Ballgewinn und ab die Post

SPOX
10. Juli 201613:09
Cristiano Ronaldo erzielte drei Tore auf Portugals Weg ins Finalegetty
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Am Sonntag treffen Portugal und Frankreich im Finale der EM 2016 aufeinander (21 Uhr im LIVETICKER). In welchen Mannschaftsteilen ist Portugal anfällig? Wo ist Frankreich besonders stark aufgestellt? Was macht der X-Faktor Cristiano Ronaldo? In Zusammenarbeit mit dem Institut für Fußballmanagement macht SPOX den Check.

Wie ist Frankreich zu erwarten?

Taktisch wird Deschamps die Equipe Tricolore im Finale wohl wie im Halbfinale in einem variablen 4-2-3-1 ins Rennen schicken, das sich situativ zu einem 4-4-2 oder 4-3-3 verändert. Aus dieser Grundordnung heraus lassen die Franzosen den Gegner gewöhnlich im eigenen Drittel ohne Druck kombinieren.

"Es ist zu erwarten, dass die Franzosen - ähnlich wie gegen Deutschland - im Mittelfeldpressing agieren, also nicht wirklich früh den portugiesischen Spielaufbau stören", analysiert Alexander Schmalhofer, Leiter des Fachbereichs Spiel-und Taktikanalyse des Instituts für Fußballmanagement.

Dabei zeichnet den Gastgeber im bisherigen Turnierverlauf besonders seine Variabilität aus: Mal überrennen die Franzosen ihren Gegner in der Anfangsphase förmlich, mal beginnen sie verhältnismäßig zurückhaltend - ein permanentes und aggressives Pressing tief in Portugals Hälfte werden die Fans aber wohl nicht zu sehen bekommen.

Allerdings muss sich Frankreich nach dem Halbfinale umstellen, denn im Endspiel wird unseren Nachbarn wohl oder übel die Aufgabe zufallen, das Spielgeschehen selbst zu gestalten. Anders als noch gegen das DFB-Team. "Portugal darf sich darauf einstellen, dass Frankreich im Ballbesitz mit zwei sehr offensiven Außenverteidigern agieren wird", sagt Schmalhofer.

Eben in diesen Phasen kommt Frankreichs Variabilität vollends zur Geltung: Zeitgleich rücken die Flügelspieler nach innen, im Wechsel mit Antoine Griezmann verändern sie dann im Zentrum immer wieder die Positionen.

SPOXInstitut für Fußballmanagement

Zusätzlich wartet Giroud nicht nur im Sturmzentrum auf Zuspiele, sondern lässt sich situativ ins Mittelfeld fallen, um dort als Wandspieler zu agieren oder um einen gegnerischen Innenverteidiger aus der Abwehrkette zu locken. So öffnen sich Räume, in die wahlweise Dimitri Payet oder Griezmann hineinstechen. Dank dieser hohen Laufbereitschaft ist die Offensivabteilung der Franzosen kaum auszurechnen.

Hinzu kommt die herausragende individuelle Qualität, wobei in erster Linie natürlich Griezmann zu nennen ist. Mit sechs Treffern hat er nicht nur maßgeblichen Anteil am Finaleinzug seiner Farben, sondern steht nebenbei schon so gut wie sicher als Torschüzenkönig fest. "Er bringt das ganze Team voran", fasste Deschamps den Stellenwert seines Ausnahmestürmers vor dem Finale treffend zusammen.

Aber nicht nur Griezmann glänzt bei der Heim-EM, vielmehr ist der Kader mit Blaise Matuidi, EM-Held Dimitri Payet, Olivier Giroud und Paul Pogba gerade nach vorne hin vielversprechend bestückt. In der Defensive sind Hugo Lloris im Tor, Patrice Evra und Bacary Sagna auf den Außenverteidiger-Positionen und Laurent Koscielny im defensiven Zentrum gesetzt.

Besonders Pogba genießt bei der Nationalmannschaft eine Ausnahmestellung, denn der 23-Jährige fungiert als zentraler Akteuer und ist der Schlüsselspieler im Mittelfeld. Selbst unter Bedrängnis wird das Juve-Juwel bedient und eröffnet das Spiel im Anschluss mit langen Pässen hinter die gegnerische Viererkette.

Selbst wenn der Plan A der Franzosen nicht greift, kann Deschamps reagieren und aus einem großen Topf an Alternativen schöpfen. Wählt er - wie es anzunehmen ist - die gleiche Startelf wie gegen Deutschland, ist die Bank mit Anthony Martial, Morgan Schneiderlin, Yohan Cabaye, Andre-Pierre Gignac, N'Golo Kante und Kingsley Coman prominent besetzt.

Zusätzlichen Rückenwind dürfen sich die Franzosen von den Fans erhoffen. Schien der Druck der öffentlichen Erwartungshaltung die Mannschaft zu Beginn des Turniers noch zu lähmen, so wirkt sie inzwischen längst positiv beflügelt.

Wo liegen Portugals Chancen?

Während die Franzosen mit 13 Toren den gefährlichsten Angriff der Euro stellen, ist die Defensive keineswegs sattelfest. Zwar kassierte die Equipe Tricolore in den sechs Partien nur vier Gegentreffer, allerdings war das DFB-Team der einzige größere Brocken im bisherigen Turnierverlauf.

Gegen Deutschland legte Deschamps das Augenmerk auf die Defensive und schnelle Konter. Weniger als ein Drittel eigene Spielanteile waren die Folge. Trotzdem zeigten Jogis Jungs in der Schlussphase, wie man das französische Bollwerk knacken kann: mit präzisen Flanken von den Außen. Auch Island erzielte seine beiden Tore gegen den Gastgeber durch Hereingaben vom Flügel oder aus dem Halbfeld.

