EM

"Der Titel muss das Ziel sein"

Von Daniel Reimann
Christian Günter ist Teil des deutschen 23er-Kaders bei der U21-EM
© getty

Mit dem SC Freiburg erlebte Christian Günter das Desaster Abstieg, mit der U21 greift er bei der EM in Tschechien nach Europas Krone. Vor dem Auftaktspiel gegen Serbien (Mi., 20.45 Uhr im LIVE-TICKER) spricht er im Interview über Training mit Kinesiologen, seine Zukunft im DFB-Team und seinen Kampf mit der Doppelbelastung als Jugendlicher.

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SPOX: Herr Günter, wenn man die Videos auf den Social-Media-Kanälen des DFB ansieht, scheint die Atmosphäre in der Vorbereitung bestens gewesen zu sein. Wie gut ist die Laune tatsächlich?

Christian Günter: Die Stimmung ist wirklich fantastisch. Wir haben einen Riesenspaß, auf und neben dem Platz. Wir haben einfach eine super Truppe.

SPOX: In der Vorbereitung in Leogang stand "Brain Activity" auf dem Programm, geleitet von einem Kinesiologen. Erklären Sie doch mal, worum es dabei ging.

Günter: Es ging darum, mehrere Dinge und Gedankenprozesse gleichzeitig zu absolvieren. Das ist in Sachen Motorik gar nicht so einfach. Wir mussten bei einer Übung zum Beispiel zwei Tennisbälle hochwerfen, beim Fangen die Arme überkreuzen und währenddessen Pässe spielen. Das war am Anfang eine ziemliche Herausforderung.

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SPOX: Was ist das Ziel dieser Übung?

Günter: Es geht darum, sich ausschließlich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Auf die Aufgabe, die man gerade hat. Alles andere muss ausgeblendet werden. Das braucht man auf dem Fußballplatz genauso: Man muss sich auf das Wesentliche konzentrieren und Unwichtiges ignorieren.

SPOX: Am 17. Juni beginnt die EM, wo Deutschland in Gruppe A auf Serbien, Tschechien und Dänemark trifft. Die Gruppe B wirkt mit England, Italien, Portugal und Schweden anspruchsvoller - oder würden Sie da widersprechen?

Günter: Von den Namen her scheint das vielleicht so. Aber man muss bedenken, wen diese Teams ausgeschaltet haben. Serbien hat Spanien rausgeworfen, das funktioniert nicht einfach im Vorbeigehen. Das zeugt von Qualität. Dänemark hat ein starkes Team. Und Tschechien hat ein Heimspiel, sie haben alle Zuschauer hinter sich. Diese Gruppe wird eine große Herausforderung.

SPOX: Trotzdem ist Deutschland Favorit. Wie geht die Mannschaft mit dieser Rolle um?

Günter: Mit unserer Qualität muss der Titel einfach unser Ziel sein. Natürlich müssen wir zuerst die Gruppenphase überstehen, aber an der Zielsetzung Europameister führt kein Weg dran vorbei.

SPOX: Mit Nico Schulz gibt es einen weiteren etatmäßigen Linksverteidiger im Team. Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein?

Günter: Alle 23 Spieler haben eine riesige Qualität. Da hat es jeder verdient zu spielen. Ich selbst mache mir da im Vorfeld keine Gedanken, das macht schon der Trainer.

SPOX: Wie genau verfolgen Sie denn die Entwicklung auf der Linksverteidigerposition in der A-Nationalmannschaft? Ihr Debüt haben Sie vergangenes Jahr bereits gefeiert.

Günter: Natürlich verfolge ich das, aber nicht diese Position im Speziellen. Es war schön, dass ich mal reinschnuppern durfte. Wenn meine Leistung stimmt, bekomme ich vielleicht irgendwann nochmal eine neue Chance.

SPOX: Nichtsdestotrotz: Sie haben sich keine schlechte Position ausgesucht. Seit Philipp Lahm nicht mehr als Linksverteidiger eingesetzt wurde, wurden viele Alternativen ausprobiert. Eine dauerhafte Lösung scheint noch nicht gefunden. Es gibt schlechtere Perspektiven, oder?

Günter: Wir haben viele gute Linksverteidiger in Deutschland. Aber es ist schon so, dass die Chancen auf dieser Position besser stehen, als beispielsweise in der Offensive, wo es eine noch größere Anzahl an Weltklasse-Spielern gibt.

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SPOX: Der Bundesliga-Alltag ist noch nicht lange Geschichte. Bekommen Sie in der Vorbereitung aufs U21-Turnier denn den Kopf frei vom Abstieg?

Günter: Die Anfangszeit war schwierig. Der Abstieg war ein schwerer Schlag für den gesamten Verein. Aber langsam bekomme ich den Kopf frei. Dadurch, dass ich hier eine neue Herausforderung vor Augen habe, kann ich recht gut abschalten.

