Andre Schürrle hat sich nach holprigen anderthalb Jahren in Borussia Dortmunds Startformation gekämpft. Der teuerste Einkauf der Klubgeschichte blühte erst unter Peter Stöger so richtig auf. Schürrles große Leistungssprung verblüfft selbst Kritiker Hans-Joachim Watzke - und passt perfekt ins Zeitfenster.
Genau ein Jahr und sieben Monate ist Schürrle nun schon beim BVB. Bei seiner verspäteten Ankunft in Dortmund, Schürrle genoss nach der EM 2016 einen längeren Urlaub zusammen mit Mario Götze in Malibu, konnte er "es nicht erwarten mit dieser Mannschaft, vor diesen Fans und in diesem Stadion aufzulaufen." So drückte es Schürrle auf Facebook aus. Er wolle die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen.
Als Rekordeinkauf war Schürrle nach Dortmund gekommen. 30 Millionen Euro überwies der BVB auf das Konto des VfL Wolfsburg. Er habe die große Gabe, "kein Ego in seinem Spiel und trotzdem eine Riesen-Torquote" zu haben, begründete der damalige Trainer Thomas Tuchel die Investition.
Dieser horrenden Erwartungshaltung wurde Schürrle nie gerecht. Wie auch? Wenn ihn nicht das Verletzungspech einholte, saß Schürrle meist nur auf der Bank. Von bisher 85 möglichen Pflichtspielen beim BVB war Schürrle in 35 verletzt, das entspricht rund 41 Prozent.
Kein Wunder, dass beide Seiten bisher nicht zufrieden waren.
Andre Schürrles Verletzungshistorie seit seiner Ankunft beim BVB
Schürrles Start in Dortmund vielversprechend
Erstmals während seiner Zeit bei der Borussia stand Schürrle nun in drei aufeinanderfolgenden Pflichtspielen in der Startelf, beim 1:0-Erfolg über Borussia Mönchengladbach sogar schon zum vierten Mal. Schürrle bekommt von Stöger das Vertrauen, das er so konstant nie hatte.
Dabei kam er 2016 gut in die Saison, bereitete beim 2:1-Auswärtssieg in Mainz direkt beide Treffer vor. Zwei Wochen später zog sich Schürrle eine Innenbanddehnung im Knie zu. Er kam zurück, feierte in der Champions-League-Gruppenphase gegen Real Madrid sein Comeback und erzielte gar den Treffer zum 2:2-Endstand.
Und dann: nächste Innenbanddehnung. Die Verletzung schien noch nicht hundert Prozent ausgeheilt, das erneute Comeback ließ rund einen Monat auf sich warten. Andere Spieler wie Ousmane Dembele oder Christian Pulisic hatten sich in den Vordergrund gespielt. "Schürrle fehlt Training, Schürrle fehlt eine absolute Wettkampffitness und als Folge daraus fehlt ihm natürlich Form", sagte Tuchel, der den Linksaußen immer wieder im Zentrum, auf der rechten Außenbahn oder gar im Sturmzentrum aufbot.
Er solle die Winterpause und die Vorbereitung nutzen, "um die Qualität auf den Platz zu bekommen, die wir uns von ihm erwünschen".
Tuchel setzt auf andere Spieler - mit Bosz kommt die Hoffnung
Doch auch nach der Winterpause spielte Schürrle keine große Rolle. Warum auch? Never change a winning Team. Diese Sport-Maxime machte sich offensichtlich auch Tuchel zu eigen.
Schürrle beklagte sich nach Tuchels Entlassung in der SportBild über fehlende Transparenz: Er habe "gut angefangen und saß nach ein paar Spielen trotzdem wieder draußen." Dafür habe er keine Erklärung von Tuchel bekommen.
Umso mehr Hoffnung setzte Schürrle in den neuen Coach Peter Bosz, der ihn durch seine "klare Ansprache" überzeugte. Doch es folgte eine erneute Verletzung: Muskelfaserriss. Schürrle fehlte bis zum 10. Spieltag und kam in eine Dortmunder Mannschaft, die gerade so überhaupt nicht funktionierte.
