Der letzte Eindruck bleibt bekanntlich, und so ist das Urteil über Jogi Löw nach dem EM-Ausscheiden gegen England weit negativer, als es seinem Vermächtnis gebühren würde.
Denn in Erinnerung bleiben die wirre Einwechslung von Jamal Musiala in der Nachspielzeit und seine teilweise kruden Theorien danach. Etwa, dass seiner Mannschaft in gewissen Situationen "Reife und Erfahrung" gefehlt habe, was schon allein aufgrund des Durchschnittsalters seiner Startelf von 28,2 Jahren Unfug war.
Der kauzige öffentliche Abschied passte in das Bild, was man spätestens seit dem WM-Titel 2014 von Löw hatte: stur und teilweise entrückt. Obwohl er im persönlichen Gespräch freundlich, kompetent und gewinnend war, verzichtete er zunehmend darauf, seine Arbeit zu erklären und zog sich stattdessen monatelang in den heimischen Schwarzwald zurück.
DFB: Jogi Löw war in den letzten Jahren schlecht beraten
Gerade in den letzten Jahren war der 61-Jährige offenbar schlecht beraten, auch in sportlichen Dingen. Womit man bei der Frage ist, wer den Bundestrainer a.D. hätte wieder auf Kurs bringen können und müssen. Und bei der Antwort ist man schnell bei seinen Vorgesetzten angelangt.
Wobei nicht mehr ganz so viele wie früher übrig sind, nachdem sich der DFB in jüngster Zeit selbst zerlegt hat und aktuell kopflos ohne Präsidenten und Generalsekretär durch die Krise taumelt. Immerhin aber gibt es seit nunmehr zweieinhalb Jahren im Schalker Ex-Vorstand Peter Peters, der derzeit gemeinsam mit Rainer Koch interimistisch den Verband führt, einen klaren Verantwortlichen für die Nationalmannschaft.
Das weiß aber keiner, weil der von der DFL entsandte Taktierer Peters zwar meist im Hintergrund die Strippen zieht, vor der Kamera aber anderen den Vortritt lässt. Auch nach der Niederlage gegen England duckte sich Peters weg, ebenso wie der hauptamtlich für die DFB-Auswahl zuständige Oliver Bierhoff.
DFB: Kein öffentlicher Dank von Bierhoff für Löw auf der Pressekonferenz
Der Doppel-Torschütze zum letzten deutschen EM-Triumph vor 25 Jahren stellte sich aber zumindest am Tag danach virtuell den Medien. Dabei blieb jedoch weniger hängen, was Bierhoff auf der letzten Pressekonferenz des scheidenden Bundestrainers sagte, sondern was er nicht sagte. Nach 17 gemeinsamen Jahren fand der 53-Jährige dort kein öffentliches Wort des Dankes für Löw.
Kritiker fühlten sich durch Bierhoffs Verhalten allerdings bestätigt. Denn für sie hat der DFB-Direktor maßgeblich zu Löws vorzeitigem Abschied beigetragen, unter anderem mit seinen mehr als zweideutigen Aussagen in einem FAZ-Interview vor dem 0:6 in Spanien.
"Den Weg, den der Bundestrainer eingeschlagen hat, gehe ich bis einschließlich der EM mit", betonte er damals, obwohl Löw noch einen Vertrag bis zur WM 2022 hatte - und befeuerte damit erst recht die öffentliche Demontage.
Mit dieser Absatzbewegung wollte sich Bierhoff offenbar einigermaßen geschickt aus der Mitverantwortung stehlen, sowohl der Verbandsspitze als auch einigen Medien und der Öffentlichkeit gegenüber. Das hat allerdings nicht ganz funktioniert wie erhofft.
Umfrage: 47 Prozent für Rücktritt von Oliver Bierhoff
Laut einer Umfrage der Bierhoff zuletzt recht wohlgesonnenen Bild-Zeitung sind 47 Prozent der Meinung, dass auch er als Folge des EM-Debakels und des sportlichen Niedergangs der vergangenen drei Jahre zurücktreten sollte.
