Zunächst überwog beim ÖFB-Team der Frust. Der Frust darüber, eine historische Chance nicht genutzt zu haben. Eine Chance, die am Samstagabend gegen die nach der Gruppenphase so hoch gehandelten Italiener plötzlich in der zweiten Halbzeit zum Greifen nah schien.
"Es war eines der grausamsten Fußballspiele meiner Karriere und von Fußball-Österreich", stellte Kalajdzic nach Abpfiff fest. Die Niederlage sei aus Sicht des Stuttgarter Bundesligaprofis "bitter und unverdient": "Wir hätten gewonnen, wenn Marko nicht mit dem Zeh im Abseits gewesen wäre. Italien hat uns einfach ausgekontert, es war total unverdient. Wir waren mindestens ebenbürtig oder besser. Jeder Österreicher kann stolz sein auf diese Mannschaft."
Konträre Aussagen folgten aus dem italienischen Lager: "Das ist ein verdientes Resultat. Wir haben bis zum Schluss daran geglaubt, wir haben mit allen Kräften den Sieg erringen wollen", sagte Trainer Mancini. 27:15 Schüsse sprechen klar für Italien. Doch es war deutlich knapper, als die Zahlen vermuten lassen - dank einer aufopferungsvollen Mannschaftsleistung der ÖFB-Kicker.
Italien - Österreich: Die Analyse
Österreich agierte in der Anfangsphase wie schon gegen die Ukraine aus einer 4-1-4-1-Grundordnung heraus überraschend mutig und wild im Aufbauspiel, allerdings spielte den Italienern dies eher in die Karten, als dass es ihnen schadete. Der Squadra Azzurra boten sich immer wieder Räume, weil das ÖFB-Team Kontergelegenheiten teils schlampig ausspielte und die Bälle viel zu schnell preisgab.
Besonders über die linke Seite hatten die Österreicher Probleme, weil Insigne Gegenspieler Lainer immer wieder in die Mitte zog, sodass sich für den nominellen Linksverteidiger Spinazzola viel Platz bot. So musste der eigentlich offensiver eingestellte Laimer oftmals unterstützend eingreifen.
In der Folge herrschte viel Chaos in Österreichs Grundordnung, das Italien in Person von Barella und Immobile Großchancen bescherte. Einmal hielt Bachman stark, einmal scheiterte Immobile am Pfosten. Österreich postierte sich anschließend bis zur Pause noch tiefer, Italien erhöhte sukzessive den Druck, band mit vier Offensivkräften die Viererkette der Österreicher und hatte außerdem eine große Präsenz im Zentrum, wo Verratti und Jorginho die Fäden zogen.
Zwölf Abschlüsse verzeichneten die Italiener bis zur Pause, Österreich hielt die Null jedoch auch aufgrund der guten Präsenz in den Zweikämpfen (56 Prozent gewonnen). Das Tempo blieb nach dem Seitenwechsel hoch, allerdings schaffte es das ÖFB-Team zunächst besser, die Ordnung zu halten. So konnten beispielsweise Laimer und auch der sehr präsente Schlager, der zuvor fast auf der Höhe von Sechser Grillitsch agiert hatte, etwas höher schieben.
Die Folge: Das Kombinationsspiel der Österreicher wurde flüssiger, besonders in Pass-Klatsch-Situationen, in denen Schlager, Sabitzer und Laimer zu Arnautovic aufschlossen. Italien stellte das Pressing weitgehend ein, das ÖFB-Team bekam mehr Platz und nutzte diesen gar zur vermeintlichen Führung, bei Alabas Kopfballablage stand Arnautovic hauchzart im Abseits.
Mancini reagierte auf die Schwächephase seiner Mannschaft, brachte Pessina, Locatelli, Belotti und Chiesa für den guten Verratti (95 Prozent Passquote), Barella, Berardi und Immobile. Gerade Locatelli sollte für eine bessere Besetzung des Rückraums am gegnerischen Sechzehner sorgen, Italien gelang es jedoch nicht, die eigene Offensivreihe besser zu staffeln, weshalb die Angriffe oftmals kaum Gefahr ausstrahlten. Stattdessen verfiel Mancinis Mannschaft in Hektik und Panik.
