Gescheitert, unauffällig, unerwünscht

Andreas Inama
30. Juni 201616:27
Ein alter Bekannter und die Newcomer Graziano Pelle, Eder, Emmanule Giaccherini (v.l.)getty
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Als Antonio Conte seinen Kader bekanntgab, war der Aufschrei groß. Nachdem Marco Verratti und Claudio Marchisio verletzungsbedingt ausfielen, nominierte der Trainer viele Spieler, die im Ausland nur wenige kannten. Emanuele Giaccherini, Eder, Graziano Pelle, Marco Parolo und Mattia De Sciglio - gescheitert, unauffällig oder unerwünscht. Und doch auf bestem Wege, Helden zu werden.

Emanuele Giaccherini (31 Jahre, AFC Sunderland/Bologna FC, Mittelfeld/Sturm)

"Wir haben gezeigt, dass wir eine Mannschaft mit Eiern sind." Ein Satz, den man so im Italienischen immer wieder findet. Aber ein Satz, den man sich im Kreise der Squadra Azzurra eher von extrovertierten und in ihrem Umgang lockeren Spielern wie Gianluigi Buffon oder Giorgio Chiellini erwartet.

Im italienischen Fernsehen solche Worte von sich zu geben, setzt eine gewisse Kaltschnäuzigkeit voraus. Diese Kaltschnäuzigkeit, dieses Selbstvertrauen hat sich der sonst so schüchterne Emanuele Giaccherini in den ersten beiden Spielen der EM geholt, bei denen er zusammen mit Daniele De Rossi und Marco Parolo die Belgier und die Schweden mit seiner aggressiven Art und seiner taktischen Disziplin im Mittelfeld zur Verzweiflung gebracht hat.

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Giaccherini gilt in Italien als Wühler. Technisch zwar nicht unbedingt untalentiert, aber auch nicht stark genug, um als großer "Fantasista" durchzugehen. Besonders bei Conte aber kommt seine wohl wichtigste Fähigkeit zum Tragen und sichert ihm so die Gunst des Trainers: Giaccherini ist ein unermüdlicher Kämpfer, der nach 90 Minuten noch instinktiv weiterlaufen würde, gäbe es keinen Schlusspfiff. Und genau das erwartet der Trainer. Giaccherini ist erster Verteidiger und erster Angreifer zugleich.

Dabei ist es eine riesige Überraschung, das "Giak" überhaupt dabei sein darf. Doch er gilt als der Protege des Trainers. Obwohl Giaccherini in Italien kaum noch für Aufmerksamkeit sorgte, weil er beim AFC Sunderland in England andauernd verletzt war, setzte Antonio Conte auf ihn.

Verletzungen sind ein Muster, die seine Karriere geprägt haben: Als 15-Jähriger kommt es zum Zusammenstoß mit einem Torwart, Giaccherinis Milz ist kaputt, das Karriereende nah. Doch Giaccherini kämpft sich zurück. In der Saison 2006/07 der nächste Schock: Der heute 31-Jährige spielt gerade bei Bellaria Igea Marina, eine Verletzung bedeutet das Saisonende. Giaccherini geht in die Fabrik arbeiten und denkt darüber nach, die Fußballschuhe an den Nagel zu hängen.

Doch der 1,67-Meter-Mann kämpft sich zurück. Er wird einer der Stars der Überraschungsmannschaft aus Cesena, die 2010 in die Serie A aufsteigt und 2011 sensationell die Klasse halten kann. Dann folgt der Wechsel zu Juventus, wo Giaccherini unter - wie sollte es anders sein - Conte zwei Meistertitel feiert.

Obwohl er genug Gründe hätte, dieses neuerlangte Selbstvertrauen immer wieder zu demonstrieren, bleibt der kleine Mann aus Talla in der Toskana am Boden, denn "ich bin ein einfacher Junge, der das Glück hat, Fußball spielen zu können. Aber ich habe auch in der Fabrik geschuftet - darauf bin ich stolz."