SPOX: Freiburg erlebte eine bittere Saison. Viele Spiele gingen in der Schlussphase verloren, im letzten Spiel fehlte ein Tor zum Klassenerhalt. Wie geht man mit einem solchen Saisonverlauf um?

Günter: Es war enorm bitter, es war so unnötig. Der Fußball ist manchmal ungerecht. Aber man darf nicht vergessen, dass wir viele Chancen vergeben haben. Wir haben einige Spiele noch aus der Hand gegeben, das liegt dann nicht nur am Pech oder an Schiedsrichtern. Bei uns fehlte einfach etwas.

SPOX: Wenn man Christian Streich auf Sie anspricht, wirkt er sehr angetan. Sie gelten als einer seiner Musterschüler, spielten schon in der A-Jugend unter ihm. Wie sehr hat Sie Streich geprägt?

Günter: Ich habe viele Spiele unter ihm gemacht. Er ist ein sehr guter Trainer, bei dem ich viel lernen konnte. Streich hatte einen großen Einfluss auf meine Entwicklung. Denn ohne Vertrauen des Trainers kann man auf dem Platz keine Leistung bringen. Genauso gab es auch mal Kritik, das braucht es auch. Streich ist kein Schulterklopfer.

SPOX: Sie haben alle Spiele für Freiburg gemacht, gaben ihr DFB-Debüt und spielen jetzt die U21-EM. Ist in diesem Zusammenhang der Weg zurück zum Verein in die 2. Liga überhaupt vorstellbar?

Günter: Darüber habe ich mir bisher keine Gedanken gemacht. Wir müssen uns auf den Moment konzentrieren. Wenn jeder andere Dinge im Kopf hat, wird es schwierig bei der EM.

SPOX: In Ihrer Jugend machten Sie nebenbei eine Ausbildung zum Industriemechaniker. Parallel dazu mussten Sie mehrmals die Woche ins Fußballtraining. Wie sah denn der Alltag im Leben des damaligen Christian Günter aus?

Günter: Ich bin um 6 Uhr aufgestanden und mit Kumpels zur Arbeit gefahren, bis ich mit 18 Jahren selbst fahren konnte. Bis 16 Uhr habe ich gearbeitet, danach fuhren mich meine Eltern direkt ins Training nach Freiburg. Gegen 22 Uhr war ich dann wieder zu Hause in Tennenbronn.

SPOX: Wie standen Ihre Eltern zum täglichen Pendeln parallel zur Arbeit? Haben sie eines Tages auf eine Entscheidung für das eine oder andere gedrängt?

Günter: Sie haben mir nie Druck gemacht. Mein Vater hat mir zugesichert, dass sie mich immer unterstützen, solange ich Spaß daran habe. Ohne meine Familie hätte ich das niemals geschafft. Ich war nicht der Typ für ein Internat, ich habe meine Familie und Freunde in der Umgebung gebraucht. Dafür war das Pendeln perfekt. Es ist mein großes Glück, dass meine Familie mich so sehr unterstützt hat. Meine Eltern haben wahnsinnig viel Zeit im Auto verbracht.

SPOX: Wann haben Sie auf Ihrem zweigleisigen Weg gemerkt, dass es sich lohnen könnte, alles auf eine Karte zu setzen?

Günter: In der A-Jugend habe ich daran nie gedacht. Ein Abbruch der Ausbildung war nie ein Thema. Ich wollte das zu Ende bringen, ich wollte etwas in der Hand haben. Aber der Traum vom Fußballprofi lebte weiter. Als ich nach der A-Jugend einen Profivertrag bekam, konnte ich zum ersten Mal durchatmen. Dann habe ich mich nur noch auf den Fußball konzentriert.

SPOX: Was ist anstrengender? Das Leben als Industriemechaniker und Teilzeit-Fußballer oder das heutige Leben als Vollzeitprofi?

Günter: Vom Zeitaufwand her Ersteres. Mit der zusätzlichen Arbeit war es schwerer. Ich stand acht Stunden am Tag an Maschinen, das alleine war schon anstrengend. Danach ging es noch ins Training. Aber das Leben als Fußballprofi ist auch kein besonders entspanntes (lacht).

SPOX: Machte sich der Unterschied zu den Teamkollegen bemerkbar, die nicht schon acht Stunden Arbeit in den Knochen hatten?

Günter: Gar nicht so sehr. Viele andere gingen in der Schule, das war zumindest geistig anstrengend. Mir hat die Stunde Fahrt zwischen Arbeit und Fußball immer sehr gut getan. Ich schlief meist im Auto, da konnte ich nochmal ein wenig abschalten. Ein solcher Weg ist oft auch einfach eine Frage des Willens. Mir hat es immer Spaß gemacht. Ich wollte das unbedingt.

Christian Günter im Steckbrief

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