Fragen und Antworten zum EM-Desaster der Türkei: Nur ein Hintertürchen kann Trainer Günes retten

Jonas Rütten
21. Juni 202108:20
Einer der großen Enttäuschungen der türkischen EM: Merih Demiral von Juventus.getty
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Die Türkei war tatsächlich die Überraschungsmannschaft der EM - jedoch im negativsten Sinn. Die Mannschaft von Trainer Senol Günes verabschiedet sich mit drei deutlichen Niederlagen aus dem Turnier. Es ist das größte türkische Desaster bei einem WM- oder EM-Turnier. Wie konnte es so weit kommen und was folgt jetzt? Fragen und Antworten zum EM-Debakel der Türkei.

Am Ende halfen ihnen auch die 20.000 frenetischen Fans in Baku nicht. Im Gegenteil. Statt lautstarke Gesänge und Anfeuerungen, wiederholte sich in der Halbzeit des letzten Gruppenspiels der Türkei gegen die Schweiz das, was sich bereits ein paar Tage vorher gegen Wales ereignet hatte. Ein gellendes Pfeifkonzert prasselte auf die türkischen Spieler nieder.

Dabei hatten sich die Anhänger der Türkei so sehr auf die EM gefreut. Weil die Mannschaft mit ihrem zweifelsfrei vorhandenen Talent auf individueller Ebene und der überaus positiven EM-Qualifikation den Eindruck erweckt hatte, dass es unter Umständen sogar erstmals seit 2008 wieder weit gehen könnte. Weil man in Aserbaidschan gegen Wales und die Schweiz quasi Heimspiele hatte. Und weil endlich und anders als beispielsweise 2016 Ruhe und Harmonie in der Mannschaft herrschten.

Doch es kam alles anders. Das EM-Turnier der Türkei glich einem wahr gewordenen Albtraum. Null Punkte, 1:8 Tore. Schlechter waren die Türken nicht mal beim EM-Debüt 1996, als sie mit 0:5 Toren und null Punkten ausschieden. Torjäger Burak Yilmaz sprach am Sonntagabend von einer "Lektion, die wir lernen müssen". Wie kam es zum türkischen Schiffbruch bei der EM? Und Was folgt nun? SPOX und Goal beantworten die wichtigsten Fragen zum EM-Desaster der Ay-Yıldızlılar.

Zum Wegschauen: Die Leistung der türkischen Nationalmannschaft stimmte bei der EM vorne und hinten nicht.getty

Türkei-Debakel bei der EM: Warum ist der Frust so groß?

Als die Türkei vor wenigen Jahren erst die WM-Qualifikation 2018 verpasste und dann auch noch in der Nations League in die C-Staffel abstieg, hätte man es kaum für möglich gehalten, dass die Mannschaft nach nur zwei Jahren der Entwicklung bei einer Europameisterschaft als heißester Anwärter auf den Titel "Überraschung des Turniers" starten würde.

Doch das tat sie bei dieser EM - und das hatte stichhaltige Gründe. Einerseits, weil die türkische Mannschaft auf dem Papier durchaus als sehr talentiert in allen Mannschaftsteilen gilt, gerade in der zentralen Defensive mit Merih Demiral, Caglar Söyüncü und Ozan Kabak. Das spiegelte sich auch in der guten EM-Qualifikation wider, in der die Türkei nur drei Gegentore kassierte und gegen Weltmeister Frankreich vier Punkte aus zwei Spielen holte.

Andererseits bewiesen etablierte Kräfte wie Hakan Calhanoglu bei Milan, Burak Yilmaz, Yusuf Yazici oder Zeki Celik (alle OSC Lille) bei ihren Vereinen eine gute bis herausragende Form über die gesamte Saison. Dazu schien Trainer Senol Günes, bekannt als Kontrollfreak und gierig danach, sein Wissen weiterzugeben, den jüngsten Kader bei diesem EM-Turnier gut im Griff zu haben und gut moderieren zu können. Kein Wunder, war er doch vor seiner Zeit als Trainer und während seiner Zeit als Profi bei Trabzonspor nebenbei noch Lehrer an einer Mittelschule.

