Vor fast sechs Jahren kam ein unbekannter Paraguayer nach Lissabon. Im Sturm ist er eine Konstante, egal ob in der Liga oder der Europa League. Das Publikum sollte ihn lieben lernen und benannte ihn nach einer Pflanze. Oscar Cardozo wurde zu einer tragenden Säule des Vereins. Jetzt lastet eine große Verantwortung auf seinen Schultern. Benfica will den Titel, Cardozo soll Chelsea erlegen (Mi., 20.45 im LIVE-TICKER).
Wir schreiben die 23. Spielminute im Estadio da Luz zu Lissabon. Dirk Kuyt hat soeben per Elfmeter zum Ausgleich getroffen und den Gästen vom Bosporus das wichtige Auswärtstor verschafft. Die Fans im Gästeblock toben. Jetzt braucht Benfica zwei Tore für den Finaleinzug. Resignation? Keine Spur. Die Mannschaft des portugiesischen Trainers Jorge Jesus demonstriert Kampfgeist, vollführt einen furiosen Angriffswirbel.
Zwölf Minuten später. Akt Eins der Cardozo-Festpiele: Der 1,93-Meter-Hüne ist der Empfänger eines schnell ausgeführten Freistoßes, behauptet an der Strafraumkante den Ball gegen drei Gegenspieler und schließt mit einem platzierten Linksschuss gegen den Lauf des Torhüters ab. In der 66. Spielminute trumpft der 29-Jährige erneut auf. Ein Einwurf von der rechten Seite segelt in den Strafraum, Stockfehler der Fenerbahce-Hintermannschaft und Luisao stochert den Ball im Fallen zu Cardozo. Der Torjäger löst sich gedankenschnell von seinem Gegenspieler, steht instinktiv richtig und verwertet den Ball gekonnt zur 3:1-Führung.
Es ist gleichzeitig der 600. Benfica-Treffer in der Europa League. Das Rückspiel gegen den türkischen Spitzenklub steht sinnbildlich für den enormen Stellenwert des Paraguay-Stürmers und dem Verlangen nach einem europäischen Vereinstitel.
Wehmut und Aderlass
Lange ist sie her, die letzte Finalteilnahme Benficas im internationalen Geschäft. 23 Jahre musste der portugiesische Traditionsverein auf das Europa-League-Finale in Amsterdam warten. Dort geht es am Mittwoch gegen den FC Chelsea (Mi., 20.45 im LIVE-TICKER). Vielen Spielern reichten die Titel in der heimischen Primeira Liga und der ewige Zweikampf mit Konkurrent Porto nicht. Ramires, Di Maria, Luiz oder Coentrao - die Spieler verließen scharenweise den 32-maligen Meister in Richtung England oder Spanien. Ein Aderlass, den As Aguias ("die Adler") Jahr für Jahr hinnehmen müssen, aber stets verkraftet haben. Oscar Cardozo blieb der Fluktuation zum Trotz und erlag auch nicht finanziell großzügigen Angeboten aus der Premier League.
Im Sommer 2007 wechselte Cardozo aus Argentinien in die portugiesische Hauptstadt. Der nach Mitgliedern größte Sportverein der Welt überwies rund zwölf Millionen Euro Ablöse an den Erstligisten Club Atletico Newell's Old Boys. Die Investition machte sich bezahlt, denn in der Saison 2009/2010 schoss der Paraguayer Benfica mit 26 Treffern zur vorerst letzten Meisterschaft. Der Torschützenkönig der Primeira Liga sicherte sich in selbiger Spielzeit gemeinsam mit dem damaligen Bremer Claudio Pizarro auch die Krone in der Europa League. Neun Treffer in zwölf Spielen - definitiv eindrucksvoll!
Schallmauer durchbrochen
Zwei Jahre später besteigt der skandalfreie Star erneut den Stürmer-Olymp - gemeinsam mit Lima (Braga), seinem jetzigen Sturmpartner. Am 12. Spieltag dieser Saison durchbrach Cardozo im Spiel gegen Maritimo Funchal die Schallmauer von 100 Ligatoren. Zum Rekordtorschützen Eusebio ist es dann doch noch ein ziemlich weiter Weg. 383 Toren in 365 Partien erzielte der "Schwarze Panther" für Benfica.
Oscar Cardozo ist ein klassischer Strafraum-Stürmer. Seinen Spitznamen "tacuara" verdankt er seiner Spielweise. Häufig wirkt er steif und staksig. Tacuara stammt aus der Sprache Guarani und bedeutet Schilfrohr oder Rohrstock. Instinktfußballer Cardozo verfügt nicht nur über eine prächtige Kopfballtechnik, sondern besitzt auch eine unabdingbare Kaltschnäuzigkeit vor dem gegnerischen Gehäuse. Der Linksfuß ist zudem ein bemerkenswerter Freistoßspezialist. Mal prügelt der robuste Angreifer den Ball mit roher Gewalt in die Maschen, mal streichelt er ihn mit feiner Technik über die Mauer, vorbei am verdutzten Torwart. Nerven scheinen ihm gänzlich unbekannt - es sei denn es geht um die Fauna.