Im Fußballgeschäft sehen viele Verantwortliche die Arbeit Bierhoffs ebenfalls sehr kritisch, äußern ihre teils heftigen Vorwürfe ("Egomane", "großer Blender", "denkt nur an sich und seine eigene Macht") aber meist nur vertraulich.
Lothar Matthäus hingegen hat diese Bedenken nun auch ausgesprochen.
"Auch Bierhoff hätte hinterfragt werden müssen"
"Oliver ist sehr clever. Er verkauft sich gut. Aber auch Bierhoff hätte hinterfragt werden müssen. Er ist dafür verantwortlich, dass Jogi Löw das Turnier bekommen hat, obwohl er die WM 2018 vergeigt hatte", sagte der Rekord-Nationalspieler der Bild.
Und weiter: "Es ist seit 2018 viel Negatives passiert: Ich denke an die Nations League, an bittere Niederlagen, an die schlechte Stimmung. Dafür ist Oliver Bierhoff genauso verantwortlich wie Jogi Löw. Aber er wurde nie hinterfragt, alles wurde auf der Mannschaft und Jogis Schultern abgeladen."
Damit, so meinen die weniger wohl gesonnenen Beobachter, dürfe Bierhoff nicht so einfach durchkommen. Tatsächlich kann man den Eindruck gewinnen, als denke der ehemalige DFB-Kapitän wie einige andere Verantwortliche im Verband, dass es nach dem EM-Aus genauso weitergehen könne wie zuvor.
Bierhoff "ein bisschen stolz" auf Verpflichtung von Flick
Bierhoff jedenfalls hat aus seiner Sicht mit der geräuschlosen Verpflichtung von Nachfolger Hansi Flick schon vor dem Turnier für Kontinuität gesorgt und rechnet sich das selber hoch an. "Mein Job ist jedenfalls etwas entspannter. Die allgemeine Lage ist überschaubarer und ruhiger als in einer Situation mit offenem Ende", sagte er kürzlich der Süddeutschen Zeitung. "Da bin ich auch ein bisschen stolz drauf: alles gut und ruhig im Vorfeld gemanagt zu haben."
Sorgen um seinen Job macht er sich anscheinend nicht - und muss sie sich aktuell auch nicht machen. Denn nach dem großen Stühlerücken im DFB ist Bierhoff, abgesehen von EM-Organisator Philipp Lahm, der letzte verbliebene im Präsidium mit sportlicher Kompetenz.
Und im Unterbau muss er keine Konkurrenz fürchten, denn nahezu alle wichtigen Stellen sind nach fast zwei Jahrzehnten an der Otto-Fleck-Schneise mit Gefolgsleuten besetzt, die von einigen Mitarbeitern wegen ihres konformen Auftretens auch spöttisch "Bierhoff-Jünger" genannt werden. Er habe nur noch Ja-Sager um sich herum, klagen einstige Vertraute.
Dem DFB fehlt eine streitbare Persönlichkeit mit Sportkompetenz
Denn was der Verband gerade angesichts der gravierenden sportlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme eigentlich dringend bräuchte, wäre ein Gegenpart zu Bierhoff.
Das meint auch Matthäus: "Es waren in den letzten Jahren keine Fachleute da, die ihn sportlich hätten kritisieren können. Deswegen hat es Oliver Bierhoff einfacher mit gewissen Entscheidungen."
Dem DFB fehlt eine gestandene und streitbare Persönlichkeit mit Sportkompetenz wie es bis 2012 Matthias Sammer war, der sechs Jahre zuvor gegen den erklärten Willen von Bierhoff und Jürgen Klinsmann als Sportdirektor installiert worden und mit seinem Engagement und seinem kritischen Geist für zahlreiche Erfolge im Juniorenbereich und wichtige Weiterentwicklungen maßgeblich war.