Eder (29 Jahre, Inter Mailand, Stürmer)

"Wenn einer in Italien geboren wurde, verdient er es, für die Nationalmannschaft spielen zu dürfen. Ansonsten - auch mit italienischen Verwandten - nicht." Mit diesen Worten löste Roberto Mancini im März 2015 einen Skandal aus. Der Grund für diese Aussage war unter anderem Eder, ein eingebürgerter Brasilianer, den Conte ins Nationalteam geholt hatte.

Eder wurde in Lauro Müller geboren, einer Gemeinde in Brasilien. Ein Ort, auf dessen Boden sich im 19. Jahrhundert zahlreiche italienische Auswanderer niedergelassen hatten. So auch Eders Urgroßvater Giovanni Battista, der sich 1891 von Venetien nach Südamerika aufmachte und Legitimation dafür ist, dass Eder für die italienische Nationalmannschaft auflaufen darf.

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Doch der Stürmer von Inter Mailand ließ nicht lange auf eine Antwort auf die Kritik warten. Bei einem schon verloren geglaubten Spiel in der EM-Qualifikation gegen Bulgarien sorgte er bei seinem Debüt mit einem Schlenzer für den 2:2-Endstand. Die Querelen um eingebürgerte Spieler waren so schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht waren.

Doch Eders Leben war noch nie ein leichtes. Sich äußeren Einflüssen zu widersetzen, kennt er schon seit Kindestagen. Als Jugendlicher sah er sich in der Heimat immer wieder mit Glücksspiel und Drogen konfrontiert - Versuchungen, denen er laut eigener Angabe immer wieder ausgesetzt war. Doch der Fußball verhinderte einen Absturz.

Der hochtalentierte Spieler tat sich zu Beginn schwer, als Profifußballer auf höchstem Niveau Fuß zu fassen. Nachdem Eder 2011 innerhalb der Serie A von Brescia nach Cesena wechselte, wurde er im Winter 2012 schon wieder abgegeben, um in der Serie B mit Sampdoria den Aufstieg anzuvisieren. Doch während auf seinen vorigen Stationen die Leistungsexplosion ausblieb, erzielte er für die "Blucerchiati" in den folgenden vier Jahren 45 Tore.

Dies rief auch Antonio Conte auf den Plan, der ihn schließlich trotz all der öffentlichen Kritik im März 2015 in die Nationalmannschaft holte. Dort bildet Eder nun ein kongeniales Duo mit Graziano Pelle, der schon von Januar bis Juni 2012 neben ihm im Sampdoria-Trikot stürmte.

Durch seine Leistungen in den vergangenen Monaten und jetzt speziell bei der EM sind die Diskussionen um seine Herkunft komplett aus den Köpfen der Italiener verschwunden. Das einzige, was noch Erinnerungen an diese Querelen hervorrief, ist die Ironie hinter seinem letzten Vereinswechsel: Roberto Mancini holte Eder vergangenen Winter zu sich nach Mailand.

Graziano Pelle (30 Jahre, Southampton FC, Sturm)

"Der neue Luca Toni" heißt es auf der italienischen Halbinsel oft, wenn der Name Graziano Pelle fällt. So vielzitiert diese Bezeichnung auch ist, so fern ist sie der Realität.

Pelle hat der Fußballwelt vor allem in den vergangenen Wochen bewiesen, dass er weitaus mehr kann, als nur Bälle ins Tor zu stolpern. Unter Antonio Conte ist "The Italian Goal Machine" mehr als nur der klassische Strafraumstürmer. Pelle ist erster Referenzpunkt in der Vorwärtsbewegung, er holt hohe Bälle aus der Luft, bringt sie technisch versiert auf den Boden und hält sie fest, um seinen Sturmpartner Eder oder die Flügelspieler mit Zuspielen zu füttern. Dass er dann auch noch dreckige Tore erzielen kann, mussten die Belgier und zuletzt die Spanier erfahren.

Pelle ist kein Brecher. Oder besser gesagt: nicht nur! Seine imposante Erscheinung legt nahe, dass der Italiener im Strafraum eine Macht ist. Ein Spieler, der sich im Zweikampf mit Leichtigkeit durchsetzen kann und in der Lage ist, Verteidigungslinien zu "durchbrechen". Doch seine Vergangenheit offenbart nicht nur, dass der Mann aus San Cesario di Lecce seinen Körper einsetzen kann, sondern auch, dass seine Füße die nötige Feinmotorik für einen "modernen" Stürmer mitbringen.

