EM

England nach dem Drama von Wembley: Die Zukunft kann rosig werden - mit oder ohne Southgate

Von Oliver Maywurm
eng-1200
© getty

Aus "It's Coming Home" ist letztlich nichts geworden. Nach Elfmeterschießen verlor England das EM-Finale gegen Italien, auf bitterste Art und Weise platzte der Traum vom Titel vor heimischer Kulisse. Dass Trainer Gareth Southgate mit seinen fragwürdigen Entscheidungen die Verantwortung dafür übernehmen musste und das auch tat - ein klassischer Fall von "Ausgerechnet".

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Ausgerechnet er, der schon damals, im EM-Halbfinale 1996 gegen Deutschland, den entscheiden Versuch vom Punkt vergeben hatte. Diesmal wurde Bukayo Saka die Rolle des tragischen Helden zuteil. Ein 19-Jähriger, der danach genauso wie die beiden anderen Fehlschützen Jadon Sancho und Marcus Rashford in den Sozialen Netzwerken rassistische Beleidigungen ertragen musste. "Dass einige von ihnen jetzt beleidigt werden, ist unverzeihlich", sagte Southgate auf der Pressekonferenz nach dem Endspiel. "Dieses Team steht für ganz England und ganz England sollte hinter ihnen stehen."

Glücklicherweise standen weitere bekannte Persönlichkeiten Saka, Rashford und Sancho zur Seite und machten ihre Missbilligung der Hass-Kommentare deutlich. "Diese englische Mannschaft verdient es, als Helden gewürdigt und nicht, in den sozialen Medien rassistisch beleidigt zu werden", schrieb Englands Premierminister Boris Johnson bei Twitter: "Diejenigen, die für diese entsetzlichen Beleidigungen verantwortlich sind, sollten sich schämen."

Auch Prinz William verurteilte den Umgang mit den drei englischen Jungstars aufs Schärfste: "Die rassistischen Attacken, die nach dem Spiel gestern Abend gegen englische Spieler gerichtet waren, machen mich krank. Es ist völlig inakzeptabel, dass Spieler dieses abscheuliche Verhalten ertragen müssen. Es muss jetzt aufhören und alle Beteiligten sollten zur Rechenschaft gezogen werden", schrieb er.

Zudem stellten sich auch große Namen aus dem sportlichen Lager hinter Sancho, Rashford und Saka: "Es gibt keine Möglichkeit, jemandem die Schuld zu geben und mit dem Finger auf ihn zu zeigen. Es ist eine Lotterie", betonte die englische Verteidiger-Legende Rio Ferdinand und fügte an: "Ich habe gesehen, wie gestandene Spieler sich abwenden und vor einem Elfmeter gedrückt haben. Und selbst die besten Spieler der Welt verschießen manchmal Elfmeter."

England muss "Jetzt-erst-Recht"-Spirit entwickeln

Ex-Arsenal-Star Jack Wilshere wandte sich indes via Instagram epxlizit an Gunners-Talent Saka: "Bukayo Saka, 19 Jahre alt, traute sich, im Finale eines großen Turniers einen Elfmeter zu schießen. Das verlangt Mut. Auch ich bin ein Junge aus Hale End (Stadtteil von London, d. Red.) und bin stolz darauf, was er in diesem Turnier erreicht hat. Behalte den Kopf oben, Junge! Du hast Deinen Namen, den Deiner Familie und des FC Arsenal mit Stolz getragen."

Rashfords Klub Manchester United machte derweil dem 23-jährigen Angreifer der Red Devils Mut: "Ein einzelner Schuss wird dich weder als Mensch noch als Spieler definieren, Marcus. Denke immer daran. Wir freuen und schon, dich wieder zuhause willkommen zu heißen", schrieb der englische Rekordmeister auf Twitter.

Für England wird es nun darauf ankommen, dass Saka, Sancho und Rashford schnellstmöglich wieder aufgebaut werden. Dass sie an dieser Niederlage wachsen, dass sie stärker werden. Und dass sich möglicherweise in der gesamten Mannschaft ein "Jetzt-erst-Recht"-Spirit entwickelt.

Southgate beweist Größe und Reflexion

"Natürlich tut das jetzt für eine Weile weh, aber wir sind auf dem richtigen Weg", sagte Kapitän Harry Kane nach dem Endspiel und blickte bereits ganz schüchtern voraus auf Katar 2022. "Die Jungs werden daraus lernen, und es wird uns Motivation für die WM geben." Spätestens, wenn man Anfang September für die nächsten Partien der WM-Qualifikation erstmals wieder zusammenkommt, wird die Weltmeisterschaft in knapp eineinhalb Jahren das nächste ganz große Ziel Englands sein.

