EM

Lewys Beste

In Polen wächst eine neue Generation heran
© getty

Lange Zeit war die polnische Nationalmannschaft in der Versenkung verschwunden, mit diesem Turnier will das Team nun endlich an die Erfolge der alten Helden anknüpfen. Hoffnung machen ein 19-Jähriger, ein mutiger Trainer und ein begeisterter Robert Lewandowski.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Polen und die Europameisterschaft - das ist eine verzweifelte Geschichte zwischen Unvermögen, Unglück und zahlreichen Rückschlägen. Alleine 13 Anläufe brauchten unsere östlichen Nachbarn, um sich erstmals für eine Endrunde zu qualifizieren, den ersten Siegesjubel der polnischen EM-Geschichte gab's tatsächlich erst vor wenigen Tagen. Erfolg geht anders.

Ebenso desaströs wie die Endrunden-Bilanz präsentierte sich der polnische Fußball in den letzten 30 Jahren. Über drei Jahrzehnte trauerte man den Zeiten von Zbigniew Boniek und Grzegorz Lato hinterher, seit 1986 endete jede Teilnahme an einer Europa- oder Weltmeisterschaft in der Gruppenphase.

Korruption und Hooligans

Während der berauschende Fußball von damals zu einer körnigen Erinnerung auf Zelluloid verkam, entwickelte sich Polen über fast drei Dekaden zu einem inspirationslosen Produzenten kerniger Arbeiter, die das Spielgerät lieber prügelten als zärtlich streichelten, Fußball-Künstler als Mangelware. Ansonsten pflasterten Korruption und eine massive Hooligan-Problematik den Weg des polnischen Fußballs.

Die sportliche Misere fand spätestens bei der EM im eigenen Land ihren traurigen Höhepunkt. Franciszek Smuda suchte auf der ganzen Welt verzweifelt nach polnischstämmigen Fußballern, um ein wenig die Spielqualität zu heben. Neben dem desaströsen Ausscheiden in der Gruppenphase folgte eine große Identitätsdebatte. Die Investitionen in Scouting und Talentförderung kamen zu spät.

Dortmund-Combo lässt hoffen

Einziger Lichtblick schon damals: die Dortmund-Combo um Robert Lewandowski. Im Verbund mit Jakub Blaszczykowski und Lukasz Piszczek schenkte das Trio dem polnischen Fußball im Zuge der BVB-Wiedergeburt neues Selbstbewusstsein. Nur vier Jahre später scheinen die Trikots der Akteure vor Stolz fast zu platzen.

Natürlich auch wegen Robert Lewandowski, der mittlerweile nicht nur elementarer Bestandteil der Über-Bayern ist, sondern auch zu den besten Stürmern der Welt zählt. Dazu kommt Grzegorz Krychowiak, der als unangefochtener Leistungsträger mit dem FC Sevilla zweimal in Folge die Europa-League-Trophäe in die Luft recken konnte. Besonders erfreut ist man in Polen allerdings beim Blick auf die Jüngsten im Kader.

"Wir sind eine ganz andere Mannschaft, mit einem neuen Trainer und einer neuen Spielweise. Wir sind eine neue Generation", sprach Ex-Bayer-Stürmer Arkadiusz Milik vor der Endrunde, der mit über 20 Länderspielen schon fast ein alter Hase bei den Bialo-Czerwoni ist. Im Sinn hat Milik dabei wohl die Kollegen Piotr Zielinski, Karol Linetty und Mariusz Stepinksi, allesamt knapp über 20 Jahre alt, technisch beschlagen und zusammen mit der Erfahrung von fast 30 A-Länderspielen ausgestattet. Glitzernde Augen bekommt der polnische Fußball-Fan schließlich beim Namen Bartosz Kapustka.

Kapustka? "Das war beeindruckend"

Der 19-Jährige Kapustka rutschte im ersten Gruppenspiel gegen Nordirland durch die Verletzung von Kamil Grosicki in die Startelf und hinterließ mit seinem mutigen Auftritt sogar bei zwei Fußball-Legenden bleibenden Eindruck: "Ich glaube, wir werden von Kapustka in den kommenden Jahren einiges sehen", twitterte Three-Lions-Ikone Gary Lineker. Auch Kollege Rio Ferdinand war begeistert: "Kapustka ist für seine 19 Jahre unglaublich clever, abgeklärt und sehr geschickt mit dem Ball. Das war wirklich beeindruckend."

Entsprechend groß ist die Begeisterung in Polen. Die Zeitungen sind dieser Tage voll mit Kapustka-Artikeln, es gibt kaum eine Talk-Runde, die den Shootingstar nicht zum Thema macht: Dribbelstark, ruhig am Ball und mit jugendlichem Selbstbewusstsein ausgestattet, war der Grosicki-Vertreter zusammen mit Milik und Lewandowski gegen die dichtgestaffelten Nordiren für die wenigen Chancen der Polen verantwortlich, überzeugte mit Tempo, Ballsicherheit und Kreativität. Attribute, die schon lange nicht mehr mit einem Spieler der 'weißen Adler' assoziiert wurden.