Erwischt man die Franzosen in einer Phase des 4-3-3 ergeben sich systembedingt entsprechende Räume auf den Flügeln. Da zusätzlich die Außenverteidiger teilweise enorm offensiv agieren, können sich für Portugal in diesen Bereichen enorme Freiheiten eröffnen. Besonders Cristiano Ronaldo dürfte von diesen Situationen profitieren.

Außerdem hat Frankreich Probleme, sich durch ein dicht gestaffelte Mittelfeld zu kombinieren. Hält der Gegner die Räume dicht, retten sich Pogba und Co. mit langen Bällen aus dem zentralen Halbfeld, die bei einer guten Organisation der Viererkette aber heruntergepflückt werden können. Gegen die DFB-Auswahl hatte Frankreich deshalb eine auffällig hohe Fehlerquote.

So müssen die Portugiesen die richtigen Momente abwarten, um dann überfallartig, aber gleichzeitig geordnet, den Spielaufbau der Franzosen zu attackieren.

Gelingt dann Ballgewinn muss Portugal so schnell wie möglich umschalten, um den Gastgeber in einer ungeordneten Formation überrumpeln zu können. Dabei dürfte Ronaldo aufgrund seiner Schnelligkeit und Physis als Zielspieler dienen.

Was sind die Schwächen Portugals?

Portugal hat in Situationen, in denen die gegnerische Hintermannschaft ungeordnet ist, Luft nach oben. "In den vergangenen Spielen fiel auf, dass die Hintermannschaft der Portugiesen bei Ballbesitz in manchen Situationen nicht entschlossen nachrückte", sagt Schmalhofer.

Diese mangelhafte Umschaltbewegung reißt Lücken zwischen die einzelnen Mannschaftsteile. Diese Lücken könnten im Finale fatale Folgen nach sich ziehen.

Einerseits droht den Portugiesen so das Schicksal, nahezu jeden Abpraller an die Franzosen abgeben zu müssen und dementsprechend keine zweiten Angriffswellen fahren zu können. So läuft das Team von Fernando Santos Gefahr, den Zugriff auf das Spielgeschehen zu verlieren.

Andererseits können die schnellen Franzosen nach Ballgewinnen eben in jene Räume zwischen Portugals Reihen vordringen und die Kontersituationen mit ihrer individuellen Klasse perfekt ausnützen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Portugal im Laufe des Turniers zwar fast genau so viele Schüsse aufs Tor wie Frankreich zu verbuchen hat (34 zu 36), allerdings deutlich weniger Tore bejubeln durfte (8 zu 13). So liegt die Chancenverwertung von Ronaldo und Co. knapp unter 10 Prozent - zum Vergleich: Frankreich münzt fast 17 Prozent seiner Chancen in Treffer um.

Dieses Missverhältnis kann zumindest zum Teil auf die individuelle Klasse zurückgeführt werden. Während Frankreich ein ganzes Arsenal an Weltklasse-Kickern mit reichlich Champions-League-Erfahrung auf den Rasen bringt, fällt der portugiesische Kader hinter Ronaldo enorm ab.

Spieler wie die Bundesliga-Neuzugänge Renato Sanches oder Raphael Guerreiro verfügen zwar zweifelsfrei über ein enormes Potenzial, stehen aber noch am Anfang ihrer Entwicklung und haben noch keine nennenswerte in großen Spielen auf internationaler Bühne.

X-Faktor Cristiano Ronaldo

Wie im Fußball-Geschäft mittlerweile Usus geworden, stilisieren die Medien das Finale zum Duell der Euro-Stars. So zeigen einige TV-Sender Trailer, in denen ausschließlich Griezmann und Cristiano Ronaldo gewürdigt werden. Während der Atletico-Star bei Frankreich aber noch tatkräftige Unterstützung von seinen Adjutanten erhält, ist bei Portugal gefühlt jeder Angriff von den Geistesblitzen Ronaldos abhängig.

"Ronaldos individuelle Qualität ist unbestritten", stellt Schmalhofer dementsprechend fest. Dabei ist aber vor allem hervorzuheben, dass Ronaldo bei der EM auch im taktischen Bereich über eine unglaubliche Qualität verfügt.

Im Laufe des Turniers brillierte er als mannschaftsdienlicher Arbeiter, der offensiv wie defensiv weite Wege abspult und so Räume für seine Mitspieler öffnet. Diese sollen vornehmlich die beiden Flügelspieler Nani und Joao Mario nutzen, die ihre Position häufig tauschen, um so bei der gegnerischen Abwehr für Unruhe zu sorgen.

Auch wenn Nani in Frankreich durchaus schon einige Glanzmomente erleben und sich drei Mal in die Torjägerliste eintragen durfte, steht CR7, der ebenfalls drei Tore auf dem Konto hat, wie ein Heilsbringer über seinen Teamkollegen.

Und obwohl Ronaldos Gehabe mit überflüssigen Übersteigern, No-Look-Pässen und Macho-Posen für viele Beobachter nur schwer zu ertragen ist, muss man seine herausragende fußballerische Qualität schlicht anerkennen. Eins ist klar: Stemmt Portugal am späten Sonntagabend die Trophäe in den Himmel, kann man den Anteil Ronaldos gar nicht hoch genug einschätzen.

Vor dem Finale will der Superstar allerdings kleine Brötchen backen und schiebt seine Auswahl gekonnt in die Außenseiter-Rolle: "Meiner Meinung nach sind sie der Favorit. Sie spielen zuhause, das ist ein großer Vorteil."

Offensiver gab sich der 31-Jährige da schon nach dem 2:0-Erfolg über Wales. "Ich verdiene es, Portugal verdient es, die Fans verdienen es, jeder Portugiese verdient es."

Cristiano Ronaldo im Steckbrief