DFB: Rangnick grundsätzlich bereit - aber nicht unter Bierhoff
Ralf Rangnick wäre so jemand und grundsätzlich auch bereit, eine leitende Rolle im sportlichen Bereich zu übernehmen - aber nur auf Augenhöhe mit Bierhoff, nicht unter ihm.
Mindestens aber bräuchte der DFB wieder einen Sportdirektor oder einen Nationalmannschafts-Manager. Die letztgenannte Rolle übte Bierhoff an der Seite von Klinsmann und Löw bis 2015 in Vollzeit aus, mit Licht und Schatten.
"Mit seinem Namen verbindet sich die Kommerzialisierung der DFB-Elf", urteilte Spiegel Online: "Bierhoff hat in den Erfolgsjahren der Mannschaft das Rad massiv überdreht, nicht er allein, aber es lag in seiner Verantwortung."
DFB: Oliver Bierhoff ist zum Multi-Funktionär aufgestiegen
Dennoch oder vielleicht gerade deshalb ist er in den vergangenen Jahren zum Multi-Funktionär mit enormer Macht aufgestiegen und aktuell auch für die im Bau befindliche Nachwuchsakademie inklusive Ausbildung und Scouting, die gesamte Fußballentwicklung sowie sämtliche Nationalteams zuständig, also neben den Männern auch Frauen und Junioren.
Daher zweifeln einige, dass Bierhoff all diesen wichtigen Jobs gerecht werden kann, wenn er sich wie bei der WM 2018 oder auch jetzt mehrere Wochen nur auf die A-Mannschaft fokussiert.
Fragen nach seiner Mitverantwortung für die sportlichen Probleme von ganz oben bis ganz unten beim DFB und das nach den jüngsten Misserfolgen mächtig angekratzte Image hat Bierhoff zuletzt meist abgewehrt. "Am Ende liegt es am Präsidium zu entscheiden, ob sie mich weiterhin für den Richtigen halten", sagte er der SZ.
Kritiker: Bereitschaft zur Selbstkritik und echter Wille zur Erneuerung fehlt
Mehrfach hat er zudem in der Vergangenheit betont, er klebe nicht an seinem Stuhl und könne sich jederzeit vorstellen, etwas ganz Neues anzufangen. Insider halten das allerdings inzwischen für ein Lippenbekenntnis und werfen Bierhoff vor, dass er nach bald 20 Jahren im DFB vor allem daran interessiert sei, seine Posten und seine Stellung zu behalten.
Daher fehle es an der Bereitschaft zur Selbstkritik und dem echten Willen zur Erneuerung, weshalb sich in der aktuellen Konstellation auch mit Flick nicht wirklich etwas zum Besseren ändern werde.
Allerdings hat Löws Rücktritt nun den Blick auf Bierhoff freigegeben, der sich nicht mehr hinter dem Langzeit-Bundestrainer verstecken kann. "Der 'Direktor Nationalmannschaften und Akademie', wie sein Titel korrekt heißt, steht allein deswegen wie kein Zweiter für Auf- und Abschwung dieses Teams, weil er jetzt so gut wie der einzige ist, der immer noch dabei ist", schrieb der Spiegel.
DFB: Flick ist keineswegs immer "der liebe Hansi"
Zudem darf man gespannt sein, ob der Übergang zu Flick genauso reibungslos verläuft wie gedacht. Im teilweise heftig geführten Konflikt mit Sportchef Hasan Salihamidzic beim FC Bayern hat der neue Bundestrainer jedenfalls gezeigt, dass er alles andere als "der liebe Hansi" ist, wenn er grundsätzliche Probleme erkennt.
Es könnte also tatsächlich sein, dass die Weiter-so-Mentalität von Bierhoff und der DFB-Spitze nicht verfangen wird. Was gut ist, denn "Augen zu und durch" kann auch nicht die Antwort des größten Sportverbandes der Welt auf die vielleicht tiefste Krise seiner Geschichte sein.