Ein Talent mit Ansage

Dabei wäre Kapustka fast gar nicht in den Kader von Adam Nawalka berufen worden. Eine Schlägerei in einem Nachtklub ließ große Zweifel an der Reife des Teenagers aufkommen. Einen kräftigen Rüffel der Familie und eine demütige Entschuldigung später durfte das geläuterte Talent doch noch auf den EM-Zug aufspringen. Die Nachsicht von Coach Nawalka kommt nicht von Ungefähr.

Seit einiger Zeit gilt das Eigengewächs von Cracovia als größte Nachwuchshoffnung des Landes. Bereit mit 15 spielte Kapustka in der polnischen U-17 und durchlief bis zum A-Team-Debüt im September 2015 sämtliche Jugendmannschaften. Gleich im ersten Auftritt gelang ihm ein Tor. Neun Vorlagen und vier Treffer lieferte Kapustka dieser Saison in der ersten polnischen Liga, 2015 wurde er zum Newcomer des Jahres gewählt.

Gleicher Berater wie Lewy

Zudem passt der 19-Jährige perfekt in das überfallartige Konterspiel, das Nawalka bei den Polen installiert hat: mit hohen Linien, starkem Pressing und tiefen Bällen auf die Außen im Umschaltspiel: "Mich überrascht die Vorstellung von Kapustka keineswegs, er bringt alles mit für eine große Karriere. Es war nur ein Spiel, aber man hat bereits einen guten Eindruck von seinen Stärken bekommen", besprach Coach Nawalka den Auftritt nüchtern.

Irgendwann wird auch diese EM ein Ende finden und schon jetzt arbeiten zahlreiche Vereine im Hintergrund an einem Wechsel des Linksaußen. Der 1. FC Köln soll im Winter angeklopft haben, an dem Gerücht, dass Galatasaray bereits einen unterschriftsreifen Vertrag vorgelegt haben soll, ist nach SPOX-Informationen allerdings nichts dran. Doch "das Interesse sei groß" in Europa, sagt Lewandowski-Berater Cezary Kucharski, der Kapustka auf dem ausländischen Markt vertritt.

Keine Aufregung

Kapustka selbst kommentierte seine Zukunft jüngst ohne große Aufregung: "Wenn jemand sagt, dass ich noch an meiner Physis arbeiten muss, liegt er damit vielleicht nicht ganz falsch, doch irgendwann muss der nächste Schritt in die Bundesliga oder die Premier League kommen. Da habe ich aber noch Zeit."

Woher die Ruhe des Teenagers kommt? Das liegt wohl in der Familie: "Ich will einfach nur, dass mein Junge gesund ist. Er soll Spaß am Leben haben. Gleichzeitig soll er sich hin und wieder umschauen, es gibt so viele Menschen, mit denen es das Schicksal nicht so gut meint, da ist Fußball wirklich keine große Sache", erklärt Vater Kazimierz, der den ersten EM-Auftritt seines Sohnes mit rund 100 Freunden und Nachbarn bei einem Bekannten verfolgte ("Bei uns war nicht genügend Platz").

Auch Bescheidenheit wird in der Familie Kapustka groß geschrieben: "Er hat uns zunächst um Erlaubnis gefragt, als er sich sein erstes Auto kaufen wollte und meinte zu meiner Frau und mir, dass er uns dadurch viel häufiger besuchen kann. Aber so häufig kam er jetzt auch nicht vorbei", grinst Papa Kazimierz, der sein Handy nach jedem Spiel seines Sohnes auf lautlos stellen muss, weil sich jedes Mal der halbe Bekanntenkreis meldet.

Lewandowski ist begeistert

Und die Anrufe und Glückwunsch-SMS werden in nächster Zeit auch nicht abreißen. Die Chancen stehen gut, dass Polen die Gruppenphase unabhängig vom Ergebnis gegen die DFB-Elf überstehen wird. Die Achse um Torhüter Wojciech Szeszesny, der gegen Deutschland fehlte, Abwehrrecke Kamil Glik sowie die beiden Stars Krychowiak und Lewandowski macht einen stabilen Eindruck. Dazu kommen die erfahrenen Blaszczykowski und Piszczek. Gleichzeitig drängen die Jungen in die Startelf.

Lewandowski ist auf jeden Fall begeistert: "Das ist das beste polnische Team, in dem ich je gespielt habe." Und auch der sonst so besonnene Nawalka kommt bei dieser Perspektive ins Schwärmen: "Wir sind eine Mannschaft, ein Kollektiv. Wir gehen sehr euphorisch an unsere Aufgaben heran. Ich möchte mir nicht allzu viele Gedanken darüber machen, ob wir ein Geheimfavorit sind oder nicht. Wir möchten gute Ergebnisse erzielen."

Der EM-Spielplan im Überblick

Artikel und Videos zum Thema