Wie erreicht man Menschen?
Vogel: Die Sprache ist entscheidend. Dazu gehört auch, Bilder zu kreieren. Es kommt drauf an, was man sagt und wie man es sagt. Die Sprache ist für uns Trainer ein sehr wichtiges und mächtiges Instrument. In der Zusammenarbeit mit Chris ist mir das besonders bewusst geworden. Es geht darum, welche Informationen man weitergibt. Da kann ich Ihnen ein Beispiel nennen.
Gerne.
Vogel: Wir haben in Luzern gespielt, Erster gegen Zweiter. Er fragt mich: 'Was sagst Du der Mannschaft vor dem Spiel?' Naja: Wenn wir das Spiel gewinnen, sind wir durch, dann haben wir einen unermesslich großen Vorsprung. Dann fragt er mich: 'Meinst Du, das wissen die Spieler nicht?' Logisch wissen das die Spieler. 'Warum sagst Du es dann?' Hast Du eigentlich recht. Ich blockiere eine womöglich wichtige Information mit einer Information, die sie schon haben. Man hat nur eine gewisse Kapazität, um Dinge aufzunehmen.
Worum geht es in Ihren Ansprachen?
Vogel: Fast nie um Motivation. Ich versuche, der Mannschaft über Inhalte ein gutes Gefühl zu geben. Ich versuche, meine Jungs darauf vorzubereiten, was im Spiel passieren könnte, ihnen das Werkzeug mitzugeben, um zu gewinnen.
Heiko Vogel: "Mich haben Warren Buffett und Charles Munger fasziniert"
Sie tauschen sich auch mit Personen aus, die aus anderen Bereichen des Sports oder auch der Wirtschaft kommen. Gab es ein Gespräch, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Vogel: (überlegt) Ad hoc nicht, es waren viele interessante Gespräche. Ich versuche, generell mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen. Mich haben zum Beispiel Warren Buffett und sein Kompagnon Charles Munger fasziniert. Die beiden waren ihrer Zeit voraus. Man stellt fest, dass sich die ganzen Dinge gar nicht so sehr voneinander unterscheiden.
Muss sich ein Fußballtrainer heutzutage in anderen Branchen Anregungen holen?
Vogel: Auf jeden Fall. Als Fußballtrainer ist man viel mehr als lediglich der Lehrer auf dem Platz. Man ist ein Leader, man muss Entscheidungen treffen - und da kann man sich immer verbessern. Gerade am Anfang seiner Karriere macht man nicht immer alles richtig, ganz im Gegenteil. Man muss über das ganze Leben dazulernen. Insofern ist es essenziell, über den Tellerrand hinauszuschauen. Wenn ich nur borniert in meiner Fußballwelt lebe, verpasse ich Chancen, als Trainer besser zu werden.
Umgekehrt holen sich inzwischen globale Unternehmen Jürgen Klopp ins Haus, um ihn Motivationsreden halten zu lassen.
Vogel: Ich finde es gut, dass so ein Austausch stattfindet und das Fußballgeschäft nicht isoliert ist. Von daher ist es für mich logisch, dass Unternehmen auf erfolgreiche Fußballtrainer zugehen und sagen: 'Hey, erzähl doch mal.' Unternehmen funktionieren besser, wenn sie sich als funktionierendes Team sehen. Wie im Fußball gibt es unterschiedliche Rollen, die besetzt werden müssen. Es geht immer um gemeinschaftlichen Erfolg. Man muss sowohl in einer Mannschaft als auch in einer Firma Strukturen schaffen, in denen jeder seine Stärken so gut wie möglich ausspielen kann.
Heiko Vogel: "Klopp versprüht eine Magie"
Klopp gilt als Meister der Motivation. Vor dem 4:0-Sieg des FC Liverpool im Halbfinalrückspiel der Champions League gegen den FC Barcelona hat er seinen Spielern davon erzählt, wie er 2014 mit Borussia Dortmund gegen Real Madrid nach einem 0:3 im Hinspiel beinahe noch weitergekommen wäre. Letztlich hat er den Spielern damit klargemacht, dass die Chance da ist - und sie haben ihm geglaubt.
Vogel: Klopp versprüht eine Magie. Ohne dieses Urvertrauen, das er erzeugt, hättest du in solchen Situationen keine Chance.
Man hat bei Klopps Mannschaften das Gefühl, die Spieler würden mehr und cleverer laufen als der Gegner, sodass sie in Ballnähe immer wieder in Überzahl sind.
