Sie nannten ihn "Feuerkopf". Matthias Sammer, Deutschlands Anführer beim Gewinn des EM-Titels 1996, der nicht nur wegen seiner roten Haare, sondern auch aufgrund seines resoluten und lautstarken Auftretens auf dem Platz das Bild des Kämpfers verkörperte. Doch Sammer war 1996 mehr. Klar waren auch die Zweikämpfe eine Stärke des gebürtigen Dresdners. Mit 66.7 Prozent gewonnenen Duellen war er führend im deutschen Team und gehörte auch zu den besten Fünf bei der Endrunde.
Er war aber auch Antreiber und Aufbauspieler Nummer Eins im deutschen Team und brachte es im Turnierverlauf auf 531 Ballaktionen und 421 gespielte Pässe (82.2 Prozent davon erfolgreich). Leistungen, die lange EM-Rekordwerte waren und erst 2012 von der spanischen Tiki-Taka-Passmaschinerie gebrochen wurden.
Parallelen zwischen Libero und Sechser
"Unser 3-5-2-System mit mir als Libero war einzigartig, aber schon nicht mehr auf dem neuesten Stand", erinnerte sich Sammer später an die EM im Mutterland des Fußballs in einer Kolumne bei Zeit Online. Nach dem EM-Erfolg hielten die Bundestrainer Berti Vogts und später Erich Ribbeck dennoch weiter an dem System fest, bis eine überalterte DFB-Auswahl rund um den mittlerweile 39-jährigen Libero Lothar Matthäus bei der Europameisterschaft 2000 ein Debakel erlebte - Sammer hatte seine Karriere zu diesem Zeitpunkt schon als Sportinvalide beenden müssen. Heute ist der Libero im Land des Weltmeisters bloß noch ein Relikt einer längst vergangenen Fußball-Zeit.
Doch blieb diese Rolle, des tief aus der eigenen Hälfte kommenden Spielgestalters, damit unbesetzt im deutschen Spiel? Vergleicht man den modernen Sechser im heutigen deutschen Team mit Sammers Auftritten als Libero damals, zeigen sich durchaus Parallelen. Die Analyse zeigt, dass diese Position sowohl in Spielweise als auch im Aktionsradius auf dem Platz Sammers Auslegung des Liberos ähnelt.
Halbfinal-Aus verhindert Rekorde
Schon bei der Europameisterschaft 2012 ließ sich Bastian Schweinsteiger abgesichert von Sami Khedira auf der Doppelsechs zwischen die Innenverteidiger fallen, um aus der eigenen Hälfte das deutsche Spiel anzukurbeln. Im Schnitt spielte Schweinsteiger 83 Pässe und hatte 94 Ballaktionen bei der EM 2012 und lag damit sogar noch vor Sammer 1996 (70 Pässe bzw. 89 Ballaktionen pro Partie). Das Halbfinal-Aus gegen Italien (1:2) verhinderte aber, dass Schweinsteiger auch Sammers Rekorde von 1996 angreifen konnte.
Zwei Jahre später beim WM-Triumph in Brasilien plagte sich Schweinsteiger zu Turnierbeginn mit Verletzungen herum und musste die zentrale Position im deutschen Mittelfeld zunächst Philipp Lahm überlassen. Erst mit zunehmender Turnierdauer konnte der damalige Bayern-Spieler an die Auftritte bei der Europameisterschaft 2012 anknüpfen.
Seine Leistung krönte der heutige DFB-Kapitän mit einer kämpferisch starken Partie im WM-Finale gegen Argentinien (1:0 n.V.). Die Bilder des teils blutüberströmten Schweinsteiger erinnerten auch optisch an den Kämpfer Sammer.
Heatmap zeigt starke Ähnlichkeiten
Ein Blick auf die Heatmap der beiden Endspiele 1996 und 2014 zeigt, dass sowohl Sammer als auch Schweinsteiger den Box-to-Box-Spieler verkörperten. Was Schweinsteiger gegenüber Sammer aber fehlt, ist die defensive Ausprägung. Weder bei der EM 2012 (55,6 Prozent) noch bei der WM 2014 (53,9 Prozent) kam Schweinsteiger an die starken Zweikampfwerte Sammers heran (66,7 Prozent). Sammer fing dazu noch 19 Bälle ab, was nur Christian Ziege als deutscher Spieler bei einer EM-Endrunde überbot (22, EM 1996).
Schweinsteiger kann hier nicht mithalten (5). War der heutige DFB-Kapitän also einfach nur offensiver geprägt? Bei der Endrunde in England gab Sammer acht Torschüsse ab und erzielte zwei Treffer. Schweinsteiger kam sowohl bei der EM 2012 als auch bei der WM 2014 auf weniger Versuche und ging jeweils leer aus. Wenn man so will, legte Sammer also den komplettesten Auftritt eines deutschen Spielers bei einer EM-Endrunde hin.
Kroos der neue Sammer?
Nun wird Schweinsteiger in diesem Sommer wie schon bei der WM 2014 angeschlagen ins Turnier gehen, womit es erneut eine Umstellung auf dieser Position geben wird. Prädestiniert für die Rolle ist Toni Kroos, der bei der WM 2014 noch links von Schweinsteiger im Mittelfeld agierte und diese Position auch in großen Teilen der Saison bei Real Madrid bekleidete. Unter dem neuen Real-Trainer Zinedine Zidane rutschte Kroos zuletzt aber immer wieder in die zentrale Position - nun geht der 26-Jährige mit dem Selbstvertrauen ins Turnier, als erster Deutscher die Champions League mit zwei Vereinen gewonnen zu haben.
Auch Bundestrainer Jogi Löw plant mit Kroos als zentralem Mann: Kroos brachte es in der EM-Qualifikation als einziger Spieler europaweit auf eine vierstellige Anzahl an Ballaktionen (1287) und Pässen (1108). Dass Kroos' Passgenauigkeit dabei überragend war (93,3 Prozent), überrascht wohl niemanden, doch auch seine 63,7 Prozent gewonnenen Zweikämpfe sprechen dafür, dass Kroos zum Chef in der Zentrale heranwachsen kann.
Egal ob nun Kroos oder Schweinsteiger die Zentrale bekleiden werden, auch 2016 wird die DFB-Auswahl den (heimlichen) Anführer im Spielaufbau für ein erfolgreiches Turnier brauchen. Den "feuerroten", aufbrausenden Leader werden die eher ruhigeren Typen der heutigen DFB-Auswahl aber nicht geben können. Im System der flachen Hierarchien in Löws Mannschaft ist ein Mann a la Sammer nicht mehr vorgesehen, seine spielerische Klasse aber schon.