Alkmaar, 2006: Louis van Gaal führt mit seinem Team ein geheimes Training durch. Keiner ist zugelassen, der General hat wichtiges mit AZ vor. Trotzdem lauert in einer Ecke des Trainingsplatzes unerlaubterweise ein Mann, der die Einheiten mit größter Aufmerksamkeit verfolgt. Kein Detail, keine Ansage des Coaches, nicht einmal ein Blick des Tulpengenerals bleibt ihm verborgen. Bis ihn der Platzwart entdeckt, dem Mann von hinten auf die Schulter klopft und fragt, was er hier verloren hätte. Wie aus einer Trance erwacht, stammelt Antonio Conte: "I'm not a spy!"
Der Italiener stand damals am Beginn seiner Trainerlaufbahn und sollte den zweitklassigen Verein US Arezzo übernehmen. Conte reiste extra in die Niederlande, um sich in das Training von van Gaal, seinem großen Vorbild, zu schleichen und möglichst viel zu lernen. Diese Anekdote unterstreicht die Eigenschaften, die den Coach ausmachen: Wille, Entschlossenheit und die Bereitschaft, weiter zu gehen als jeder andere, um mehr zu wissen als jeder andere.
Der Plan geht auf
Als Conte 2004 seine Karriere nach 13 Jahren bei Juventus beendete, gab es keinen Zweifel, wie es weitergehen sollte. Jahre später erzählte er von seiner Verabschiedung, wo er mitteilte: "Ich sagte nicht 'Lebewohl', ich sagte 'Auf Wiedersehen'." Denn dies war sein Plan. Conte wollte die nächsten Jahre nutzen, um den Trainerjob zu erlernen, sich weiterzubilden und am Ende auf der Bank eines großen Klubs zu landen, am ehesten natürlich auf der von Juve. Und der Plan ging perfekt auf.
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Mit Bari und Siena feierte er zwei überraschende Aufstiege in die Serie A TIM, dann kam 2011 der Anruf vom Ex-Klub Juventus. Nach dem Zwangsabstieg in Folge des Wettskandals hatten die Turiner dunkle Jahre hinter sich. Man stieg zwar direkt wieder auf und wurde immerhin zwei Mal Dritter. Doch dann folgten zwei Spielzeiten, die jeweils in einem unbedeutenden siebten Platz endeten. "Nach all den Jahren voller Unsicherheiten und Frustration brauchten wir jemanden, der uns mitreißt und uns einen klaren Weg aufzeigte", erklärte Gianluigi Buffon. Mit Conte hatten sie den optimalen Mann dafür gefunden.
Bezeichnend für ihn ist, dass der Mister nach seinem Amtsantritt dem Verein nicht plump eine Wunschliste mit Spielern vorgelegt hat, sondern an den bestehenden Kader herangetreten ist und deren Motivation und Hunger austesten wollte. Dies sind die Eigenschaften, die für Conte besonders wichtig sind. "Er hat uns an unserer Ehre gepackt, uns aufgeweckt und uns den zusätzlichen Schubser gegeben, den es gebraucht hat, um den Verein wieder zu Erfolgen zu führen", erzählte Claudio Marchisio.
Training bis zur Ohnmacht
Im Trainingslager für die Saison 2011/12 ließ er seine Spieler schließlich in brühender Hitze trainieren und testete sie bis ins Mark aus. Sah er, dass jemand nicht alles gab, verlor der heißblütige Süditaliener komplett die Beherrschung. Buffon berichtete Jahre später von teilweise "unmenschlichen" Einheiten. Sein damaliger Assistenztrainer erzählte wiederum, dass einige Spieler kurz davor waren, ohnmächtig zu werden. Doch Conte zog sein Programm eiskalt durch und fand seine Mannschaft.
Juve zeigte sich in der folgenden Saison hungrig und voller Eifer. Die Spieler gingen bis an ihre körperlichen Grenzen. Man spürte, dass die Bianconeri nach 2003 endlich wieder den Scudetto gewinnen wollten. Und sie taten es. Conte hatte eine Mannschaft geformt, die zusammenhielt, wie verrückt rannte und in der jeder alles für den anderen gab.
Attribute, die man trotz des hohen Durchschnittsalters von 29 Jahren aktuell auch bei Italien sieht. So rannten die Azzurri gegen Spanien fast acht Kilometer mehr ab. "Mister Conte ist ein Meister darin, aus 23 Männern ein Team zu formen", bestätigte Abwehrchef Leonardo Bonucci. Die überzeugenden Vorstellungen der Italiener beim Turnier drängten sogar die schwerwiegenden Ausfälle von Marchisio und Verratti vollkommen in den Hintergrund.