Vogel: Das ist Teil seiner Defensivstrategie. Er positioniert seine Spieler so, dass sie in Ballnähe extrem kompakt stehen. Das ist unangenehm für den Gegner. Klopps Mannschaften lassen dir wenig Zeit. Wenn du Zeitdruck hast, hast du Präzisionsdruck. Wenn du Präzisionsdruck hast, schaffst du es vielleicht, für eine gewisse Zeit stabil zu bleiben. Aber irgendwann brichst du ein.
Grundlage ist eine enorme Bereitschaft. Das Streben nach Perfektion, wie es auch bei Bayern unter Pep Guardiola war. Der Wille, jeden Weg mit hundert Prozent zu gehen.
Vogel: Die Spieler wussten unter Guardiola, dass sie diese Wege gehen müssen. Das war eine große Errungenschaft von Pep. Die Spieler haben eine Besessenheit entwickelt. Sie wussten: Selbst, wenn ich den Ball nicht kriege, bekommt ihn durch meinen Laufweg ein anderer. Es ist immer besser, wenn Spieler wissen, warum sie etwas tun. Dieses Verständnis macht Spieler zu Waffen. Arjen Robben ist tausendmal in die Tiefe gesprintet, hat abgebrochen, den Lauf wieder und wieder gemacht - bis er den Ball bekommen hat. Der Gegner macht diese Läufe ja mit. Tut er es einmal nicht, bekommst du den Ball. Peps Mannschaften erarbeiten sich sehr viele hundertprozentige Torchancen. Er geht nicht über die Quantität sprich über Flanken oder Fernschüsse. Er versucht, klare Tormöglichkeiten zu kreieren. Und das erreicht er damit.
Heiko Vogel schwärmt von Mario Mandzukics Vollsprint gegen Hannover
Ist es die große Kunst, diese Bereitschaft über eine komplette Saison aufrecht zu erhalten?
Vogel: Es gibt eine wunderbare Szene aus Peps erstem Jahr: Hannover gegen Bayern München, 70. Minute, Spielstand 4:0. Toni (Kroos, Anm. d. Red.) bekommt den Ball in der gegnerischen Hälfte, Toni spielt den Ball, einer rutscht aus, Ballverlust. Mario Mandzukic macht einen Vollsprint, erobert am eigenen Strafraum den Ball zurück. Mario Mandzukic ist einer von zehn Spielern, die diesen Vollsprint nach hinten machen. Nochmal: Einen Vollsprint. 4:0, 70. Minute, gefühlte 20 Punkte Vorsprung. Das ist eine überragende Szene. Da denke ich mir: Bei aller Liebe. Dann kriegst du halt das 1:4 - und selbst das muss Hannover erstmal machen. Ich finde es absolut beeindruckend, welche Mentalität Pep da implantiert hat. Diese Besessenheit, alles richtig machen zu wollen, war vorher nicht vorhanden. Die kam mit Pep. Auch da kommen wir wieder auf Federer zurück. Sein Anspruch war es, perfektes Tennis zu spielen. In der Jugend hat er geflucht, wenn er einen Punkt gemacht hat, weil er mit dem Schlag nicht zufrieden war. Das ist der wahre Antrieb für große sportliche Leistungen.
Warum ist diese Bereitschaft so selten?
Vogel: Wenn man das wüsste, wäre uns Trainern sehr geholfen. Es hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass der Mensch gerne in einer Komfortzone lebt. Außerdem spielt der Erfolg eine Rolle. Nehmen wir Real Madrid. Dreimal hintereinander die Champions League zu gewinnen, ist eine unfassbare Leistung. Da war es klar, dass sie irgendwann zumindest international einbrechen. Irgendwann bist du im Kopf leer. Du willst, aber es geht einfach nicht, weil du deine mentalen und dadurch auch deine physischen Reserven nicht mehr abrufen kannst.
Allerdings gibt es auch genügend Mannschaften, die nicht erfolgsverwöhnt sind, und es trotzdem nicht schaffen, dauerhaft mit hundertprozentiger Gier zu spielen. Nehmen wir Borussia Dortmund in der Rückrunde, speziell das 0:5 in München.
Vogel: Man darf dabei nicht vergessen, dass die Bayern unglaublich mächtig sind. Im Endeffekt sind das aber die Nuancen, die den Unterschied zwischen sehr guten und herausragend erfolgreichen Spielern ausmachen. Ein Champion ruft die Leistung in den entscheidenden Momenten ab. Schauen Sie sich Sergio Ramos an. Er ist nicht der beliebteste Spieler, aber ich liebe seine Mentalität. Er ist immer bei 100 Prozent, wenn es darauf ankommt.
Vogel: "Gerland, Hummels und ich haben uns die Köpfe eingeschlagen"
Welcher Spieler hat Sie in Ihrer Trainerlaufbahn hinsichtlich der Mentalität besonders beeindruckt?
