Als Espen Ruud in der 22. Minute anlief und den Freistoß aus fast 30 Metern im Winkel versenkte, schien Borussia Dortmund am Boden. Die Defensive, die in den ersten vier Pflichtspielen der Saison ohne Gegentor geblieben war, hatte nicht nur den schnellsten Drei-Tore-Rückstand sowie den schnellsten Gegentreffer in der Dortmunder Europapokal-Geschichte zugelassen. Es war auch die Art und Weise, wie der BVB auftrat, die bei vielen Fans böse Erinnerungen weckte.
Offensiv ideenlos, defensiv vogelwild - so präsentierte sich Dortmund anfangs nur fünf Tage nach dem furiosen 4:0 über Borussia Mönchengladbach beim norwegischen Fußballzwerg. "Darüber können wir nicht den Mantel des Schweigens decken", gab Manager Michael Zorc mit Blick auf die desolate erste Hälfte zu. Tuchel machte zudem unmissverständlich klar: "Wir haben unsere Lektion gelernt."
"Entsetzt, wie einfach das ging"
Zusätzlich zu den einmal mehr offensichtlichen Konzentrationsdefiziten früh im Spiel, gekrönt durch das 0:1 nach wenigen Sekunden, dürfte Tuchel bei seiner Ansage die eigene Rotation im Hinterkopf gehabt haben. Neben dem komplett geschonten Marco Reus erhielten unter anderem Roman Bürki, Lukasz Piszczek und Sokratis eine Pause, Tuchel gab nach der Partie zu, dass eigentlich auch Mats Hummels in der Halbzeit raus sollte.
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Doch Roman Weidenfeller, Gonzalo Castro und Matthias Ginter konnten ihre Einsatzchance überhaupt nicht nutzen. Die bisher so stabile Dortmunder Defensive präsentierte sich chaotisch, gerade Castro und Ginter sahen mehrfach schlecht aus und waren an den ersten beiden Gegentreffern nicht schuldlos. Das 0:3 ging klar auf Weidenfeller, dem der Freistoß durch die Handschuhe glitt.
"Das wollten wir so nicht. Wir waren auf das, was wir am Anfang erlebt haben, nicht vorbereitet. Ich war entsetzt, wie einfach das ging", kritisierte Tuchel in der ARD und fügte hinzu: "Wir waren nicht richtig auf dem Platz, wir waren nicht bereit, lange Bälle und nachrückende Spieler zu verteidigen."
Watzke meckert, Tuchel als Prophet
Noch in der Pause hatte auch Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke gehadert: "Das waren drei Wirkungstreffer. Es ist ein beschissenes Gefühl. Die Norweger schlagen lange Bälle nach vorne, Occean verteidigt den mit Klauen und Zähnen. Wir können das nicht verteidigen. Das ist Wahnsinn. Egal, mit welcher Mannschaft, wir müssen das Spiel beherrschen. Aus der Entfernung, aus der das 0:3 fiel, ist kein Ball unhaltbar."
Trotzdem war der BVB noch im Spiel, weil ein krasser Torwartfehler der Hausherren den 3:1-Anschlusstreffer durch Pierre-Emerick Aubameyang ermöglichte und die Dortmunder so aus ihrer Trance riss. Tuchel war das in der Halbzeit sofort klar, wie Zorc anschließend verriet: "Er hat zur Mannschaft gesagt: Wer das nächste Tor schießt, gewinnt das Spiel."
Das sollte der Borussia, die zudem mit vier Alumunium-Treffern auch eine Portion Pech hatte, vorbehalten sein - ganze 79 Sekunden nach dem Seitenwechsel verkürzte Shinji Kagawa und in der Schlussphase konnte Dortmund das Spiel schließlich drehen. "Am Ende haben wir Moral gezeigt und hätten noch höher gewinnen müssen", fasste Tuchel zusammen: "Die zweite war eine exzellente, eine spektakuläre Hälfte. Ein großes Kompliment an meine Mannschaft."
Rückfall in alte Muster?
Doch die Tatsache, dass die späte Aufholjagd überhaupt nötig war, dürfte bei Fans wie Verantwortlichen gleichermaßen für kalte Schauer gesorgt haben. Wie auch in der Vorsaison, als Dortmund insgesamt vier Gegentreffer in der ersten Spielminute kassierte, zeigte die Mannschaft schon früh in der Saison wieder Konzentrationsprobleme in der Anfangsphase eines Spiels.
Hummels monierte einmal mehr, dass man "einfach nicht mit einer solchen Schlafmützigkeit ins Spiel gehen" dürfe und auch Zorc waren die Parallelen nicht verborgen geblieben: "Die erste Halbzeit war ein Albtraum. Ich dachte, das Kapitel der frühen Gegentore sei beendet gewesen. Das war ein Schockzustand. Wir haben überhaupt nicht verteidigt, wir haben überhaupt nicht körperbetont gespielt."
So könnte der Beinahe-Ausrutscher am Ende aber durchaus positive Aspekte haben. Zusätzlich zu den personellen Erkenntnissen, Kevin Kampl konnte ebenfalls einmal mehr keinerlei Argumente für sich sammeln, weiß Tuchel spätestens jetzt, dass im mentalen Bereich noch Arbeit angesagt ist. Vorerst aber gilt: Pragmatismus ist Trumpf. "Ich habe vor der Partie gesagt, dass jeder Sieg ein gutes Ergebnis ist", fasste Tuchel zusammen. "Insofern bin ich zufrieden. Wir trauen uns bei allem Respekt schon zu, dass wir auch im Rückspiel gewinnen."
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