Die Helden von Nizza

Adrian Fink
28. Juni 201617:57
Island hat sich gegen England sensationell durchgesetzt und steht im Viertelfinale der EMgetty
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Island hat das Fußball-Wunder tatsächlich geschafft und steht im Viertelfinale der EM 2016. Der von lediglich 330.000 Menschen bevölkerte Inselstaat kämpfte wenig inspirierte Engländer leidenschaftlich in Grund und Boden und hat sich sensationell für die Runde der letzten Acht qualifiziert. Doch wer sind diese Isländer? Vom Filmemacher, Wikinger und gnädigen Trikot-Tauscher ist alles dabei. SPOX stellt die in Nizza eingesetzten Helden vor.

Torhüter

Hannes Thor Halldorsson (FK Bodö/Glimt): Da geht der Wahnsinn schon los! Es haut den gemeinen Fußball-Fan zwar nicht aus den Latschen, dass Islands Nummer eins nicht in den Genuss einer hochklassigen Ausbildung einer modernen Fußball-Akademie kam. Dass der 32-Jährige allerdings erst seit 2007 seine Brötchen mit dem Kicken verdient, ist zumindest ungewöhnlich.

Mit 21 Jahren brachte Halldorsson noch gemütliche 105 Kilo auf die Waage und verbrachte die Wochenenden auf der Tribüne eines isländischen Drittligisten. Der Grund für den späten Durchbruch: Verletzungen.

Mit 14 wettete er mit seinem Vater, wer einen Skiabhang schneller herunterfahren kann, doch auf dem Weg nach unten krachten beide zusammen. Der Nachwuchskeeper kugelte sich dabei die Schulter aus. "Noch heute prahlt mein Vater damit, dass er als Erster unten war. Schließlich musste er ja den Notarzt holen", erinnert sich Halldorsson.

Nach weiteren Operationen kehrte er dem Fußball den Rücken zu, schwänzte die Schule und arbeitete in einer Filmproduktionsfirma. Er hat Werbespots gedreht, einen Zombiefilm und ein Musikvideo. Bis vor einem Jahr verbrachte er freie Tage deshalb vor dem Laptop und schnitt Filmchen zusammen oder organisierte Drehs. "Ich stand kurz vor einem Burn-out", erklärte Halldorsson gegenüber 11 Freunde. Jetzt widmet er sich voll und ganz dem Fußball und steht bei der EM im Viertelfinale. Wahnsinn.

Abwehr

Ari Freyr Skulason (LV/Odense BK): So etwas wie der Vulkan der Auswahl. Der Linksverteidiger ist ein Leader und bekannt für ein gesundes Maß an Härte. Als er einmal etwas über die Stränge schlug, musste er bei der Jugend trainieren und bei seinem Ex-Klub GIF Sundsvall belegte er sogar einen Kurs zur Aggressionsbewältigung. Fast schon überflüssig zu erwähnen, dass der 29-Jährige wie acht (!) seiner Kollegen mit einer Gelben Karte vorbelastet ins Viertelfinale geht. Skulason ist gelernter Mittelfeldspieler, ließ sich von seinem aktuellen Arbeitgeber Odense BK aber extra für die Nationalmannschaft zum Linksverteidiger umpolen.

Ragnar Sigurdsson (IV/FK Krasnodar): Der Innenverteidiger ließ seinem Team gegen England überhaupt keine Zeit, in eine drohende Schockstarre zu verfallen. Keine 120 Sekunden nach dem Rückstand egalisierte er kurzerhand den Spielstand, der immens wichtige Treffer war im 60. Anlauf übrigens erst sein zweites Tor im isländischen Jersey. Seitdem Lagerbäck den heutigen Krasnodar-Profi 2012 nach über einem Jahr Nationalmannschaftsabstinenz aus der Versenkung holte, ist er eine Bank in der Defensive: Sowohl in der EM-Quali, als auch bei der Endrunde in Frankreich verpasste Sigurdsson keine Sekunde.

Kari Arnason (IV/Malmö FF): Wie Sigurdsson reaktivierte ihn Lagerbäck, denn in den fünf Jahren zuvor bestritt Arnason lediglich ein mageres Länderspiel. Der 33-Jährige ist nach Evergreen Eidur Gudjohnsen der Opa im Kader und hält die Defensive zusammen. Fast wäre auch an ihm ein Fußballer verloren gegangen, aber nach seinem Studium der Business Studies entschied sich Arnason (vorerst) gegen einen weiteren akademischen Lebensweg - und für den Sport. Die jüngste Entwicklung gibt ihm recht.

Birkier Mar Saevarsson (RV/Hammarby IF): Rennt die rechte Linie unermüdlich rauf und runter und hat sich mit seinen Sprints den Spitznamen redlich verdient. The Wind hätte sein Portemonnaie aber fast im Himmel aufgebessert, denn sein Traumjob ist Pilot. Doch als der 31-Jährige bei seinem Heimatverein Valur, dessen Emblem er sich zur Feier des Tages auf die linke Schulter tätowieren ließ, in die Profi-Mannschaft rutschte, entschied er sich für die Fußballschuhe und gegen Flugzeuge. Um es mit Bushido zu sagen: Der Himmel soll warten.

