28. Februar, Viertelfinale gegen Arminia Bielefeld, 92. Minute. Tief durchatmen. Augenaufschlag. Mit Aymen Barkok abklatschen. Los geht's.
Die Commerzbank Arena erhebt sich. Tosender Applaus und Standing Ovations. Russ-Sprechchöre schallen von den Rängen. Nach gut zehnmonatiger Leidenszeit feiert der 31-Jährige sein Comeback.
"Das war ein sehr emotionaler Moment für mich nach dieser langen und teilweise harten Zeit", erzählt er anschließend bei Sky. "Ich hatte den ganzen Tag ein flaues Gefühl im Magen, aber als ich dann an der Linie stand, habe ich es einfach nur genossen, die Aufregung war weg."
Auch für Eintracht-Coach Nico Kovac war die Rückkehr des ehemaligen Kapitäns ein besonderer Augenblick: "Wir haben alle gebangt und gehofft. Dass es heute dazu kam, darüber sind wir alle glücklich, ich insbesondere."
Überlebenskampf im doppelten Sinne
Der 1:0 Sieg der Eintracht und der damit verbundene Halbfinaleinzug gerieten an diesem Tag in den Hintergrund. Denn vor gut einem Jahr sah die Welt noch ganz anders aus. Am Tag vor dem Relegationshinspiel gegen den 1. FC Nürnberg begann nicht nur der Überlebenskampf der Eintracht, sondern auch der von Marco Russ.
Eine positive Dopingprobe beim 31-Jährigen sorgte für Aufsehen. Der erhöhte Wert des Wachstumshormons HCG deutete schnell auf eine krankheitsbedingte körpereigene Produktion hin. Die traurige Diagnose: Hodenkrebs.
Klein beigeben? Keine Option. Der gebürtige Hanauer ließ sein Team nicht im Stich: "Er wirkte sehr gefasst und seine Frau kam auch noch hinzu. Marco hat dem Trainer dann im Laufe des Abends mitgeteilt, dass er sich zum Spiel bereit fühlt", sagte der damalige Vorstandsvorsitzende Heribert Bruchhagen der Hessen gegenüber dem Radiosender FFH.
Leben um 360 Grad gedreht
Schließlich führte Russ sein Team als Kapitän aufs Feld. Die Partie endete 1:1 - durch, wie es das Schicksal so will, ein Eigentor des Frankfurter Urgesteins. Das Rückspiel verfolgte der Abwehrchef dann schon vom Krankenbett aus: "Es war kurz vor knapp und nicht so, dass man die Operation hätte verhindern können", erklärte der 31-Jährige später im Interview mit der Frankfurter Rundschau.
Die Eintracht rette mit einem 1:0-Sieg in Nürnberg den Klassenerhalt - auch für den Mann, der bis auf ein einjähriges Intermezzo beim VfL Wolfsburg seit 1996 durchgängig für die Eintracht aufgelaufen war.
Der Fußball spielte in der Folgezeit jedoch keine Rolle mehr - "keine Sekunde", betonte Russ im hr-iNFO-Interview. Nach dem erfolgreichen Operationseingriff musste er sich zweimal einer Chemotherapie unterziehen. "Ich habe während der ersten Chemo wegen der Infusionen 13 Kilogramm zugenommen, wog 103 Kilo. In der zweiten waren es nur noch 85 kg, weil ich gar nichts mehr runterbekommen habe", berichtete der Abwehrspieler gegenüber der Sport Bild.
Drei Liegestütze und Ende
Mitte Oktober dann die erfreuliche Nachricht, Russ hatte den Krebs besiegt: "Er hat die Erlaubnis der Ärzte, wieder seinem Beruf nachzugehen, und wird mit der Reha beginnen. Jetzt muss er erst einmal konditionell nach oben kommen", sagte Trainer Niko Kovac.
Der Fokus war nun also wieder auf den Sport gerichtet, die Leidenszeit aber noch nicht beendet. Vor allem die ersten Schritte zurück zur Normalität stellten sich als Qual dar.
"Nach drei Liegestützen bin ich komplett zusammengebrochen, nach fünf Minuten Laufen bei 6 km/h ist die Pumpe so angesprungen, dass es unglaublich war. Die Lunge hat gebrannt ohne Ende", berichtete der 31-jährige Frankfurter gegenüber der Sport Bild. Auch nach dem ersten individuellen Koordinationstraining seien ihm "die Waden komplett um die Ohren geflogen".
Einstellung des Navigationssystems
Klein beigeben? Immer noch keine Option. Im Wintertrainingslager von Abu Dhabi stieß Russ wieder zur Mannschaft hinzu, plus Überstunden. "Ich kann alles mitmachen und ziehe meine Extra-Einheiten durch. Das Gewicht ist auch wieder okay. Ich fühle mich gut", so der Defensivspieler gegenüber der Bild. Wenngleich er damals schon wusste, dass er Geduld haben muss.
Man wollte den wiedergenesenen Abwehrspieler langsam wieder heranführen. Nach dem umjubelten Comeback im DFB-Pokal Viertelfinale folgten zwei Kurzeinsätze. Aufgrund großer Personalsorgen kam Russ Mitte März beim Heimspiel gegen den HSV schneller als gedacht zu seinem Startelf Comeback.
Später gab Russ zu, anfangs gewisse Orientierungsschwierigkeiten gehabt zu haben. "In den ersten fünf Minuten habe ich versucht, mein Navigationssystem einzustellen und war etwas wacklig auf den Beinen." Im weiteren Verlauf der Partie merkte man ihm seine lange Auszeit aber keineswegs an, obwohl er selbst zugab, dass ihm gegen Ende der Partie "die Puste ausgegangen" sei.
Vertragsverlängerung als Sicherheit
Mental fehlte es Russ nie an Ausdauer. Auch dank seiner Frau schritt Russ mit viel Kraft durch seine Leidenszeit. Sie versuchten "die Chemotherapie und alles, was mit ihr zusammenhängt, mit Humor zu nehmen. Diese lustige, humorvolle Art hat uns in den vergangenen Wochen sehr geholfen gegen den Krebs."
Zum Humor kam Sicherheit. Noch während seiner Chemotherapie verlängerte die Eintracht seinen Vertrag vorzeitig bis 2019. Der Rückhalt seines Vereins rührte den 31-Jährigen: "Ich bin wirklich sehr glücklich, die Eintracht hinter mir zu wissen. Jeder weiß, was es mir bedeutet, hier noch ein paar Jährchen spielen zu dürfen."
"Einfach nur Weltklasse"
Nun steht Russ zum zweiten Mal in seiner Karriere im Finale des DFB-Pokals. 2006 musste er sich mit den Hessen knapp mit 0:1 gegen Bayern München geschlagen geben. Nun wagt er mit der Eintracht einen neuen Angriff auf den prestigeträchtigen Pokal, der nebenbei die Qualifikation für Europa mit sich bringen würde.
Für den 31-Jährigen ist Berlin etwas ganz besonderes. "Da werden einige Jungs ins Staunen kommen", sagte er. "Das ist ein Ereignis, das über Deutschland hinaus eine Nummer ist."
Aufgrund seiner Vorgeschichte sind sportliche Erfolge für Russ noch viel wertvoller geworden: "Es ist noch kein Jahr her, dass ich die Diagnose bekommen habe. Dass ich nun im Endspiel stehe, ist einfach nur Weltklasse."
Marco Russ im Steckbrief