"Günes schaffte eine kleine Oase in einem teils chaotischen Fußball-Land", schrieb Fatih Demireli noch kurz vor Beginn der EM in seiner Auswärtsspiel-Kolumne bei SPOX und Goal. Doch das Chaos brach bei dieser EM trotz Günes, trotz individueller Klasse, trotz der guten EM-Quali gnadenlos über die Ay-Yıldızlılar herein.

Und obwohl die Türkei nicht gerade erfolgsverwöhnt von den Leistungen der Nationalmannschaft bei großen Turnieren ist, wiegt dieses blamable Aus noch einmal schwerer als all die WM- und EM-Enttäuschungen, die es immer wieder gab.

Es wiegt schwerer, weil die Voraussetzungen für ein gutes Turnier eigentlich noch nie so präsent waren wie 2021. Es ist, so sagen es zumindest die meisten türkischen Fußballexperten, das größte Desaster bei einem großen Turnier.

Türkei bei der EM: Wer trägt die Schuld am EM-Debakel?

Wie dieser fußballerische Super-GAU zustande gekommen ist, ist die Gretchenfrage. Die Beteiligten selbst beantworteten sie in den ersten Momenten nach dem Ausscheiden am Sonntagabend mit der Unerfahrenheit der Jugend.

So betonte Hakan Calhanoglu beispielsweise, dass dies "ein sehr junges Team" sei, das "definitiv besser" werde. Burak Yilmaz beteuerte, man habe nicht damit umgehen können, bei einem so großen Turnier zu spielen: "Ich sehe, dass wir lernen müssen, wie man solche Turniere spielt. Das ist eine Lektion."

Recht kleinlaute Worte für einen 35 Jahre alten Stürmer, der Lille mit 16 Toren zur Meisterschaft schoss und auf 481 Profispiele (249 Tore) zurückblicken kann. Ja, die Türkei war mit einem Durchschnittsalter von 25,0 Jahren das jüngste Team der EM. Aber kann das Lampenfieber so groß sein, dass plötzlich ausnahmslos alle Spieler weit entfernt von ihrer Normalform sind? Zumal die Türkei nun auch nicht mit einem Team bestehend aus international unerfahrenen A-Junioren angereist war. Im Gegenteil.

"Was ein Caglar Söyüncü, einer der besten Verteidiger der Premier League, an Positionsfehlern gemacht hat, ist unglaublich. Ein Burak Yilmaz oder Hakan Calhanoglu hatten überhaupt keine Bindung. Ein Ozan Tufan, der für die Türkei immer eine Bank ist, hat nicht stattgefunden", resümiert Socrates-Herausgeber und Türkei-Experte Fatih Demireli das Turnierdesaster im Gespräch mit SPOX und Goal.

Türkei-Debakel wegen Trainer Günes? "Dann kann etwas nicht stimmen"

"Wenn so viele Einzelspieler so weit unter ihren Möglichkeiten bleiben, kann etwas nicht stimmen. Und da kommt man dann schnell zum Trainer Senol Günes", erklärt Demireli weiter und spiegelt damit die Generalkritik an Günes in der Türkei wider.

Gerade weil sich die Fehler in der sonst so sattelfesten Defensive um Söyüncü häuften, wurden Rufe nach Veränderungen laut. Es verwunderte, dass beispielsweise Ozan Kabak das Nachsehen hinter Merih Demiral bekam, der nahezu ohne jegliche Matchpraxis bei Juventus zum Turnier angereist und dort einen maximal unglücklichen Start mit dem Eigentor gegen Italien erwischte.

Kabak, dessen Fähigkeiten im Spielaufbau der Türkei möglicherweise weitergeholfen hätten, war am Ende des Turniers einer von sechs Feldspielern, die trotz des desaströsen Turnierverlaufs keine einzige Minute spielten. So erging es auch den Offensivkräften Abdülkadir Ömür oder Kerem Aktürkoglu. Die nachweislich schnellsten Spieler im Kader spielten nicht, obwohl die Mannschaft von Günes massive Probleme hatte, überhaupt mal Tempo in der Offensive aufzunehmen.

Der große Vorwurf, der Günes gemacht wird, ist einerseits die nicht existente Reaktion auf das Spiel- und Turniergeschehen, andererseits aber auch die besonders offensiv auffällige Konzeptlosigkeit, mit der die Mannschaft alle drei Gruppenspiele anging. Dieses Problem bahnte sich schon im Eröffnungsspiel gegen Italien an. Keinen einzigen Torschuss gaben die Türken dort in der ersten Halbzeit ab und schrieben damit EM-Geschichte. Vor ihnen war das nur Italien (2000) und Nordirland (2016) gelungen.