Mittelfeld

Birkir Bjarnason (LM/FC Basel): Der 28-Jährige mit der markanten blonden Mähne erinnert stark an den Protagonisten im Blockbuster Thor und wurde deshalb "Thor of Iceland" getauft. Auf dem Platz macht der Mittelfeldspieler seinem Spitznamen alle Ehre: Bjarnason ist von seinen Gegenspielern gar nicht einzufangen und treibt sein Unwesen über 90 Minuten auf der gesamten Spielwiese. Er steht mit seiner Laufbereitschaft und Willensstärke stellvertretend für die Mentalität der isländischen Nationalmannschaft. Ein echter Wikinger eben - nicht nur optisch.

Gylfi Sigurdsson (ZM/Swansea City): Der Star der Mannschaft ist der einzige Spieler im Kader, der seit Jahren auf höherem Niveau unterwegs ist. Trotzdem ordnet er sich voll und ganz dem Wohl des Teams unter und ackert diszipliniert in der Abwehr mit. Besonders seine scharf getretenen Freistöße sind gefürchtet. Wie es offenbar bei den Isländern zum guten Ton gehört, ist auch Sigurdsson neben dem Platz aktiv: Er ist Vorstandsmitglied beim Fisch-Unternehmen seines Vaters und besitzt ein eigenes Immobilien-Unternehmen.

Aron Gunnarsson (ZM/Cardiff City): War wie sein Bruder Arnor (Bergischer HC) ein begnadeter Handballspieler, entschied sich aber dann doch anders. Bereits mit 22 Jahren wurde Gunnarsson von Lagerbäck zum Kapitän ernannt - das ist mittlerweile fünf Jahre her. 2012 hätte er die Binde beinahe verloren, doch er entschuldigte sich für ein abfälliges Interview und wurde verschont. Gunnarsson strukturiert die Defensive und ist im zentralen Mittelfeld der Fels in der Brandung.

Johann Berg Gudmundsson (RM/Charlton Atheltic): Gudmundsson war in seiner Jugend ein leidenschaftlicher und erfolgreicher Zocker des Computerspiels Counter-Strike, doch als er mit seinen Eltern nach England zog, entdeckte er seine Begeisterung fürs Kicken. Er besticht nicht nur am Bildschirm mit Präzision und zeigte in Frankreich seine fußballerischen Qualitäten, als er gegen Portugal den Ausgleich mit einer weiten Flanke mustergültig vorbereitete. Über den Umweg AZ Alkmaar kehrte der 25-Jährige nach England zurück und spielt seit 2014 für Charlton Athletic, wo er in der vergangenen Saison aus der Football Championship abstieg.

Angriff

Jon Dadi Bödvarsson (MS/1. FC Kaiserslautern): Neben Sigurdsson hierzulande wohl der bekannteste Spieler, immerhin ist der Stürmer seit Jahresbeginn ein Roter Teufel. Bei der EM machte er Werbung in eigener Sache, als er gegen Österreich einnetzte und im Achtelfinale das 2:1 vorbereitete.

Kolbeinn Sigthorsson (MS/FC Nantes): Der Goalgetter der Isländer jagt den nationalen Tor-Rekord von Legende Gudjohnsen (25). Die letzte und zugleich wichtigste seiner 21 Buden gelang Sigthorsson beim heroischen Sieg über die Three Lions. Dabei verkünstelt sich der 26-Jährige nicht mit Übersteigern und brotloser Kunst, sondern brilliert mit Einsatz und Wille. Mit diesen Attributen passt Sigthorsson in Lagerbäcks Mannschaft wie Vulkane zu seinem Heimatland.

Joker

Elmar Bjarnason (LM/Aarhus GF): Der 29-Jährige galt einst als großes Talent und wechselte mit zarten 17 Jahren zu Celtic Glasgow, wo er keinen Fuß auf den Boden bekam und anschließend quer durch Skandinavien tingelte. Vor dem Achtelfinale zeigte sich Bjarnason gütig und willigte ein, sein Trikot mit Rooney zu tauschen - aber nur, wenn der United-Spieler danach fragt.

Arnor Ingvi Traustason (LM/IFK Norrköping): Traustason ist eines der Küken im Kader und gehört zu den vielversprechenden Spielern der Isländer. Seit November ist der 23-Jährige in den Nationalfarben aktiv und traf dabei beachtliche vier Mal. Unvergessen bleibt sein Sprint in der 90. Minute gegen Österreich, gekrönt vom Siegtor, das Island endgültig auf Kurs brachte - und den euphorischen Kommentator um den Verstand.

Islands Kader im Überblick