"Ancelotti wird flexibler spielen"

Jochen Tittmar
18. Mai 201611:35
2000, 2003 und 2008 gewann Ottmar Hitzfeld den DFB-Pokal - jedes Mal mit dem FC Bayern Münchengetty
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Sechs Jahre lang war Ottmar Hitzfeld Trainer von Borussia Dortmund, sieben Spielzeiten stand er anschließend beim FC Bayern München an der Seitenlinie. Der 67-Jährige spricht vor dem DFB-Pokalfinale zwischen FCB und BVB (Sa., 20 Uhr im LIVETICKER) im Interview über die Personalien Mats Hummels und Mario Götze, die Bilanz von Pep Guardiola und erklärt seine Ansicht zum künftigen Bayern-Coach Carlo Ancelotti.

SPOX: Herr Hitzfeld, Sie trainierten den FC Bayern von 1998 bis 2004 und noch einmal von 2007 bis 2008. Wie wahrscheinlich wäre es zu Ihrer Zeit gewesen, dass die Münchner an einem Tag über 70 Millionen Euro für zwei Spieler hinblättern?

Ottmar Hitzfeld: Sehr unwahrscheinlich. (lacht) Transfersummen, Gehaltsgefüge, Umsätze, Einnahmen, TV-Gelder - das alles ist längst explodiert, das Gesamtbudget deutlich höher als zu meiner Zeit. Die gesamten Marktverhältnisse haben sich drastisch verändert. Die Bayern gaben schon immer viel Geld aus, nehmen aber auch immer noch mehr Geld ein. Und das ohne Scheich oder Oligarch im Rücken. Es ist für mich deshalb nicht außergewöhnlich, sondern nur den derzeitigen Gegebenheiten angepasst.

SPOX: 35 Millionen Euro für einen 18-Jährigen sind schon ein Pfund.

Hitzfeld: Man hat auch früher schon vorzeitig Talente verpflichtet. Ein Sebastian Deisler ist 2002 zwar nicht eingeschlagen, hat für die damaligen Verhältnisse aber auch enorm viel Geld gekostet. Es sind mittlerweile einfach neue Dimensionen erreicht worden, auch in Deutschland. Und es wird nicht günstiger, die Preise werden weiter steigen. England ist das Problem. Nicht umsonst schließen die Bayern viele langfristige Verträge mit Leistungsträgern ab, um unter anderem nicht von englischen Vereinen finanziell ausgestochen zu werden.

SPOX: Mit Mats Hummels kommt zur neuen Saison ein solcher Leistungsträger von Borussia Dortmund. Wie beurteilen Sie diesen Wechsel?

Hitzfeld: Das ist für Bayern und Hummels eine Win-win-Situation. Er kann in seiner Heimat Führungsspieler werden, Carlo Ancelotti wollte unbedingt einen Abwehrspieler. Das hat sich regelrecht angeboten.

SPOX: Nicht für Dortmund.

Hitzfeld: Für sie ist es sportlich natürlich ein erheblicher Verlust. Der BVB verliert mit Hummels die Seele der Mannschaft. Allerdings haben sie in den letzten Jahren immer bewiesen, Abgänge von Führungsspielern gut kompensieren zu können. Die Dortmunder Transferpolitik ist ausgezeichnet. Kurzfristig werden sie Hummels jedoch kaum ersetzen können, da er auch jemand ist, der sich stark mit Borussia identifiziert und andere mitreißen kann.

SPOX: Überraschte es Sie, dass er nicht ins Ausland geht?

Hitzfeld: Nein, es ist ja auch für ihn sinnvoll. Er kann in Deutschland bleiben, in die Heimat zurückkehren und spielt dann bei einer der drei besten Mannschaften der Welt.

SPOX: In Dortmund ist Hummels Kapitän, Wortführer und tritt sehr selbstbewusst auf. Muss er sich in München diesbezüglich umstellen?

Hitzfeld: Er muss sich einordnen, denn er kommt in eine Mannschaft mit einer bereits funktionierenden Hierarchie. Hummels ist aber intelligent und hat Einfühlungsvermögen, er sollte damit keine Probleme bekommen. Ich gehe davon aus, dass er sich von Beginn an zu Recht findet und sich schnell wohlfühlen wird. Zumal er viele Spieler aus der deutschen Nationalelf kennt.

