Adi Hütter bei Eintracht Frankfurt: Brüder, spielt den Ball kurz

Kerry Hau
02. Mai 201914:12
Adi Hütter ist seit 2018 Trainer von Eintracht Frankfurt.getty
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Zu Saisonbeginn flog Eintracht Frankfurt gegen einen Viertligisten aus dem DFB-Pokal. Heute kämpfen die Hessen gegen den FC Chelsea um die größte Sensation ihrer Vereinsgeschichte: den Einzug ins Europa-League-Finale (ab 21 Uhr bei DAZN und im LIVETICKER). Hauptverantwortlich dafür ist Trainer Adi Hütter, der nach dem Abschied von Niko Kovac zum FC Bayern den Mut aufbrachte, eine mental gefestigte Mannschaft auf ein fußballerisches Level zu hieven, das ihr nur wenige zutrauten.

"Hoch und weit bringt Sicherheit", lautet ein nur allzu bekanntes Gebot aus der Kreisliga-Bibel. Ein Gebot, das vor allem dann Bedeutung erlangt, wenn der Rasen mal wieder an den Folgen der jüngsten Dorfkirmes-Party leidet und die üblichen Maulwurfshügel von Bierdeckeln und Zigarettenstummeln dekoriert werden.

So mancher Bundesliga-Trainer hat dieses Gebot aber ebenfalls in seinem Repertoire. Erst recht, wenn die Kräfte so ungleich verteilt sind, dass Mitspielen einem Himmelfahrtskommando gleichen würde. So ungleich wie im DFB-Pokalfinale vor ziemlich genau einem Jahr. Da traf die zwergenhafte Sportgemeinde Eintracht Frankfurt auf den übermächtigen Fußballclub Bayern München. Und setzte sich trotz einer bescheidenen fußballerischen Darbietung durch.

Viele dieser hohen und weiten Bälle, gepaart mit "e bissi Dummeglück", wie man in Hessen sagen würde, verhalfen der Eintracht zum Wunder von Berlin. Kevin-Prince Boateng und Ante Rebic, zwei Protagonisten unter den Pokalhelden, dichteten jenes nur allzu bekannte Kreisliga-Gebot infolge ihrer Errungenschaft um.

"Ante hat vor dem Spiel gesagt mit seinem super Deutsch: 'Bruder, schlag' den Ball lang!' Und dann habe ich gesagt: 'Bruder, ich schlag' den Ball lang!'", erzählte Boateng bei der Titelfeier am Römer in schönster Frankfurter Ghetto-Manier.

Was Adi Hütter anders macht als Niko Kovac

Als er und Rebic da bei kaiserlichstem Kaiserwetter Arm in Arm standen und die jubelnde Menge mit ihrer Unterhaltung vor dem Spiel erheiterte, da glaubte in der Mainmetropole niemand so recht daran, dass es in naher Zukunft noch besser werden könnte. Die launische Diva Eintracht, sie würde in der neuen Saison schon wieder auf dem Boden der Tatsachen landen. Vielleicht nicht um den Klassenerhalt kämpfen, aber durchaus Probleme haben, um unter die ersten Zehn zu kommen.

Schließlich ging mit Niko Kovac der Macher des Erfolgs. Derjenige, der diese kunterbunte Bande mit 18 unterschiedlichen Nationen zu einem Mentalitätsmonster geformt hatte. Und schließlich beruhte die "Schlag-den-Ball-lang"-Philosophie hin und wieder ja auch auf einer großen Portion Zufall.

Die zahlreichen Skeptiker durften sich im Spätsommer Stück für Stück bestätigt fühlen. Die Eintracht bekam unter Kovacs Nachfolger Adi Hütter nicht nur den Zorn der Bayern zu spüren. Auf das 0:5 im Supercup folgte das krachende Aus in der ersten Pokalrunde beim SSV Ulm, einem Regionalligsten. Der neue Trainer wurde schon abgeschrieben, bevor seine Mannschaft überhaupt ihr erstes Bundesliga-Spiel absolviert hatte.

Dass diese Mannschaft kein Dreivierteljahr später zu den beliebtesten in ganz Deutschland zählt und erstmals seit 39 Jahren in einem Halbfinale eines europäischen Wettbewerbs steht, ist in erster Linie Hütters Verdienst. Der Österreicher hält nämlich selbst gegen große Gegner wenig davon, den Ball immer nur lang nach vorne zu schlagen.

Keine Frage: Es wäre unklug, die Kopfballstärke eines Sebastien Haller oder Goncalo Paciencia zu ignorieren. Hütter aber definiert seinen Fußball als "Mischung aus Ballbesitz und Pressing". Heißt: Seine Mannschaft spielt den Ball auch mal kurz. Mit mehr Kontrolle. Mit mehr spielerischen Lösungen. Und mit mehr Mut zum Risiko, weil sie nicht wie meist unter Kovac im 5-3-2 agiert, sondern im 3-5-2 - und zwar 90 Minuten lang. Sie verschanzt sich nicht, wenn sie in Führung liegt.