Geht es nach Günes, war genau dieses Spiel gegen den Favoriten auf den Gruppensieg der Ursprung allen Übels. "Das erste Spiel hat sich so negativ auf meine Spieler ausgewirkt. Das kann passieren", sagte er noch am Sonntagabend. Das ist jedoch nur eine Facette.

Wird für das EM-Debakel der Türkei verantwortlich gemacht: Trainer Senol Günes.getty

Türkei bei der EM: "Kein Recht, so schlechten Fußball zu spielen"

"Dieser Kader mit so viel Qualität hat kein Recht, so schlechten Fußball zu spielen", wütete beispielsweise Ahmet Cakar, ehemaliger Schiedsrichter und mittlerweile einer der bekanntesten TV-Experten der Türkei: "Ich habe die Nationalmannschaft in den vergangenen Jahren noch nie so schlecht spielen sehen." Dabei hatte es tatsächlich erste Vorboten eines bösen EM-Erwachens gegeben. Denn so richtig überzeugt hatten die Türken in der Vorbereitung nicht. Im Gegenteil.

Gegen Moldawien (2:0), Guinea (0:0), Aserbaidschan (2:1) und davor im letzten WM-Qualifikationsspiel gegen Lettland (3:3) boten Günes' Spieler in etwa jene fußballerische Magerkost, die sich dann bei der EM fortsetzte. Der Trainer aber schob die Stolper-Testspiele auf das späte Ende der Süper Lig, obwohl er dann während des Turniers kaum einheimische Spieler in seine Startelf berief.

Beim blamablen Scheitern der Türkei ist am Ende also viel zusammengekommen. Etablierte Stars und Führungsspieler, die nicht ansatzweise zu Normalform aufliefen. Ein junges und durch die herbe Auftaktpleite gegen Italien verunsichertes Kollektiv. Und ein Trainer, der dieser verunsicherten Mannschaft kein Offensivkonzept an die Hand gab und keinen Mut für Veränderungen aufbrachte, die vonnöten gewesen wären.

Türkei nach der EM: Welche Konsequenzen hat das Desaster?

Auf der Pressekonferenz nach der 1:3-Niederlage gegen die Schweiz übernahm Günes Verantwortung für den schlechten Turnierverlauf. "Wir haben nicht den nötigen Charakter gezeigt und sind unter unseren Erwartungen geblieben", sagte Günes. Er sei für die Leistungen seiner Mannschaft verantwortlich, denke momentan aber nicht an Rücktritt.

Dass er, der die Türkei in seiner ersten Amtszeit bei der WM 2002 zu ihrer fußballerisch historischen Bestleistung geführt hatte, aber weiterhin im Amt bleibt, gilt aktuell als unwahrscheinlich. Und das obwohl sein Wort im türkischen Fußball großes Gewicht hat und er trotz seiner direkten Art und seiner tiefgreifenden Kritik an der Nachwuchsarbeit geschätzt wird.

Er selbst war vor der EM bemüht, Druck vom Kessel der Erwartungen zu nehmen und betonte immer wieder, dass die WM 2022 das Ziel sei. Denn erst dann sei die junge Mannschaft so weit, ein großes Turnier zu spielen. Dass sie es zumindest 2021 nicht war, zeigte sie auf verhängnisvolle Weise, die Günes im Normalfall den Job kosten müsste.

Sein Hintertürchen könnte die so erfolgreich gestartete WM-Qualifikation sein. Dort überrumpelte man erst die Niederlande mit 4:2 und überzeugte dann über alle Maßen gegen Norwegen (3:0). Spätestens die WM in Katar wäre im Qualifikationsfall allerdings Günes' Schicksalsturnier. Denn dann - so seine eigene Rechnung - wäre die Türkei ja so weit.

EM 2021: Abschlusstabelle der Gruppe A

PlatzMannschaftSp.SUNToreDif.Pkt.
1Italien33007:079
2Wales31113:214
3Schweiz31114:5-14
4Türkei30031:8-70