Unerwartete Tests waren schon in der Schule jedermanns Qual. Da denkt man, das Schuljahr ist geschafft und zack, versaut der Lehrer einem die Note. Ähnlich bitter verlief Leipzigs Lehrstunde im Stade Velodrome in Marseille.
Die Roten Bullen starteten famos ins Rückspiel, der Plan eines frühen Auswärtstreffers ging auf. Nun brauchte Marseille schon drei Tore fürs Weiterkommen. Das Problem: die Franzosen stellten innerhalb der nächsten sieben Minuten die Partie auf den Kopf. "Da muss man schon schlucken, wenn man eine so gute Ausgangsposition so leichtfertig aus der Hand gibt", sagte Hasenhüttl im Anschluss.
Marseille setzte dem Europapokal-Neuling einen unerwarteten Test vor die Nase und Leipzig fiel gnadenlos durch.
Leipzigs Standardproblem: Zwei Gegentore nach ruhendem Ball
Wieder einmal brachte ein Standard den Stein ins Rollen. 17 der letzten 34 Pflichtspiel-Gegentore fing RB nach einem ruhenden Ball. Das 1:1 fiel nach einer Ecke, das 1:3 nach einem Freistoß aus dem Halbfeld.
"Da kann man der Verteidigung oder dem Mittelfeld nicht einfach die Schuld geben", verteidigte Kevin Kampl seine Mannschaft angesprochen auf das offensichtliche Problem. Die Entstehung dieser Situationen muss sich Leipzig jedoch sehr wohl selbst ankreiden.
Nahezu jede Angriffsbemühung der Franzosen fußte auf einem Leipziger Fehler. Das ansonsten so starke Umschaltspiel in die Offensive stockte aufgrund falscher Entscheidungen oder der schlichtweg fehlenden Präzision im Passspiel schon im Ansatz. Die Rückwärtsbewegung hinter den verlorenen Ball funktionierte erschreckend schlecht.
Leipzig zeigt desolates Abwehrverhalten in Marseille
Marseille konterte im eigenen Stadion und hatte dabei leichtes Spiel. Die von der Euphorie des Führungstreffers nach vorne gepeitschten Leipziger schienen erst nach dem 1:2 geerdet und auf einen sicheren Spielaufbau bedacht.
Trotz der leichten Stabilisierung kam Marseille problemlos zu Großchancen. "Auch wenn wir versucht haben den Kampf anzunehmen, haben wir es Marseille heute viel zu häufig viel zu einfach gemacht", sagte Hasenhüttl. Das Zentrum um Naby Keita, Diego Demme und Kampl fand keinen Zugriff auf die variablen Offensivspieler der Gastgeber.
Gemeinsam gewann Leipzigs Mittelfeldtrio lediglich jeden zweiten Zweikampf. Defensiv agierte RB zu passiv und lethargisch. Hinzu kamen folgenschwere Abstimmungsfehler. Einzig Torhüter Peter Gulacsi, der immerhin fünf Mal hinter sich greifen musste, trat in Normalform auf. Die im Hinspiel noch so starken Dayot Upamecano und Ibrahima Konate wirkten unbeholfen.
"Solche Fehler, wie wir sie heute gemacht haben, darf man auf internationaler Ebene nicht machen. Eine Spitzenmannschaft kann so nicht verteidigen. Wir müssen viel konsequenter sein", erklärte Gulacsi.
Leipzig hat Qualität für ein Europa-League-Halbfinale
Besonders enttäuscht war der 27 Jahre alte Ungar aufgrund der verpassten, guten Möglichkeit auf ein Weiterkommen. Trotz der vielen Probleme stellte Leipzig erneut die Qualität des Kaders unter Beweis. Auch ohne Timo Werner, dessen Oberschenkelprobleme ihn auf die Bank verdonnerten, erzielte RB in Marseille zwei Treffer.
Dass die Mannschaft immer gut für ein Tor ist, dürfte sich mittlerweile auch in Europa herumgesprochen haben. "Das Halbfinale wäre drin gewesen, wenn wir es schlauer angestellt hätten", sagte Kampl. Spätestens nach dem 1:1 wäre Leipzig gut beraten gewesen, einen Gang rauszunehmen und das Spiel zu entschleunigen.
Stattdessen erzielte Marseille nach einem Leipzig-Eckball das 2:1 und glaubte plötzlich wieder fest ans mögliche Halbfinale. Das oft zitierte Momentum war auf der Seite der Franzosen. Bei Leipzig machte sich spürbar Unsicherheit breit. Sollten die Roten Bullen nach dem 1:4 gegen Bayer Leverkusen etwa ein böses Deja-vu erleben?
Emil Forsberg: "Wir sind besser, als wir glauben"
Auch gegen die Werkself hatte RB geführt, ehe Leverkusen binnen elf Minuten drei Tore erzielte. Nun schien sich dieser Albtraum in Südfrankreich zu wiederholen. Laut Emil Forsberg ein mentales Problem: "Wir sind besser, als wir glauben. Wir müssen daran glauben, dass wir es können. Aber das machen wir momentan nicht."
Schon 16 Punkte verspielte Leipzig allein im Kalenderjahr 2018 nach eigener Führung in der Bundesliga. Hinzu kommt das Remis im Achtelfinal-Rückspiel gegen Zenit St. Petersburg und nun das 2:5 in Marseille.
RB Leipzigs verspielte Führungen im Jahr 2018
Wettbewerb | Gegner | Endergebnis |
Bundesliga (19. Spieltag) | SC Freiburg | 1:2 |
Bundesliga (20. Spieltag) | Hamburger SV | 1:1 |
Bundesliga (23. Spieltag) | Eintracht Frankfurt | 1:2 |
Bundesliga (24. Spieltag) | 1. FC Köln | 1:2 |
Bundesliga (25. Spieltag) | Borussia Dortmund | 1:1 |
Europa League (Achtelfinal-Rückspiel) | Zenit St. Petersburg | 1:1 |
Bundesliga (29. Spieltag) | Bayer Leverkusen | 1:4 |
Europa League (Viertelfinal-Rückspiel) | Olympique Marseille | 2:5 |
RB Leipzig: Der Reifeprozess geht weiter
Wieder proklamierten Trainer und Spieler, die richtigen Lehren aus der bitteren Niederlage ziehen zu wollen. "Es waren sehr interessante erste internationale Spiele für uns, aus denen wir viel mitnehmen und lernen können", sagte etwa Hasenhüttl.
Tatsächlich scheint der Überflieger-Klub aus Leipzig diesen Reifeprozess durchmachen zu müssen. Bis dahin bleibt Leipzig eine Wundertüte, der selbst im ersten Jahr auf europäischem Terrain der Titel in der Europa League zuzutrauen gewesen wäre.
Viel Pause für die Fehleranalyse bleibt Leipzig nicht. Schon am Sonntag erwartet Werder Bremen den Musterschüler der Bundesliga. Für Leipzig geht es immerhin noch um die Möglichkeit, das Gelernte auch im kommenden Jahr in Europa präsentieren zu können. "Wir müssen jetzt alles ausblenden und alles daran setzen in die Champions League zu kommen", sagte Kampl. Aktuell sind es nur zwei Punkte Rückstand auf Platz vier. Leipzig sollte besser für unerwartete Tests gewappnet sein.