Österreich blieb hingegen griffig und beeindruckte besonders durch das gute Gegenpressing im zweiten Durchgang. Die Verlängerung war daher durchaus verdient, dort legte Italien jedoch noch einmal einen Zahn zu. Besonders auf der Seite von Alaba ergaben sich immer öfter Räume für den eingwechselten Chiesa, der eine starke Verlagerung von Spinazzola technisch sauber verarbeitete und zum 1:0 traf.
Italien schaffte es auch in der Folge, Überzahl auf den Flügeln herzustellen. Eine Verlagerung auf die linke Seite brachte das 2:0 durch Pessina ein. Das ÖFB-Team steckte jedoch selbst danach nicht auf. Foda brachte in Gregoritsch, Schaub und Kalajdzic noch einmal drei frische Kräfte für die Offensive. Letzterer stellte tatsächlich noch einmal den Anschluss her und bescherte Italien damit das erste Gegentor seit Oktober 2020 und 1168 Minuten.
Am Ende zitterte der vierfache Weltmeister die Führung jedoch über die Zeit, im Viertelfinale trifft Italien nun auf den Sieger des Achtelfinals zwischen Belgien und Portugal am Sonntag (21 Uhr).
Italien - Österreich: Die Aufstellungen
- Italien: Donnarumma - di Lorenzo, Acerbi, Bonucci, Spinazzola - Jorginho, Verratti, D. Berardi, Barella, L. Insigne - Immobile
- Österreich: Bachmann - Lainer, Dragovic, Hinteregger, Alaba - X. Schlager, Grillitsch, Laimer, Sabitzer, Baumgartner - Arnautovic
Italien - Österreich: Die Daten des Spiels
Tore: 1:0 Chiesa (95.), 2:0 Pessina (105.), 2:1 Kalajdzic (114.)
- Italien verzeichnete in der ersten Halbzeit zwölf Schüsse. Mehr hatte die Squadra Azzurra nur im Eröffnungsspiel der EM gegen die Türkei (14).
- Österreich produzierte mehr als acht Schüsse auf das Tor der Italiener, mehr hat die Squadra Azzurra in diesem EM-Turnier noch nicht zugelassen.
- Gianluigi Donnarumma ist Italiens neuer Rekordkeeper: Der 22-Jährige knackte den Uralt-Rekord an gegentorlosen Minuten von Legende Dino Zoff, der bei 1143 Minuten lag.
- Marco Verratti brachte 170 von 180 Pässen an den Mann und hatte somit eine Passgenauigkeit von 94,4 Prozent. Nur der Belgier Axel Witsel ist bei dieser EM bislang besser (97,3 Prozent)
- Chiesa erzielte Italiens erstes EM-Tor in einer Verlängerung im achten Anlauf.
Der Star des Spiels: Leonardo Spinazzola (Italien)
Machte im ersten Durchgang viel Betrieb auf der linken Seite im Zusammenspiel mit Lorenzo Insigne. In der Verlängerung dann der entscheidende Mann: bereitete das 1:0 durch Chiesa stark per Seitenverlagerung vor und war auch am 2:0 entscheidend beteiligt. Ebenfalls stark: Federico Chiesa, nach seiner Einwechslung ein belebendes Element.
Der Flop des Spiels: Christoph Baumgartner (Österreich)
Während Sabitzer und sogar Arnautovic die ein oder andere Offensivaktion hatten, hing Baumgartner meist komplett in der Luft und war überhaupt kein Faktor. Verschleppte bei so manch aussichtsreichem Konter das Tempo, außerdem defensiv kaum eine Hilfe.
Der Schiedsrichter: Anthony Taylor (England)
Ließ zu Beginn eine klare Linie vermissen. Während er Arnautovic nach dessen Einsteigen gegen Barella trotz der frühen Phase im Spiel (erste Minute) Gelb zeigte, blieben Immobile und Hinteregger davon verschont. Immobile rutschte rücksichtslos Österreichs Keeper Bachmann, Hinteregger räumte Barella kompromisslos ab. Seine fehlende Linie wirkte sich jedoch nicht negativ auf das Spiel aus, das nicht mehr überhart geführt wurde. Pfiff im zweiten Durchgang dann sehr kleinlich, gab Freistöße, die man auch hätte laufen lassen können, traf im Endeffekt aber keine klaren Fehlentscheidungen. Eine durchschnittliche Leistung.