich: Er schießt Tore. Mit allen Körperteilen, einfach nur rein damit.
Eitel, wenn's um Fußball geht
89 Minuten oder länger lungert Acquafresca mehr oder weniger teilnahmslos und vermeintlich gut behütet von gegnerischen Abwehrreihen herum, im Spiel an der Grenze zum Abseits, im Zweikampf an der Grenze des Erlaubten. Und plötzlich ist er da. "Es gibt nur wenige Spieler, die so abschlussstark sind wie er", lobt ihn sein Mitspieler in der U 21, Luca Cigarini.
Und er ist eitel, wenn's um Fußball geht. Mindestens so eitel wie Inzaghi, der alle seine Tore auf seinem iPod mit sich herumträgt und im Cafe einfach mal seine größten Hits abspielt. Nur so, um sich noch einmal daran zu erinnern, wie gut er doch ist. Acquafresca hat seine Treffer zu Hause auf DVD. "Ich bin so torverrückt wie Pippo. Ich zähle und erinnere mich an jedes einzelne Tor."
Ansonsten ist er ein bodenständiger Junge geblieben, bis vor einem Jahr fuhr er trotz einiger Milliönchen auf dem Konto immer noch seinen ersten Lancia Y.
Serie B statt Champions League
Nur eine Sache hat ihn tief gekränkt: Dass er bei Inter nie eine faire Chance bekommen hat. "Ich hoffe, dass die Vereine nach unseren tollen Leistungen hier bei der EM uns mehr Einsatzzeiten und Vertrauen entgegenbringen. Barcelona zum Beispiel setzt voll auf seine Jugend. In meinem Fall hat Inter mich sofort weggeschickt und ich habe mich von unten nach oben gearbeitet."
Es klingt ein wenig Wehmut mit. Schließlich standen schon Manchester United und der FC Chelsea vor seiner Tür, da war er gerade erst 16 Jahre alt. Zwei Jahre später fand er sich dann als Inters Leihspieler beim FBC Treviso in der Serie B wieder.
Jetzt hat er sich aber längst wieder in die Notizblöcke der großen europäischen Klubs geschossen. Bei seinem alten Klub wird man bei jedem weiteren Treffer während der Endrunde zusammenzucken.
Vor ein paar Monaten hatte sich Inter-Coach Jose Mourinho noch lobend über Acquafresca geäußert. "Er gefällt mir. Er bewegt sich sehr gut im Strafraum und obwohl er kein Riese ist, hält er auch körperlich gut dagegen."
Der Weiterverkauf nach Genua stand da aber bereits fest. Signore Moratti hatte den Daumen längst gesenkt. Wie damals bei Urbano Cairos Anruf. Es gibt eben nur einen, der über das Schicksal von Inter Mailand und seine Angestellten entscheidet.