Vogel: Es gab mehrere. Alex Frei war faszinierend. Er war sicher nicht mit Talent gesegnet, hat die Dinge aber auf den Punkt gebracht. Er hatte rechts wie links einen tollen Schuss, hat einfach performt, egal bei welchem Verein. In diesem Zusammenhang muss ich auch Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka nennen. Beide sind mit einem beeindruckenden Selbstbewusstsein aufgetreten. Bei Sturm Graz war es Peter Zulj. Seine Laufleistung war unglaublich. Dario Maresic hat als ganz junger Spieler viel Verantwortung übernommen und eine sehr wichtige Rolle im Spielaufbau gespielt. Auch Mo Salah war beindruckend - als Mensch. Bei den Bayern war es Arjen Robben.
Warum?
Vogel: Auch dazu eine Anekdote: Arjen war mal drei Tage bei den Amateuren zu Gast und hat im Vier-gegen-Vier alle zerstört. Für mich war es unfassbar lehrreich, mit welcher Besessenheit er diese Trainingseinheiten absolviert hat. Und dann hat er auch noch das Tor getragen. 'Arjen, Du trägst kein Tor', habe ich ihm gesagt. 'Doch, doch.' Diese Demut - Hut ab.
Spieler mit so einer besonderen Mentalität sind die Ausnahme. Wo kommt diese Mentalität her? Durch Erziehung?
Vogel: Ich glaube, es ist eine Mischung aus mehreren Dingen. Es gibt sehr viele talentierte Spieler, wobei fehlende Mentalität bedeutet, dass das Talent gar nicht so groß ist. Mentalität gehört zum Talent. Ich denke, dass es tatsächlich auch um Erziehung geht. Die Eltern von Philipp Lahm oder Thomas Müller sind zum Beispiel unfassbar angenehme Menschen. Erziehung findet aber nicht nur innerhalb der Familie statt, sondern auch im Verein. Wir haben es damals bei Bayern geschafft, den Spielern nachhaltig Werte zu vermitteln. Das Spiel war uns immer unglaublich wichtig, auch im Detail. Hermann Gerland, Hermann Hummels und ich haben gestritten, wir haben uns die Köpfe eingeschlagen, aber immer zum Wohle der Spieler. Wir haben die Besessenheit vorgelebt.
Heiko Vogel kam über 1860 München zum FC Bayern
Mentalität kann man nur bis zu einem gewissen Grad erlernen, oder?
Vogel: Super Frage, die ich Ihnen bis vor ein paar Jahren mit ja beantwortet hätte. Nämlich so, dass es nur eingeschränkt möglich ist. Das muss ich jetzt, nachdem ich Pep bei Bayern erlebt habe, revidieren. Die Mannschaft war auf einmal unglaublich wissbegierig, hat alles aufgesogen. Vielleicht war es ein Domino-Effekt. Erst wurde der eine infiziert - der hat den nächsten infiziert. Und plötzlich ziehen alle mit. Ich habe es leibhaftig erlebt: Die Jungs waren wirklich besessen.
Sie sind 1998 mit 23 Jahren als Sportstudent zum FC Bayern gekommen. Den Kontakt stellte ein Dozent von Ihnen her. Landet man wirklich so einfach beim FC Bayern?
Vogel: Nein, man muss erstmal zu 1860 gehen und dort weggeschickt werden. (lacht) So war es wirklich. Ich hatte einige Kommilitonen, die bei Sechzig tätig waren. Einer spielte als aufstrebender Torwart in der Amateurmannschaft, mehrere andere arbeiteten in der Jugendabteilung. Das fand ich super spannend. Also bin ich dorthin, wurde aber abgelehnt, weil ich null Trainererfahrung hatte. Damals stand ich allerdings immerhin kurz vor dem erfolgreichen Abschluss der B-Lizenz.
Haben Sie damals noch gar nicht an den FC Bayern gedacht?
Vogel: Die Situation hat sich durch die Kommilitonen einfach so ergeben. Ich habe mir jetzt nicht gedacht, der FC Bayern wäre eine Nummer zu groß. Nachdem ich bei Sechzig abgelehnt wurde, habe ich mit meinem Dozenten Gerhard Bauer gesprochen und ihm gesagt: 'Ich brauche Trainererfahrung - und ich mache alles, was Du willst, von mir aus auch die Frauen-Hochschulmannschaft.' Er hat mir dann gesagt, ich solle mich beim FC Bayern bewerben. Gerhard Bauer hatte einen sehr guten Draht zum damaligen Nachwuchskoordinator Werner Kern und wusste deshalb, dass die Bayern Sportstudenten gesucht haben, die die hauptamtlichen Trainer unterstützen. Ich habe mich dann beworben und wurde glücklicherweise genommen.