Das Wunder nach Darmstadt

Von Thorben Rybarczik
Holstein jubelt, der Gegner trauert: Dieses Bild ist fast schon zur Gewohnheit geworden
© getty

Noch vor einem Jahr am Rande des Abstiegs, mischt Holstein Kiel in dieser Saison die 3. Liga auf. Mit einer Abwehr aus Beton marschieren die Störche in Richtung Aufstieg - obwohl die Verantwortlichen noch dieselben sind und das Team kaum verändert wurde. Wie konnte das passieren?

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Wir schreiben den 7. Dezember 2013, als Holstein Kiel in der 3. Liga auf den SV Darmstadt 98 trifft. Nach 90 Minuten steht es 0:2, es ist das 13. Spiel in Folge ohne Sieg für die Norddeutschen. Die Folge: Platz 17, Abstiegsangst. Nicht wenige fordern endlich eine Veränderung auf der Trainerposition. Karsten Neitzel scheint jeglichen Kredit verspielt zu haben.

Rund anderthalb Jahre später steht Holstein Kiel auf Platz zwei der Tabelle, die erste Teilnahme an der 2. Liga seit 1981 ist zum Greifen nahe. Der Trainer heißt immer noch Karsten Neitzel. Wie konnte das passieren? Was nach einem Fußballmärchen klingt, ist vielmehr solider Arbeit, norddeutscher Gelassenheit und jeder Menge Vertrauen zu verdanken.

Kämpfen, rennen, verteidigen

Neitzel hat seinen Vertrag Ende Januar um zwei Jahre bis 2018 verlängert. Und er hat nicht vergessen, was er seinem Klub zu verdanken hat, der trotz der Negativserie der vergangenen Saison an ihm festgehalten hatte. "Es war schön zu sehen, wie der Verein mit der Situation letztes Jahr umgegangen ist", sagte er nach der Unterschrift. Dieses Vertrauen zahlt er jetzt zurück.

Die Mannschaft wurde im Vergleich zur Vorsaison nur punktuell verändert, der Kern ist gleich geblieben. Auch die Spielweise wurde nicht umgestellt. Das Prunkstück der Kieler: Die Abwehrarbeit. Lediglich 22 Gegentore haben sie bis zum 33. Spieltag kassiert, die zweitbeste Defensive aus Chemnitz hat zehn Buden mehr geschluckt.

Und unter Neitzel fängt das Verteidigen schon mit den Stürmern an. Die Offensivkräfte Manuel Schäffler oder Kapitän Rafael Kazior laufen gegnerische Innenverteidiger schon in Strafraumnähe an - und das über 90 Minuten. Ein ruhiger Spielaufbau ist gegen Kiel nicht möglich.

Ist doch mal ein Akteur im Eins-gegen-Eins geschlagen, so verschieben sich seine Mitspieler in der Rückwärtsbewegung nahezu perfekt, entstehende Löcher werden umgehend gestopft. Auch wenn es nach einer Floskel klingt: Einer rennt für den anderen, die Fehler von Mitspielern werden sofort ausgebügelt.

Spielerische Defizite

Dieses System funktioniert aber nur mit unbändigem Einsatz und vor allem guter Fitness. Für beides ist Neitzel verantwortlich, was sich auch bei der Konkurrenz rumspricht: "Holstein ist die athletischste Mannschaft der Liga", sagt Wiesbaden-Coach Marc Kienle. Diese Attribute sind auch nötig, denn spielerisch und individuell gehört das Neitzel-Team nicht zur Spitzengruppe: "Von der individuellen Qualität her gehören wir auf Platz acht bis zwölf dieser Liga", meint der Chefcoach.

Doch wie einst Otto Rehhagel schon wusste: "Tore, die man nicht kassiert, braucht man auch nicht zu schießen." Das scheinen auch die Holstein-Akteure verinnerlicht zu haben, in der laufenden Saison spielten sie bereits 17 Mal zu Null. Aufgrund ihrer Größe sind die Kieler zudem enorm stark nach Standardsituationen, dank denen nicht selten ein 1:0-Sieg herausspringt.

Dazu kommt, dass Keeper Kenneth Kronholm regelmäßig über sich hinaus wächst. Der 29-Jährige ist eine der wenigen Veränderungen, die vor der Saison vorgenommen wurden - und er schlug voll ein. Sollte das Kieler Defensiv-Konzept doch einmal ausgehebelt werden, hält er sein Team mit starken Paraden im Spiel. In seiner aktuellen Form ist er definitiv zweitligatauglich.

Aufstieg - und dann?

Apropos: Mit dem sportlichen Aufschwung hat in Kiel absolut niemand gerechnet. Sind die Störche also überhaupt bereit für diesen Schritt? Strukturell und finanziell gehört hinter dieses Fragezeichen ein klares "Ja".

Schulden sind in Kiel schon lange kein Thema mehr, die Führung um Geschäftsführer Wolfgang Schwenke und dem sportlichen Leiter Ralf Heskamp sorgte für ein realistisches Gehaltsniveau. Eine feste Gruppe von namhaften Sponsoren bietet das finanzielle Grundgerüst - allen voran Hauptsponsor "Famila".

Auch die Infrastruktur des Klubs hält Vergleichen mit Zweitligisten problemlos stand. Ein 300.000 Euro teurer Kunstrasenplatz, auf dem die erste Mannschaft ihre Einheiten absolviert, dient als Trainingsgelände. Daran angeschlossen sind drei weitere Felder für die Jugendmannschaften, ein weiterer Beleg für Holsteins solide Arbeit an der Basis. Die A- und B-Junioren spielen zurzeit beide in der Bundesliga.

Geldregen in Liga zwei

Lediglich das Holstein-Stadion passt nicht so recht ins Bild. Die bereits 1911 eröffnete Spielstätte mit einer Kapazität von rund 11.000 Plätzen müsste aufgerüstet werden. Eine Erweiterung auf 15.000 Zuschauer ist machbar, doch müsste man auch Neuerungen am Flutlicht und eine bessere Einbindung der Medienplätze nachziehen.

Diese Defizite ließen sich mit einer Saison in Liga zwei, die mindestens fünf Millionen Euro an Fernsehgeldern einbringen würde, beheben. Selbst für eine Etaterhöhung bliebe noch Raum. Die wäre im Hinblick auf die Kaderplanung auch nötig.

Nichts zu verlieren

Fakt ist: Mit dem jetzigen Kader würde es sofort und knallhart gegen den Abstieg in der 2. Liga gehen. Das wäre zwar nicht verwerflich, doch im Erfolgsfall müsste die Mannschaft dank der vorhandenen finanziellen Mittel punktuell mit zweitligaerfahrenen Spielern verstärkt werden. Ein Umbruch ist dagegen nicht vonnöten, der Kern der Mannschaft steht.

Ob Aufstieg oder nicht, das Saisonziel Klassenerhalt hat Kiel bereits seit langem ad absurdum geführt. Für das Konzept des Vereins besteht keine Dringlichkeit, baldmöglichst in Liga zwei zu spielen. Doch jetzt, als Tabellenzweiter, will man mehr, die Kür steht an.

Die Störche haben allerdings ein knackiges Restprogramm vor sich. In den letzten fünf Partien geht es noch gegen Bielefeld (Platz 1) und Duisburg (Platz 3), am letzten Spieltag könnte es zum finalen Clash mit den Stuttgarter Kickers (Platz 4) kommen. Und das nur 17 Monate nach der Pleite gegen Darmstadt.

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