Als Borussia Dortmund vor bald drei Jahren im Endspiel von Berlin nach einem deutlichen 5:2 gegen den FC Bayern München den DFB-Pokal gewann, sorgte ein Interview für Verwunderung, das Bayern-Kapitän Philipp Lahm im Anschluss an die Partie gab. Es höre sich nach einem solchen Ergebnis zwar komisch an, meinte Lahm, doch für ihn sei der Rekordmeister "über 90 Minuten die bessere Mannschaft" gewesen.
Am vergangenen Samstag trafen sich beide Teams in der Bundesliga, die Bayern gewannen in Dortmund mit 1:0. Der Tabellenführer hatte so gut wie keine Probleme, die harmlosen Offensivbemühungen des BVB erfolgreich zu verteidigen - und schlug einmal eiskalt zu.
"Die Bayern waren nicht die bessere Mannschaft. Ich denke, das werden alle so sehen", meinte Borussen-Spielführer Mats Hummels nach Spielende. Auch wenn sich die Spielverläufe nicht gerade ähnelten, erinnerte Hummels' geschönte Einschätzung im ersten Moment ein wenig an jenes Lahm-Interview vom Mai 2012.
Schlagkräftige Truppe und Herangehensweise
Hummels war am Samstagabend nicht nur deshalb ein gefragter Mann, weil er den letztlich entscheidenden Zweikampf vor dem Tor des Tages verlor. Ein Interview von ihm sorgte in den Tagen zuvor für reichlich Aufregung und Unruhe. Hummels bekannte öffentlich, sich aktuell über seine berufliche Zukunft Gedanken zu machen und kokettierte damit unverblümt mit einem vorzeitigen Abschied aus Dortmund.
Welche Folgen dies haben würde, war Hummels, der das Interview vor der Veröffentlichung gegenlas, klar. Er nahm somit bewusst in Kauf, dass unter anderem das Tage zuvor kolportierte Interesse von Manchester United neues Feuer erhalten würde. Die Dortmunder Vereinsführung um Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke und Sportdirektor Michael Zorc stellte in ihren Einschätzungen zu Hummels' Aussagen dann auch in Frage, ob man diese wirklich öffentlich hätte tätigen müssen.
Ein zentraler Punkt, über den Hummels ebenfalls sprach, fand im Nachgang allerdings nur wenig Beachtung - und zieht eine weitere, interessantere Parallele zu Lahm. "Jeder weiß, wie sehr es mir in Dortmund gefällt, aber dass ich auch möchte, dass wir eine schlagkräftige Truppe und eine schlagkräftige Herangehensweise haben", sagte Hummels.
Lahm: "Unangenehme Wahrheiten ansprechen"
Dieser Satz und die Tatsache, dass Hummels seine Ansichten bereits in "Perspektivgesprächen" (Watzke) mit den BVB-Bossen geäußert hat, machen deutlich, worum es ihm gleichermaßen geht: Er möchte von seinem Arbeitgeber hören, welche Idee, welche Strategie nach dieser so ernüchternd verlaufenden Saison in Zukunft verfolgt wird. Er möchte aufgezeigt bekommen, wie der Verein gedenkt, sich trotz des sportlichen Rückschritts weiter zu entwickeln.
Im November 2009 ging Lahm ähnlich vor. In einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" forderte er seinen Klub auf, sich für die nächsten Jahre auf eine unumstößliche Philosophie festzulegen, nach der gespielt und eingekauft werden solle. "Wenn ich merke, es tut sich nichts, es verliert sich irgendwie, dann will ich eingreifen und unangenehme Wahrheiten ansprechen. Man kann nie wissen, ob man die Champions League gewinnt, das ist schwierig. Aber man muss eine Entwicklung erkennen können: Sehen, dass man konkurrenzfähig ist", sagte Lahm.
Hummels' Vorstoß ist unabhängig von seinen möglichen Wechselabsichten somit auch im Sinne von Lahms damaliger Offensive zu Zeiten von Louis van Gaal zu verstehen, als die mit 70 Millionen Euro verstärkte Bayern-Mannschaft vor dem Aus in der Gruppenphase der Champions League stand.
