Esteban Granero war irgendwie fehl am Platz. Wie der unbeliebte dicke Onkel zweiten Grades, der sich aufs Hochzeitsfoto drängelt, grinste Granero mit schrägem Kopf von der Seite in die iPhone-Kamera von Sergio Ramos, der gerade Iker Casillas filmte. Real Madrid hatte soeben in Bilbao den 32. Meistertitel klar gemacht und in der Kabine gebührend gefeiert.
Für Kapitän Casillas war es bereits der fünfte Meistertitel, entsprechend dominant hielt er seine linke Hand mit gespreizten Fingern in Ramos' Kamera.
Seit vielen Jahren ist Casillas der Chef der Königlichen auf dem Platz, er ist doppelter Champions-League-Sieger, Welt- und Europameister und wurde von 2008 bis 2011 als erster Torhüter überhaupt vier Mal in Folge zum Welttorhüter gewählt. Kein anderer Torhüter in der Weltspitze hält seit Jahren so konstant wie der 30-Jährige aus dem Madrider Arbeitervorort Mostoles.
Schmeichel riet Ferguson: Hol' den Neuer!
Es gibt aber einen, der Casillas verdammt nahe gekommen ist und für viele Experten schon eine Stufe über dem Spanier steht: Manuel Neuer. "Neuer ist sensationell. Er hat Casillas als besten Torhüter der Welt abgelöst", sagte Torwart-Legende Peter Schmeichel im Interview mit SPOX.
Zum ersten Mal nachhaltig aufgefallen ist Neuer Schmeichel in den beiden CL-Halbfinals des FC Schalke 04 2011 gegen Manchester United. "Ich habe Sir Alex Ferguson sofort angerufen und ihm gesagt: 'Hol' den Neuer!'", so Schmeichel.
Ferguson wäre dem Rat seines Ex-Spielers gerne nachgekommen; der United-Coach hatte eine ähnlich hohe Meinung von Neuer. "Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so eine exzellente Torhüterleistung gesehen wie die von Neuer gegen uns", sagte Ferguson.
Allerdings hatte zu diesem Zeitpunkt der FC Bayern München das Ringen um Neuer schon längst für sich entschieden und damit in den Augen einer Ultra-Gruppierung der Bayern frevelhaft und blasphemisch gehandelt.
Neuer war als Schalke-Urgestein ein Hassobjekt für die Ultras, seinen Jubel mit der Eckfahne nach dem Schalker Sieg 2009 in München empfanden sie als widerwärtigen Affront gegen Oliver Kahn, der nach dem Meistertitel 2001 den Eckfahnenjubel salonfähig gemacht hatte.
Ruhe und Klarheit im Geist
Als Neuer im März 2011 im DFB-Pokalhalbfinale sein letztes Spiel für Schalke in München machte, konnten ihm die Anfeindungen von Teilen der Südkurve nichts anhaben, die Plakataktion ("Koan Neuer") ließ er weitgehend unkommentiert. Selbst die maßlos unappetitliche Begrüßung bei seiner Rückkehr auf Schalke im September 2011, brachte Neuer nicht aus dem Gleichgewicht.
"Ich wusste, was mich erwarten wird und habe erwartet, dass ich so empfangen werde. Wenn man sich richtig darauf einstellt und es vorher weiß, geht das da rein und da raus", sagte Neuer damals.
Neuer besitzt eine unerschütterliche Ruhe und Klarheit im Geist, die ihm in seiner sportlichen Karriere und auch in anderen Situationen schon manches Mal geholfen hat. Bei einer Promi-Ausgabe von "Wer wird Millionär" gewann er 500.000 Euro für seine Stiftung "Manuel Neuer Kids Foundation", die Kindern im Ruhrgebiet hilft.
Auch der denkbar ungünstige Auftakt als Bayernspieler brachte Neuer nicht aus dem Konzept. Gleich im ersten Bundesligaspiel gegen Borussia Mönchengladbach patzte er beim entscheidenden Gegentreffer zum 0:1. Im Anschluss legten die Münchner eine Serie von wettbewerbsübergreifend zehn Spielen ohne Gegentor hin.
Zweiter Patzer gegen Gladbach
Die Mannschaft funktionierte im Spätsommer 2011 nahezu perfekt, sodass Neuer kaum einmal die Gelegenheit bekam, sich auszuzeichnen. "Ich dürfte mich eigentlich nicht beschweren, dass ich so wenig aufs Tor bekomme. Aber für einen Torhüter ist es natürlich auch wichtig, sich ab und zu mal auszeichnen zu können", sagte Neuer damals.