Elf Jahre alt war der kleine Graziano - benannt nach der italienischen Fußballgröße Ciccio Graziani - als er mit seiner älteren Schwester Fabiana italienischer Meister im Standardtanz, lateinamerikanischen Tanz und im italienischen "Liscio" wurde. Gute Voraussetzungen für einen Jungen, der seinen zukünftigen Lebensunterhalt mit seinen Beinen verdienen sollte.

Schließlich war es der Fußball, dem er sein Leben widmen sollte. Er startete seine Karriere in Lecce, wo er mit den Jugendteams alles abräumte, was es im Nachwuchs-Fußball abzuräumen gab. Nicht lange dauerte es, bis er auch mit der ersten Mannschaft spielen durfte. Dort beginnt die merkwürdige Profikarriere des Graziano Pelle.

Zdenek Zeman hielt nicht viel vom jungen Talent, setzte auf andere Stürmer. Der Erfolg gab dem exzentrischen Tschechen recht, doch für Pelle begann damit eine lange Reise, die ihn über mehrere Stationen in Italien schließlich 2007 in die Niederlande brachte. Beim AZ Alkmaar funktionierte er auch nur bedingt und wurde nach vier Jahren wieder nach Italien zurückgeholt.

Auch da wurde der Süditaliener nicht glücklich. In Parma und in Genua bei Sampdoria gelangen ihm in 24 Spielen nur fünf Tore. Dann, mit 27 Jahren, folgte der überraschende Wechsel zu Feyenoord Rotterdam, wo auf seinen zukünftig größten Förderer, Ronald Koeman, treffen und mit 55 Toren in 66 Spielen eine Entwicklung vollziehen sollte, die ihm keiner mehr zugetraut hatte. Nun spielt er für Southampton und macht dort mit 30 Jahren weiter, wo er in den Niederlanden aufgehört hatte. Mit dem späten Karriereboom gibt es zumindest eine Parallele zu Luca Toni, doch es ist die einzige.

Marco Parolo (31 Jahre, SS Lazio, Mittelfeld)

Wenn es Spieler gibt, deren Karrieren genau den eigenen Charakter widerspiegeln, dann ist Marco Parolo das beste Beispiel dafür. Schrittweise arbeitete sich der Mittelfeldspieler von Station zu Station, von Liga zu Liga, ohne wirklich jemals aufzufallen.

So hat er sich von der dritten italienischen Liga langsam nach oben gespielt, ehe er im Alter von 25 Jahren in der Serie A debütierte. Als er dann 2011 mit 26 Jahren von Cesare Prandelli überraschend in die Nationalelf berufen wurde, konnte es der mittlerweile nicht mehr so junge Marco kaum glauben: "Vor zwei Tagen habe ich noch nicht mal daran gedacht. Es ist ein Traum und ich kann es nur schwer glauben."

Mittlerweile ist der ruhige Parolo unverzichtbar für das System von Prandellis Nachfolger Antonio Conte. Der Mittelfeldmotor von Lazio Rom ist wie sein Nebenmann Giaccherini eine Laufmaschine. In den ersten zwei Spielen der EM gegen Belgien und Schweden waren sie es, die die meisten Kilometer abspulten.

Parolo tut dies beinahe im Verborgenen. Die schillernden Figuren im Nationalteam stehen in der Abwehr oder im Tor, in den Vordergrund spielen sich eher der ehemals gescheiterte Pelle oder mit Giaccherini jemand, der sich mit seiner bisherigen Karriere und seinen Erfolgen schon einen Namen gemacht hat. "Es ist leicht, als schillernde Persönlichkeit in Erinnerung zu bleiben. Eine kleine, besondere Geste und das Echo ist immens. Jedoch gefällt mir, dass ich nicht besonders auffalle, aber trotzdem meinen Beitrag leisten kann. Das gibt mir mehr", sagt Parolo.

Er hält sich im Hintergrund, neben und auf dem Platz, wobei sein Trainer durchaus auch mehr Präsenz seines Laufburschen verlangt. Doch der hat eine sehr reife Auffassung vom Fußball. Eine Eigenschaft, die besonders in Italien oft vermisst wird: "Conte erwartet sich von mir, auch in den Strafraum vorzudringen, um dort Überzahl zu schaffen. Aber jedes Mal von der Defensive in den Angriff und wieder zurück ist schwierig. Da riskiert man, nicht bis zum Ende durchzuhalten."