SPOX: Sein Transfer nach München schien kurze Zeit am seidenen Faden zu hängen, nachdem Uli Hoeneß suggerierte, Hummels habe sich den Bayern angeboten. Hummels bezeichnete das als Humbug, auch Karl-Heinz Rummenigge korrigierte diese Behauptung umgehend. Welche Motivation hatte denn diese Aussage von Hoeneß?

Hitzfeld: Man sollte nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Er wurde irgendwo interviewt und gebrauchte eine Redewendung, die vielleicht nicht so richtig passend war. Das sollte man nicht übergewichten, erst Recht, nachdem diese Aussage ja prompt wieder klargestellt wurde.

SPOX: Diese Äußerung hatte aber durchaus Gewicht, wenn man bedenkt, dass Hummels, Rummenigge und auch BVB-Boss Hans-Joachim Watzke direkt reagierten.

Hitzfeld: Bei Bayern hat jedes Wort Gewicht, da wird vieles ausgeschlachtet. Mit einem einzigen Satz kann man ein Thema schaffen. Es war für mich nichts Gravierendes oder Bewusstes, sondern aus dem Zusammenhang gerissen.

SPOX: Diskutieren wir eine weitere Personalie: Mario Götze. Seine Zukunft in München scheint ungewiss. Wie sehen Sie seine Situation?

Hitzfeld: Götzes Problem bei den Bayern war die Konkurrenzsituation. Mit Franck Ribery und Arjen Robben hat man hochkarätige Spieler auf der Außenbahn. Dahinter kommen schon Kingsley Coman und Douglas Costa, die beide eingeschlagen haben. Götze hatte einige Anlaufschwierigkeiten, die man bei Bayern aber nicht haben darf, da man nicht permanent Chancen erhält. Bekommt man eine Chance, muss man sie auf Anhieb nutzen. Coman und Costa haben das getan, Götze nicht. Irgendwann musste sich Guardiola entscheiden, er kann nicht allen pausenlos neue Chancen geben.

SPOX: Der neue Trainer Carlo Ancelotti soll Götze in einem Telefonat geraten haben, den Verein zu verlassen. Ist das für Sie vorstellbar?

Hitzfeld: Das sind Stand jetzt ja alles nur Vermutungen. Klar ist: Götzes Situation ändert sich nicht, denn dann müssten ja entweder Coman oder Costa verkauft werden - und das wird nicht passieren. Ich würde aus der Ferne urteilend sagen: Götze soll bleiben und noch einmal die Chance unter dem neuen Trainer und dessen Philosophie suchen. Klappt das nicht, könnte er immer noch im kommenden Winter wechseln.

SPOX: Andere Vereine werden darauf drängen, Götze bereits im Sommer zu bekommen. Besonders Jürgen Klopp und der FC Liverpool sollen Interesse zeigen.

Hitzfeld: Das muss Götze selbst spüren, wenn er Angebote bekommen sollte und sich mit den jeweiligen Trainern austauscht. Er muss selbst entscheiden, bei welchem Verein er ein gutes Gefühl hat. Egal wo: Götze braucht einen Trainer, der ihn unbedingt will und ihm die Perspektive gibt, sich noch einmal neu zu beweisen.

SPOX: Was glauben Sie, wie die Bayern unter Ancelotti aussehen werden?

Hitzfeld: Er hat enorm viel Erfahrung, besonders mit großen Teams und in unterschiedlichen Ländern. Ancelotti ist bei Milan in diese Rolle hineingewachsen. Ich denke, er wird auch die Bayern prägen. Ich kann mir vorstellen, dass er taktisch flexibler als zuletzt spielen lassen wird. Er wird nicht ausschließlich Pep Guardiolas Barca-Philosophie mit hohem Pressing und Ballbesitz um jeden Preis weiterführen, sondern vielleicht auch mal etwas defensiver agieren und eine Woche später mit einer besonders offensiven Aufstellung überraschen.

SPOX: Wie schätzen Sie ihn als Person ein?

Hitzfeld: Er ist einfühlungsstark und kommunikativ. Ancelotti hatte dazu schon immer ein gutes und offenes Verhältnis zu den Medien. Er wird sicherlich ein paar Interviews mehr geben als Guardiola. (lacht)

SPOX: Bevor Ancelotti im Sommer anheuert, endet am Samstag die Ära Guardiola mit dem DFB-Pokalfinale gegen den BVB. Wie wichtig wird das Spiel für Guardiolas Münchner Bilanz?