Europa League für Hummels nicht entscheidend
Dass in Dortmund zur neuen Spielzeit einige Steine umgedreht werden, steht außer Frage. Dazu hätte es Hummels' öffentliches Vorpreschen nicht gebraucht. Die Planungen im Hintergrund dürften bereits in fortgeschrittenem Stadium sein.
Allerdings verkündete Zorc zuletzt, "für eine abschließende Analyse" sei es noch zu früh. Auch Watzke betonte, dass die Frage, ob Dortmund in der kommenden Spielzeit international vertreten sein wird, ein entscheidender Faktor für die anstehende "Neujustierung" sei.
Doch inwiefern der Kader ohne Doppelbelastung abgespeckt werden muss, scheint in Hummels' Planspielen gar nicht die höchste Priorität einzunehmen. "Ob es die Europa League wird oder nicht, hat keinen Einfluss auf meine Gedankengänge", stellte er klar.
Weg zurück kaum mehr vereinbar
Es dürfte dem 26-Jährigen vielmehr um Fragen gehen wie: Will der BVB trotz der sportlichen Delle weitermachen wie bisher oder leitet er erste Schritte hin zu einem Paradigmenwechsel ein? Wird der gewohnte Konterfußball Bestand haben oder geht man künftig doch stärker als bislang an Spielidee und Spielertypen heran?
Teile der Antworten, die man auch Hummels in den Gesprächen gegeben haben wird, sind: "Es wird definitiv keinen Radikalumbruch geben, das entspricht auch gar nicht unserer Philosophie", wie Watzke meinte. Zorc schloss sich an: "Wir sind nach wie vor von unserem Weg überzeugt."
An mancher Stelle, bisweilen auch innerhalb der Fangemeinde, wird gefordert, der Verein solle den Weg wieder ein Stückchen zurück zu gehen und wie zu Beginn unter Jürgen Klopp preisgünstige, junge Spieler holen und diese entwickeln. Doch damit ist weder erneuter Erfolg garantiert, noch wäre ein solches Vorgehen mit den gewachsenen Ansprüchen des BVB vereinbar. Der Verein will, ja muss im Herbst 2016 wieder in der Champions League vertreten sein, um nicht noch eine größere Wachstumsdelle abzukriegen und weiter an sportlicher Attraktivität einzubüßen.
Hummels kündigt Bauchentscheidung an
Denn zweifelsfrei steht fest: Die Glanzzeiten, in denen Dortmund mit Überfallfußball und dem Geist eines Außenseiters, der auf Understatement macht, die Gegner reihenweise aus den Socken spielt, sind vorbei. Zu augenscheinlich sind die Probleme des BVB, wenn er gegen die vermehrt tief stehenden Konkurrenten zu Ballbesitzspiel gezwungen wird. Zu selten konnten die Westfalen in jüngerer Vergangenheit auf dem Transfermarkt, wo sie seit 2013 über 115 Millionen Euro liegen ließen, Lösungen finden, die die Qualität der Mannschaft signifikant anhoben.
Es wird für Dortmund im Sommer noch wichtiger als in den Vorjahren, mit den vorhandenen finanziellen Ressourcen die richtigen Entscheidungen zu treffen. Eine davon könnte unverhofft jene über Hummels' Zukunft sein, sollte dieser tatsächlich mit einem Wechselwunsch an die Vereinsführung herantreten.
Er bereue es mit Sicherheit nicht, geblieben zu sein, sagte Lahm in seinem Interview, das bei den Bayern damals ein mittelschweres Erdbeben auslöste und ihn um geschätzte 50.000 Euro erleichterte. "Weil ich immer noch der Meinung bin, dass hier bei Bayern etwas entstehen kann. Und warum soll ich gehen, wenn ich glaube, dass ich es hier haben kann, zu Hause, bei meinem Verein, bei dem ich groß geworden bin? Aber man muss die Lage natürlich kritisch analysieren", begründete Lahm seinen Verbleib.
Selbiges tut auch Hummels derzeit: er überlegt, hinterfragt und wägt ab. Alles vollkommen legitim. Am Samstagabend kündigte er eine Bauchentscheidung an. Die kann sich Borussia Dortmund bei der Frage nach der künftigen sportlichen Ausrichtung allerdings nicht erlauben.
Mats Hummels im Steckbrief