"Der eine Trainer sagt, dass man lieber 4:1 gewinnt, also viele Tore macht und das Risiko eingeht, hinten das eine oder andere zu kassieren. Der andere sagt, dass man 1:0 gewinnt, also trifft und erst einmal nichts anbrennen lässt", sagte Danny da Costa im Gespräch mit SPOX und DAZN über die Unterschiede zwischen Hütter und Kovac.

Adi Hütters Karrierestationen als Trainer

VertragszeitraumTeamSpielePunkte pro Spiel
2018/19 - 2020/21Eintracht Frankfurt451,84
2015/16 - 2017/18BSC Young Boys1331,95
2014/15RB Salzburg542,09
2012/13 - 2013/14Grödig751,76
2009/10 - 2011/12SCR Altach1021,91
2008/09RB Juniors351,31

Adi Hütters Devise: Hoch verteidigen - aber "nicht kopflos"

Der rechte Außenspieler und sein "Gegenstück" auf dem linken Flügel, Filip Kostic, nehmen im System von Hütter eine zentrale Rolle ein. Sie sollen ihre Gegenspieler bereits in Strafraumnähe unter Druck setzen. "Man muss sowieso sein Tor verteidigen, die Frage ist, wo", erklärte der ehemalige Coach von RB Salzburg und Young Boys Bern vor kurzem in einem Interview mit der Zeit. "Vorne heißt, man will den Gegner unter Druck setzen, damit er nicht die Zeit hat, sich zu orientieren. Klar, wenn du den Ball verlierst, kannst du dich zurückziehen und warten. Wenn du dann den Ball wieder gewinnst, hast du aber 70 Meter bis zum Tor. Wenn du aber versuchst, ihn weiter vorne zu gewinnen, hast du nur 30 Meter bis zum Tor."

Entscheidend für Hütter ist dabei, den Gegner im Verbund anzulaufen - "nicht kopflos". Wie die ersten Wochen der Saison zeigten, benötigte seine Mannschaft Zeit, um das zu verinnerlichen. "Es hilft dem Spieler, wenn er weiß: Die Kameraden rechts und links gehen mit, und die hinter mir sind auch schon parat. Bei uns ist es jetzt so, dass ich im Training gar nichts mehr sagen muss. Inzwischen regeln die Spieler das selbst auf dem Platz, wenn einer nicht mitmacht", so der 49-Jährige.

Die Umsetzung unter Wettkampfbedingungen kann sich sehen lassen. Anders ist die märchenhafte Europa-Reise der SGE mit den Stationen Marseille, Rom, Limassol, Donezk, Mailand, Lissabon und jetzt London kaum zu erklären. Hütter ist es Schritt für Schritt gelungen, Kovacs Mentalitätsmonster auf ein höheres fußballerisches Level zu hieven. Die Eintracht gewinnt auch deshalb an Sympathie, weil sie beeindruckenden und erfrischenden Offensivfußball bietet. "Unter Hütter hat sich speziell das Spiel nach vorne verbessert", sagt Jan Aage Fjörtoft im Gespräch mit Goal und SPOX.

Jan Aage Fjörtoft: Chelsea wird Frankfurt "fürchten"

Fjörtoft ging von 1998 bis 2001 selbst für die Eintracht auf Torejagd. Die aus Luka Jovic, Ante Rebic und Sebastien Haller bestehende "Büffelherde" imponiert dem Norweger besonders. Während unter Kovac einer oder gar zwei der drei Angreifer oft mit der Bank vorlieb nehmen musste, schaffte es der frühere Mittelfeldspieler Hütter, sie alle in ihrem System unterzubringen. Rebic (Gelbsperre) und Haller (Bauchmuskelverletzung) werden im Hinspiel gegen Chelsea allerdings fehlen.

In Frankfurt sind sie mittlerweile trotzdem selbstbewusst genug, um von sich zu behaupten, dass sie dem Favoriten eins auswischen können. Fjörtoft ist ebenfalls guter Dinge: "Die Mannschaft ist sehr ausgeglichen. Man hat im Viertelfinale gegen Benfica gesehen, dass sie auch in der Unterzahl in der Lage sind, mutig nach vorne zu spielen und Tore zu erzielen."

Da Chelsea in Bezug auf die noch nicht gesicherte Champions-League-Qualifikation zudem "mehr zu verlieren" habe, werde die Elf von Maurizio Sarri die Frankfurter "fürchten". Warum denn auch nicht? Die Londoner treffen auf einen Gegner, der den Ball nicht nur lang schlägt.