Hitzfeld: Jeder Titel ist natürlich die Bestätigung der guten Leistung, die die Bayern zeigen. In München wird man an den Titeln gemessen. Für Guardiolas Bilanz sollte das Finale in Berlin aber nicht mehr den großen Ausschlag geben: Er ist drei Mal in Folge souverän Meister geworden, stand drei Mal im Halbfinale der Champions League und könnte nun sein zweites Double gewinnen. Das ist eine tolle Ausbeute. Er hat die Bundesliga geprägt und ist ein Vorbild für viele Trainer.

SPOX: Können Sie die Diskussionen, ob Guardiola ohne den Gewinn der Champions League bei den Bayern gescheitert sei, nachvollziehen?

Hitzfeld: Nein. Ich habe keine Ahnung, weshalb dies diskutiert wird. Ich habe seine Arbeit in München bewundert.

SPOX: Erst Recht nach dem Gewinn des Triples 2013 scheint der FC Bayern von der Wiederholung dieses Ereignisses getrieben zu sein. Ist das gesund?

Hitzfeld: Das Anspruchsdenken der Bayern ist generell gestiegen. Das Triple 2013 hat gezeigt, dass man es schaffen kann. Für mich ist das vor allem auch ein Thema der Medien. Der Verein weiß ja, dass ein Triple weiterhin etwas ganz Besonderes ist. Die Bayern-Führung ist nach dieser Saison sicherlich zufrieden mit dem Abschneiden, auch wenn man das Finale der Champions League erneut verpasst hat. Es war eine sensationelle Bundesligasaison, dazu stand man unter den vier besten Mannschaften Europas. Gewinnt man das Double, ist das für mich unter dem Strich eine sehr gute Saison.

SPOX: Es erweckt bisweilen den Eindruck, der Gewinn der Meisterschaft ist für die Münchner nicht viel mehr als ein Trostpreis.

Hitzfeld: Die Bayern sind der Liga sicherlich enteilt, aber es ist keine Selbstverständlichkeit, die Schale zu holen. Das wird mir zu wenig gewürdigt. Man gewöhnt sich halt an die Situation, dass die Bayern voranmarschieren. Ich empfand diese Saison auch nicht als langweilig, denn Dortmund hat nie locker gelassen. Es sah alles sehr leicht aus, aber die Bayern waren eindeutig gefordert und konnten sich kaum ein Unentschieden leisten. Der BVB hat die Bayern gerade im Endspurt unter Druck gesetzt, sie durften sich keine Schwächen erlauben.

SPOX: Dortmund steht zum fünften Mal in Folge in einem Endspiel, könnte aber das vierte Mal am Stück verlieren. Wie würde sich das auf das Selbstverständnis des Klubs auswirken?

Hitzfeld: Das nagt bestimmt bereits jetzt ein wenig am Dortmunder Selbstbewusstsein. Der BVB sieht sich andererseits aber als Herausforderer und nicht als ebenbürtig mit den Bayern. Ich glaube dennoch, dass das Finale auf Augenhöhe stattfindet. Da Dortmund jedoch nicht über diese hochkarätig besetzte Bank der Münchner verfügt, muss beim BVB alles passen und die Mannschaft vor Selbstvertrauen strotzen. Alle Stammspieler müssen fit sein. Dahingehend ist der Ausfall von Ilkay Gündogan schon ein großer Verlust.

SPOX: Gündogans Zukunft ist wie auch jene von Henrikh Mkhitaryan noch nicht geklärt. Beide könnten den Verein noch in diesem Sommer verlassen. Glauben Sie für die kommende Saison an einen erneut starken BVB, der die Bayern gefährden kann?

Hitzfeld: Ungeachtet der möglichen Abgänge bräuchte der BVB spieltaktisch sicherlich kein neues Gesicht. Sie sind mit ihrer neuen Philosophie ja extrem erfolgreich. Auch die Art und Weise, wie man auftritt, hat viele Sympathien gewonnen. Thomas Tuchel scheint sich sehr gut eingelebt zu haben. Sie sind mit einer attraktiven Mannschaft auf einem sehr guten Weg. Ich habe großes Vertrauen in die Führung der Borussia. Sie werden etwaige Verluste kompensieren können und auch nächste Saison ein hartnäckiger Gegner des FC Bayern sein.

SPOX: Dass diese positive Entwicklung so schnell vorangehen würde, kam überraschend und hängt zu einem Großteil mit der Arbeit von Tuchel zusammen. Könnten Sie ihn sich auch bei Bayern München vorstellen?

Hitzfeld: Ja. Wenn man mit dem BVB so erfolgreich ist, hat man auch Chancen, eines Tages beim FC Bayern zu landen.