Schürrle wird Opfer von unfairer Kritik und Häme
Längst hatte Schürrle seinen Kredit, der nach einer ordentlichen, aber bei weitem nicht überragenden Saison beim VfL Wolfsburg ohnehin nicht beachtlich war, verspielt.
Natürlich hatte man sich beim BVB mehr vom teuersten Transfer der Vereinsgeschichte erhofft. Dennoch schien niemand Schürrles Leistung anhand der Rahmenbedingungen zu relativieren. In den Kurzeinsätzen, die der 27-Jährige bekam, konnte man Schürrle nie Willen, Mentalität oder Mannschaftsdienlichkeit absprechen. Er mag angesichts des Leistungsdrucks, der natürlich steigt, je weniger Minuten man bekommt, hier und da zu übermotiviert aufgetreten sein, doch auch Schürrle kämpft freilich nicht nur um seine Spielzeit beim BVB, sondern auch um einen Platz im WM-Kader.
Die Kritik, die bisweilen in Häme und Spott ausartete, gipfelte in einem Statement von Hans-Joachim Watzke im Januar: "Ganz offen und ehrlich gesagt: Beide Seiten sind - Stand jetzt - noch nicht zufrieden. Woran liegt es, dass es nicht funktioniert? Es scheint ja nicht nur bei uns in Dortmund bis jetzt nicht funktioniert zu haben."
Alle Zeichen standen auf Abschied. Schürrle wurde im Winter mit gefühlt jedem Verein Europas in Verbindung gebracht. Leihgabe hier, Dreijahresvertrag dort.
"Großes Kompliment" - Schürrle spielt sich in die Startelf
Vor dem Abflug der Dortmunder in Richtung Bergamo am Mittwoch, 41 Tage nach Watzkes Seitenhieb, genießt Schürrle ein gänzlich anderes Standing beim BVB. "Andre Schürrle muss ich ein großes Kompliment aussprechen: Der macht das schon über Wochen sehr gut", kommentierte kein geringerer als der BVB-Boss die aktuelle Form des Nationalspielers.
Begünstigt durch die Ausfälle von Andriy Yarmolenko und Jadon Sancho spielte sich Schürrle fest. Aus einem gehässigen "Man, man, man, der Schürrle" wurde ein euphorisches "Schüüüüü".
An seiner Spielweise hat sich nichts verändert. Aktuell kommt genau die Stärke zum Tragen, die schon Tuchel in Schürrle gesehen hat: "Wenn man hinter einem solchen Spieler verteidigt, geht es einem besser."
Seit Schürrle vor Jeremy Toljan die linke Außenseite bespielt, wirkt die einstige Achillesferse des BVB deutlich sicherer. Der Offensivmann arbeitet sehr gut mit nach hinten und überzeugt mit aggressivem Zweikampfspiel.
Schürrle: Defensive Stabilität gepaart mit offensiver Effizienz
Das tat er in seinen bisherigen Einsätzen immer. Was nun noch dazu kommt, ist seine Effizienz in der Offensive. Schürrle war in den vergangenen vier Pflichtspielen an vier Treffern direkt beteiligt.
Stöger setzt auf den Nationalspieler: "Er ist ein außergewöhnlicher Spieler, der eine schwere Zeit hatte. Leute erwarten viel von dir, zudem war er vielleicht nicht ganz fit, und plötzlich fällt es dir schwer, gut zu spielen. Wenn er fit ist, wird er von mir Einsatzzeiten bekommen."
Unter dem dritten Trainer läuft es nun für Schürrle. Echte Liebe kann eben auch erst auf den dritten Blick entstehen. Und in dieser entscheidenden und zugleich äußerst schwierigen Phase für den BVB, in der wichtige Spieler verletzt ausfallen, tut Schürrles Reinkarnation besonders gut.