Angst vor dem Maskottchen
Dem Vereinsmaskottchen "Vitoria", einem Weißkopfseeadler, traut der 29-Jährige nicht wirklich über den Weg: "Für die Zuschauer ist er ein wichtiges Symbol. Ich habe gehört, dass er toll ist. Ich kam ihm nie zu nahe, da ich ein wenig Angst vor ihm habe", erzählte Cardozo dieser Tage. Doch das ist nicht die einzige Schwäche des Benfica-Bombers. Am Kombinationsspiel beteiligt sich Cardozo eher selten. Eher ist er auf die Zuspiele seiner technisch starken Mitspieler angewiesen. Allein die argentinischen Edeltechniker Eduardo Salvio und Nicolas Gaitan brillieren regelmäßig als Vorbereiter. Ebenfalls sicher ist, dass Cardozo trotz vergleichbarer Körpergröße kein zweiter Bolt wird. Der Antritt ist nicht mehr als Mittelmaß.
Die Benfiquistas widmeten ihrem Publikumsliebling ein eigenes Lied, das sich übersetzt so anhört: "Sei vorsichtig, er ist gefährlich. Er ist Oscar "Tacuara" Cardozo, unser Stürmer, geschickt, schieß das Tor, Oscar Cardozo!" Er ist für den Verein nicht wichtig, er ist verdammt wichtig. Seit fast sechs Jahren spielt Cardozo nun in Lissabon. Anfang des Jahres verlängerte er vorzeitig bis 2016.
Tore machen wertvoll
Das neue Arbeitspapier ist mit einer 60-Millionen-Euro-Ausstiegsklausel versehen. Nahezu jeder Benfica-Akteur hat eine solche Klausel im Vertrag, allein die Klausel Salvios' ist vergleichbar üppig. Der Marktwert von Cardozo wird auf knapp 18 Millionen Euro geschätzt - die Ausstiegsklausel hat ergo eher symbolischen Charakter.
Der Paraguayer traf in dieser Spielzeit wettbewerbsübergreifend 31 Mal in 42 Partien. Gegen Fenerbahce erzielte Cardozo seine Europa-League-Treffer fünf und sechs. Damit liegt er hinter Libor Kozak (Lazio Rom, acht Treffer) und Edinson Cavani (Neapel, sieben Treffer) auf Rang drei der diesjährigen Torjägerliste.Cardozo kreiert damit gleichzeitig einen neuen Rekord. Der 46-fache Nationalspieler hat nun 19 Europa-League-Treffer auf dem Konto. Kein Spieler traf öfter für nur einen Klub.
Vorliebe für England
Der internationale Titel hat für den Verein aus dem gleichnamigen Stadteil einen enormen Stellenwert: "Benfica war schon lange in keinem europäischen Finale mehr. Von daher wäre es toll, den Wettbewerb zu gewinnen und den Leuten, die immer zu uns halten, dadurch Freude zu bereiten", sagte er im Interview mit "Uefa.com".
Und der Knipser könnte Freude bereiten, traf er in sechs der letzten zehn Aufeinandertreffen mit englischen Teams. Es ist das neunte Finale in einem UEFA-Wettbewerb in der 109-jährigen Vereinsgeschichte. Den letzten Sieg konnten die Adler im Finale des Europapokals der Landesmeister feiern. Das war 1962. Damals wurde das mächtige Real Madrid bezwungen - Eusebio traf doppelt. Seitdem verlor Benfica fünf Endspiele - zuletzt vor 23 Jahren.
Kein Legionär, Kein Söldner
Steht ein portugiesischer Verein auf dem Gipfel des Erfolges, dann ist es meist ein bittersüßer Moment. Dem Freudetaumel folgt bald die Ernüchterung. Benfica belasten Verbindlichkeiten in Höhe von 450 Millionen Euro.
Das portugiesische Magazin "Futebolista" hat kürzlich eine Liste mit den 20 begehrtesten Spielern Portugals veröffentlicht. Benfica stellt neun Akteure. Cardozo steht nicht auf der Liste. Als sicher gilt, dass das Kadergefüge im Sommer erneut Opfer des Erfolges wird. Nichtsdestotrotz werden die Benfiquistas auch künftig ihrem produktiven Stürmer zujubeln können, denn das Schilfrohr scheint fest verwurzelt im sportlichen Herzen Lissabons.
Der Benfica-Kader im Überblick