Zum Beispiel der FC Bayern, der ein Jahr nach dem verlorenen Finale dahoam dann 2013 doch noch Champions-League-Sieger wurde, zeigte einst, dass solch eine unfassbar bittere Niederlage im eigenen Wohnzimmer eine Wirkung entfalten kann, die bei der nächsten Gelegenheit, etwas Großes zu leisten, vielleicht den entscheidenden Unterschied ausmacht.

Jedenfalls beweist Southgates Größe und Reflexion, die Verantwortung für das Elfer-Drama zu übernehmen, dass er weiterhin der richtige Coach sein kann. Dass er in der Lage wäre, diesen Spirit in seiner Mannschaft zu entfachen, der nach großen Rückschlägen für große Siege sorgen kann. Zumal er England, das zuvor seit 1996 kein Halbfinale mehr bei einem großen Turnier erreicht hatte, 2018 ins WM-Halbfinale und nun ins EM-Endspiel geführt hat. Zu wissen, dass man unter ihm dazu in der Lage ist, bis zum Schluss um große Titel mitzuspielen, ist zudem eine wichtige Erkenntnis für die Spieler.

Southgate denkt über Zukunft als Nationalcoach nach

Der Vertrag des 50-Jährigen läuft noch bis nach der WM 2022. Eine Option zur Verlängerung bis 2024 ist darin zwar enthalten, ob diese auch gezogen wird, allerdings fraglich. Zwar betonte Southgate direkt nach der Finalniederlage, dass er unbedingt die Qualifikation schaffen und die Three Lions damit nach Katar führen wolle. Er sagte aber auch: "Die Weltmeisterschaft ist gefühlt eine Million Meilen entfernt, aber diese Mannschaft kann sich verbessern. Aber die Zukunft ... ja, ich brauche ein bisschen Zeit, um darüber nachzudenken."

Ob nun mit oder ohne Southgate: Gelingt es, aus der tränenreichen Nacht von Wembley Kraft zu schöpfen und jetzt erst recht alles dafür zu tun, endlich die ewig lange titellose Zeit zu beenden, kann Englands Zukunft rosig werden.

Natürlich lief auch bei dieser EM nicht alles glatt, natürlich war Englands Spielweise mitunter zu bieder und nicht wenige bemängelten, dass man das enorme Potenzial in der Offensive nicht ausreichend auf den Platz gebracht hatte. Aber man war bei den vergangenen beiden großen Turnieren erfolgreich - und dürfte damit auch bei den nächsten beiden Highlights, der WM in Katar und auch der EM 2024 in Deutschland, zu den absoluten Top-Favoriten gehören.

England: Enormes Potenzial für die Zukunft

Das macht schon ein Blick auf die Altersstruktur des Kaders deutlich. Mit Kieran Trippier, Kyle Walker und Jordan Henderson sind nur drei Spieler des EM-Aufgebots 30 oder älter. Schlüsselspieler wie Harry Maguire (28), John Stones (27), Kalvin Phillips (25), Raheem Sterling (26) oder Harry Kane (27) kommen gerade erst ins beste Fußballer-Alter, gleiches gilt für Luke Shaw (26) und Jack Grealish (25). Hinzu kommen Declan Rice (22) und Mason Mount (22), die jetzt schon Stammspieler waren und noch enormes Entwicklungspotenzial haben.

Und dann wäre da ja noch der riesige Pool an hochtalentierten Youngstern wie Rashford (23), Sancho (21), Saka (19), Phil Foden (21), Reece James (21) oder Jude Bellingham (18), die nun bereits über einen langen Zeitraum Turniererfahrung sammeln durften. Jordan Pickford hat derweil erneut bewiesen, dass er endlich ein konstant verlässlicher Keeper ist - und weitere Namen mit glänzender Zukunft wie Trent Alexander-Arnold (22) oder Mason Greenwood (19) waren verletzungsbedingt ja erst gar nicht dabei.

Falls Southgate auf dem Weg zu den nächsten beiden großen Turnieren irgendwann nicht mehr Trainer sein sollte, wäre es wohl für jeden Coach eine extrem reizvolle Aufgabe, mit derart viel Talent zu arbeiten. Und vielleicht ist das Drama von Wembley ja der Startschuss für die Krönung bei der WM in Katar oder der EM in Deutschland.