Genau diese Laufbereitschaft ist es, die der Apulier von seinen Spielern verlangt. Davon machte der Coach auch abhängig, ob ein Profi in sein Aufgebot nominiert wurde. Spieler wie Giaccherini oder Bernardeschi wären wohl unter keinem anderen Nationaltrainer mit nach Frankreich genommen worden. Und ob die Laufmaschine Marco Parolo mit den Ausfällen im Mittelfeld auch unter jemand anderem seinen Stammplatz sicher hätte, ist ebenfalls fraglich. Es überrascht also nicht, dass Mario Balotelli seit Contes Amtsantritt nie wieder in die Squadra Azzurra berufen wurde.
"Er überlässt nichts dem Zufall"
Im Sommer 2012 wurde Conte infolge eines weiteren Wettskandals bezüglich seines Ex-Klubs AC Siena für vier Monate gesperrt. Das änderte aber nichts am Erfolg von Juventus. Der Zusammenhalt war unerschütterlich, keine Störung von außerhalb konnte den Siegeszug in der nächsten Saison beenden. Am Ende stand wie im Jahr davor der Meistertitel. Dass seine Teams funktionieren, auch wenn der impulsive Süditaliener nicht an der Seitenlinie steht, liegt sicherlich auch darin, dass er seine Mannschaften im Vorfeld einer Partie perfekt auf den Gegner vorbereitet.
Er gilt als besessener Arbeiter, der wie Pep Guardiola jeden Gegner in seine Einzelteile seziert, um dessen Schwachstellen aufzuspüren. Conte weiß ein Team von Videoanalysten hinter sich, die akribisch wie ihr Trainer arbeiten. Zu fast jedem Training gehört auch eine Sitzung im Videoraum. "Er überlässt nichts dem Zufall, sondern arbeitet jedes kleinste Detail aus. Wenn wir auf den Platz gehen, wissen wir alles in Perfektion", erläuterte Graziano Pelle nach dem Sieg gegen Spanien, "jeder kennt jeden seiner Gegenspieler genauso gut wie jeden Mitspieler und alle wissen, was zu tun ist, um das Spiel zu gewinnen. Wir müssen dann auf dem Platz das reproduzieren, was wir in den Trainingseinheiten geprobt haben."
"Halt's Maul, Gigi!"
In der Saison 2013/14 nahm Juventus schließlich den dritten Scudetto in Folge in Angriff. Wie in den Jahren zuvor waren die Bianconeri unaufhaltsam und erstürmten sich den Meistertitel lange vor Abschluss der Saison. Doch Conte wollte um jeden Preis verhindern, dass nun der Schlendrian einsetzte. Zum einen, da der Trainer in seinem Siegeswahn keine Niederlage duldete und weil er ein ganz bestimmtes Ziel hatte: Die fabelhafte Marke von 100 Punkten zu knacken.
Am letzten Spieltag war dies zum Greifen nahe, man musste nur ein Unentschieden gegen Cagliari, den 15. der Tabelle, erreichen. Wie immer bereitete der Mister die Partie akribisch vor und als er seine Mannschaft im Videoraum versammelte, vollzog sich eine Geschichte, die der italienische Journalist Alessandro Alciato in seinem Buch über Conte niederschrieb und eine seiner weiteren Eigenschaften perfekt illustriert: Conte ist eine absolute Autoritätsperson.
Als die Sitzung begann, betraten Buffon sowie Sportdirektor Marotta den Raum und der Kapitän unterbrach Conte: "Entschuldigen Sie, Mister, aber der Direktor wollte kurz mit der Mannschaft bezüglich der Prämien sprechen, die alle nach dem offiziellen Gewinn der Meisterschaft erhalten werden." Dies gefiel Conte ganz und gar nicht: "Ihr geht mir auf die Eier! Auf die Eier! Verstanden? Und jetzt geht mir alle aus den Augen! Raus mit Euch, ich möchte Euch nicht mehr sehen!"
Als Buffon wieder das Wort aufnehmen wollte, verlor Conte komplett die Beherrschung: "Halt's Maul, Gigi! Aus diesem Mund soll kein einziges Wort mehr entspringen! Lass es mich ja nicht wiederholen. Vor allem von dir hätte ich das nicht erwartet. Die Prämien... Unglaublich, diese Arschlöcher! Gigi, du bist der Kapitän und verstehst überhaupt nichts, ach was, du verstehst nicht mal einen Scheißdreck! Du bist eine Enttäuschung, ein Debakel, sobald du den Mund aufmachst! Genauso wie alle anderen dieser Schwachköpfe!"
Ein paar Tage später betrat das Team den Platz, schoss Cagliari bereits in der ersten Hälfte mit drei Toren ab und beendete die Saison mit 102 Punkten.
Antonio Conte im Steckbrief