Daher konzentriert sich Parolo auf das, was er besonders gut kann. Beidfüßig kann er seine Mitspieler in Szene setzen, er strahlt eine besondere Ruhe am Ball aus. Außerdem besticht er durch ausgezeichnetes Timing bei seinen Zweikämpfen. Dass er sich auch nicht ganz ungeschickt in der Offensive anstellt, zeigte Parolos Aktion gegen Schweden, als nur das Aluminium seinen ersten Treffer im Nationaltrikot verhinderte.

So bleibt Parolo die helfende Hand im Hintergrund, der bescheidene Arbeiter, die Personifikation von Contes Motto bei dieser EM: nur klein und bescheiden kann man große Träume verwirklichen.

Mattia De Sciglio (23 Jahre, AC Milan, Verteidigung)

Auf den ersten Blick ist die Karriere von Mattia De Sciglio kaum von denen anderer junger Spieler zu unterscheiden. Schon im zarten Alter von neun Jahren kickte er in der Jugend des AC Milan und zeigte dort früh, was er drauf hat. 2011 debütiert er mit 19 Jahren bei den Rossoneri. In einer Welt, in der man an YouTube-Videos gemessen und ein Next-Messi nach dem anderen heraufbeschworen wird, wurden auch De Sciglio schon früh viele Lorbeeren zuteil.

Als Außenverteidiger wurde er alsbald als der neue Paolo Maldini bezeichnet. Und der Vergleich ist durchaus nicht abwegig. De Sciglio ist auf der defensiven Außenbahn - sowohl rechts als auch links - zuhause, besticht durch seine ruhige Ausstrahlung auf dem Platz, räumt in der Defensive auf, um im nächsten Moment vorne wieder eine Flanke zu schlagen.

Fußballerisch war De Sciglio nach seiner Debüt-Saison 2011 ein goldener Weg prophezeit worden. Doch in den darauffolgenden Jahren verschwand diese Leichtigkeit, er war nur noch ein Schatten seiner selbst. De Sciglio brach nicht nur spielerisch, sondern auch persönlich ein. Der Leistungsdruck war zu hoch, er hemmte ihn.

Verletzungen warfen den Jungen zurück, bei seinen wenigen Auftritten auf dem Grün agierte er unglücklich. Die Gründe dafür offenbarte er erst vor wenigen Wochen dem Corriere dello Sport: "Ich habe eine schwierige Phase hinter mir. Die Verletzungen und alles rundherum haben mich an den Rand einer Depression geführt. Durch die Geschichte von Buffon und seinen Depressionen wusste ich, dass es Zeit war, etwas zu unternehmen."

Und er tat es auch. Mit Hilfe eines Mental-Trainers arbeitete sich De Sciglio wieder zurück, sowohl als Fußballer als auch als Persönlichkeit. Nach dem Aus von Sinisa Mihajlovic bei Milan, der ihn oft auf die Bank setzte, begann für ihn der zweite Frühling. "Ich habe meine Freude am Leben außerhalb des Platzes wiedergefunden, jetzt kann ich auch wieder auf dem Platz mein Bestes geben."

Wie gefestigt der fast schon ewige Milanista mittlerweile ist, demonstrierte er zuletzt mit seiner starken Vorstellung gegen die Spanier, als er Juanfran, Cesc Fabregas und David Silva aus dem Spiel nahm und über seine Seite auch offensiv immer wieder für Unruhe sorgte. De Sciglio strotzt nur so vor Selbstvertrauen, was er auch seinem Trainer bei den Azzurri zu verdanken hat: "Conte holt jedem, der sich unsicher fühlt, das Vertrauen und das Selbstwertgefühl zurück."

Eigenschaften, die De Sciglio braucht, damit sein Weg zum Next-Maldini so verläuft, wie er ihm prophezeit wurde und er diesem italienischen Altmänner-Konglomerat weiterhin helfen kann, das große Ziel EM-Titel zu erreichen.

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