Sein ersten Sieg bringenden Big Safe machte er erst am 6. November beim 2:1 der Bayern in Augsburg, als er eine Großchance von Edmond Kapllani kurz vor Schluss mit einem klasse Reflex entschärfte. "Heute hat Manuel Neuer die erste Million seiner Ablösesumme zurückgezahlt", sagte Präsident Uli Hoeneß nach dem Spiel.
Neuer absolvierte ein solides erstes Halbjahr beim FC Bayern, die Mannschaft wurde mit drei Punkten Vorsprung Herbstmeister. Die Rückrunde begann jedoch wie die Hinrunde - mit einem folgenschweren Patzer gegen Borussia Mönchengladbach. Die Bayern verloren 1:3, Neuer verschuldete den Führungstreffer von Marco Reus.
Relativ spät in der Saison bekam Neuer dann endlich mehrere Gelegenheiten, seiner Mannschaft siegbringende Hilfestellung zu geben und das auch noch in Statement-Games. Die Bayern verdanken ihrem Torhüter die zwei anstehenden Finals.
Im DFB-Pokal-Halbfinale in Mönchengladbach und in den beiden CL-Halbfinals gegen Real Madrid spielte Neuer insgesamt 330 Minuten fehlerfrei und war in den jeweiligen Shootouts vom Elfmeterpunkt der gefeierte Held. Bei den gerhaltenen Elfmetern im Bernabeu von Ronaldo und Kaka bewies er seine Extraklasse.
"Er war einfach überragend gut. Seine Ausstrahlung im Tor ist sensationell. Da hat man das Gefühl gehabt, das Tor ist völlig klein, so groß hat er sich gemacht", lobte Bundestrainer Joachim Löw.
Annäherung zu den Fans
Nach dem glücklichen Ende in Madrid gab es sogar eine zaghafte Annäherung zwischen Neuer und den hartgesottenen Ultras, die ihn mit einem Verhaltenskodex gängelten, der ihm das Küssen des Vereinswappens und Partys in der Kurve untersagt hatte.
Neuer war zwar nicht dabei, als die Spieler nach dem letzten verwandelten Elfmeter von Bastian Schweinsteiger zur Jubelkarawane loskrakeelten; eher näherte er sich schüchtern Richtung der Traube an der Eckfahne. Mario Gomez musste auch noch ein wenig nachhelfen, indem er Neuer mit beiden Händen zu den Fans schubste. Aber der Torhüter hat ein wenig Frieden geschlossen mit den besonders kritischen Anhängern.
"Dieser Sieg freut mich besonders für unsere Fans, für das ganze Umfeld. Alle haben uns gepusht und zum Erfolg getragen", sagte Neuer.
Innerhalb der Mannschaft hat Neuer vom ersten Tag ausnahmslos Fürsprecher. "Er ist bei uns voll integriert, steht seinen Mann und geht vorneweg - einfach sensationell", sagte Kapitän Philipp Lahm nach dem Coup von Madrid.
Nach dem Halbfinal-Triumph im Bernabeu knöpfte sich Präsident Uli Hoeneß die Neuer-Gegner vor: "Ich hoffe, dass jetzt der Letzte in München begriffen hat, warum wir Manuel Neuer verpflichtet haben. Ich hoffe, dass da ein paar Abbitte tun."
Respekt seitens der Torhüterkollegen
Sportlich hat Neuer in den letzten beiden Jahren viel erreicht. 2011 gewann er den DFB-Pokal und stand im Halbfinale der Champions League, 2012 steht er in beiden Wettbewerben im Finale. Das erste findet am kommenden Samstag in Berlin gegen Borussia Dortmund statt.
Vier Mal in Folge zogen die Bayern den Kürzeren, Neuer kann diese Negativserie nichts anhaben.
"Ich war nur zwei Mal dabei und kann mich dementsprechend nur an zwei Niederlagen erinnern. Und das waren keine klaren Niederlagen und deshalb auch keine verdienten Siege", sagte er.
Neuer hat in seiner ersten Saison bei Bayern schon viel erreicht, aber nur wenn er auch Titel holt, darf er sich mit Torhütern wie Casillas messen. Der Respekt seiner Kollegen ist ihm schon mal sicher.
"Wie Neuer die beiden Elfmeter gegen Cristiano und Kaka gehalten hat, war schon beeindruckend", sagte einer, der es wissen muss: Iker Casillas.
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