"Das ist eine absolute Extremsituation. Es geht jetzt darum, nicht zu verzweifeln. Wir dürfen uns nicht demoralisieren lassen." Christian Streich wirkte fast konsterniert, als er in einem Interview die aktuelle Freiburger Lage zusammenfassen sollte. Viel zu oft hat man schon erlebt, dass solche resignierenden Aussagen den Anfang vom Ende einer Traineranstellung markieren. Nicht so beim SC Freiburg, nicht so bei Christian Streich.
Dabei liest sich die Bilanz vor dem internationalen Alles-oder-Nichts-Spiel gegen Sevilla alles andere als rosig. Platz 16 in der Liga, ein miserables Torverhältnis von 14:28 und nicht zuletzt die Gefahr, in einer Gruppe mit den Fußball-Leichtgewichten Estoril Praia und Slovan Liberec auszuscheiden.
Saisonziel Klassenerhalt
Doch in Freiburg weiß man sich und die Lage einzuschätzen. Anbetracht der Abgänge zahlreicher Leistungsträger und der schweren Verletzungen von Julian Schuster, Mensur Mujdza und Jonathan Schmid kann es für den SC in der Bundesliga dieses Jahr nur gegen den Abstieg gehen.
Ironie des Schicksals: Freiburg kämpft gegen Sevilla eigentlich darum, das größte Problem des Sportclubs noch weiter am Leben zu halten. Das weiß auch Streich: "Es hört sich vielleicht komisch an, aber wir sind gern im Europapokal. Nur: Welchen Preis zahlen wir dafür? Der ist enorm hoch."
Problem Europa League
Tatsächlich ist der Eingriff in den Vereinsalltag viel größer als die ein oder andere Reise und ein paar Spiele mehr vor Jahresende. Auch Trainingsrhythmus, Spielvorbereitung und Verletzungsrisiko sind Faktoren, die den Breisgauern bisher zum Verhängnis wurden.
"Wir können nicht mehr regelmäßig in einem Woche-zu-Woche-Rhythmus trainieren, das ist unser Problem. Wir haben nicht mehr die Möglichkeit, es so zu steuern, dass wir am Wochenende auf den Punkt fit sind. Unter diesen Bedingungen sind wir in manchen Spielen so aufgestellt, dass wir es nach 50, 60 Minuten kräftemäßig nicht mehr schaffen", beschreibt Streich die Probleme durch die Doppelbelastung.
Dass man vor allem in der Europa League des Öfteren mit ärgerlichen Punktverlusten zu kämpfen hat, liegt auch indirekt an der Verletzungsmisere. Durch die zahlreichen Ausfälle ist Streich förmlich gezwungen auf die Jugend zu setzen. Gerade einmal 22,5 Jahre betrug der Altersschnitt der Freiburger Startelf gegen Wolfsburg. Zum Vergleich: Der Bundesliga-Durchschnitt liegt bei 25,3 Jahren.
Streich zur Rotation gezwungen
Viele aktuelle Stammspieler um Immanuel Höhn, Christian Günter oder Nicolas Höfler beginnen gerade erst in der Bundesliga Fuß zu fassen. Dazu kommen die unzähligen Neuen, die oft kaum älter, geschweige denn bundesligaerfahrener sind. Freiburg durchläuft einen Anpassungs- und Integrationsprozess, der normalerweise Spieler für Spieler, Stück für Stück geschieht. Mangels Alternativen passiert das aktuell aber in einer Hau-Ruck-Aktion, die ihresgleichen sucht.
Vor allem in der anfälligen Defensive macht sich die fehlende Spielpraxis bemerkbar. Letztes Jahr stellte man noch mit gerade einmal 40 Gegentreffern die drittbeste Defensive der Liga, mittlerweile sind es schon 28. Durch die zahlreichen Verletzungen wird Streich gerade hier immer wieder zum Umstellen gezwungen.
Paradebeispiel ist das defensive Mittelfeld: Mangels Alternativen muss dort momentan Matthias Ginter neben Bundesliga-Neuling Höfler spielen. Der wäre jedoch vor allem in der wackeligen Innenverteidigung deutlich wertvoller.
Freiburg braucht Zeit
So einfach es klingt, Freiburg braucht momentan vor allem eines: Zeit. Zeit um sich einzuspielen, Zeit für die Regeneration der Verletzten, Zeit um zu trainieren. Ein Glück, dass Vereinsheld Streich diese in Hülle und Fülle bekommt. Bereits in den letzten Spielen in der Liga und im Europapokal war erkennbar, dass sich Streichs runderneuerte Elf mehr und mehr findet.
Vor allem die Defensive wirkt immer besser eingespielt. So musste Lucien Favre nach dem zähen 1:0 seiner Gladbacher gestehen: "Sie haben langsam ihre Mannschaft gefunden. Sie spielen geduldig, und es ist schwer, gegen sie Tore zu schießen." Mit Fallou Diagne und Höhn in der Innenverteidigung, Ginter und Höfler im defensiven Mittelfeld präsentiert sich das Zentrum endlich wieder kompakter.
Alle Ziele noch in Reichweite
Und bei aller Schwarzmalerei: Noch ist die Saison nicht gelaufen. Das Saisonziel Klassenerhalt liegt momentan gerade einmal einen Punkt entfernt. Mit elf Punkten sind die Breisgauer punktgleich mit Europa-League-Konkurrent und Tabellen-15. Eintracht Frankfurt. Es bleibt genügend, Zeit diesen Schönheitsfehler in verbesserter Form zu korrigieren.
Auch der Trend liest sich trotz der letzten drei Niederlagen wieder besser. Vor den zu erwartenden und teils auch sehr knappen und unglücklichen Niederlagen gegen die Topteams aus Wolfsburg, Gladbach und Leverkusen, standen immerhin zwei Siege gegen die Konkurrenz aus Nürnberg und Braunschweig. Nicht zu vergessen der für die Europa League überlebenswichtige Sieg am vorletzten Gruppenspieltag in Liberec.
Sevilla als Prüfstein
Nun hat der Sportclub also sein Endspiel gegen Sevilla (Do., 21.05 Uhr im LIVE-TICKER). Auch wenn die Spanier bereits für das Sechzehntelfinale qualifiziert sind, für den Sportclub stellen sie immer noch eine große Hürde auf dem Weg in die K.o.-Phase dar. Doch auch gegen die Iberer ist Streichs Mannschaft nicht chancenlos.
Zwar reist Sevilla mit einer Serie von drei Siegen in Folge an, doch sind auch die Andalusier nicht unverwundbar. Mut machen sollte das DFB-Pokalspiel gegen sicherlich stärkere Leverkusener, als man über weite Strecken das bessere Team war, jedoch einmal mehr an der eigenen Ineffizienz scheiterte. Mit einer gefestigten Defensive reicht schließlich ein Tor zum Weiterkommen.
Eine Frage bleibt jedoch: Warum eigentlich weiterkommen? Denn auch die zusätzlichen K.o.-Spiele kosten, was Trainer Streich so wichtig ist: Zeit und Kraft fürs Kerngeschäft.
Der SC Freiburg im Überblick