Der Weg eines afrikanischen Superstars: Sunday Oliseh (37) wurde in der Bundesliga gefeiert und übel beschimpft - dabei war er immer mehr als ein Fußballer. Das Sprachgenie im Legenden-Interview über seine Weltkarriere, die Zäsur bei Ajax und seine Pläne als Trainer.
SPOX: Herr Oliseh, Sie sind sprachlich hochbegabt. In welcher Sprache neben Deutsch könnten Sie das Interview führen?
Sunday Oliseh: Möglich wären neben Deutsch auch Englisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch und zwei nigerianische Dialekte.
SPOX: Ihre Fähigkeiten sind umso beeindruckender, bedenkt man, dass es beim FC Lüttich, Ihrem erster Verein in Europa, nicht möglich war, zur Schule zu gehen. Dabei waren Sie damals erst 16 Jahre alt. Stimmt das?
Oliseh: Meine Mutter war gegen den Wechsel nach Europa. Ich bekam in Nigeria zwar schon mit 14 von einem Klub namens Julius Berger einen Erstliga-Vertrag, stand mit 15 erstmals in der Startelf und wurde vom damaligen Nationaltrainer Clemens Westerhof angesprochen - dennoch überwogen die Zweifel. Mein Vater hingegen erlaubte es mir und setzte sich durch. Aber nur, wenn die Ausbildung nicht darunter leidet. Ich bin also nach Belgien - und erfuhr als erstes, dass ich doch nicht zur Schule dürfte, weil ich einen Profi-Vertrag besaß und damit als Berufstätiger galt.
SPOX: Wie bildeten Sie sich fort?
Oliseh: Mir blieb nichts anderes übrig, als autodidaktisch zu lernen. Ich kaufte mir auf eigene Kosten sehr viele Bücher, am liebten über Wirtschaft, und las sie nach dem Training abends in meiner Wohnung. Außerdem hörte ich den Gesprächen meiner Mitspieler sehr gut zu. So ging es mit den anderen Sprachen weiter. Bei meiner nächsten Station in Italien bei Reggiana fand ich mit Mitspieler Giuseppe Accardi sofort einen tollen Freund, der mich vom ersten Tag an dazu zwang, Italienisch mit ihm und seiner Familie zu sprechen. Danach ging es nach Köln, wo unter anderem Pablo Thiam sehr hilfreich war. In vielen Vereinen ist es sonst so, dass einheimische Spieler Witze über Neuzugänge reißen, die die Sprache nicht beherrschen, so dass sich die Ausländer häufig immer mehr zurückziehen. Ich hatte hingegen großes Glück.
SPOX: Ihr Sprachtalent ist in Deutschland weniger bekannt, obwohl Sie für Köln, Dortmund und Bochum sieben Jahre in der Bundesliga tätig waren. Sie galten damals als zurückhaltend. Warum die öffentliche Vorsicht?
Oliseh: Vielleicht hätte ich manchmal mehr aus mir herausgehen soll. Auf jeden Fall war es ein Fehler, dass ich in Dortmund geschwiegen habe, als es zum Zerwürfnis zwischen dem Management und der Mannschaft kam. Damals, 2002, 2003, als sich die Finanzkrise abzeichnete, versuchte der Verein, die besser verdienenden Spieler zu verkaufen - ohne uns über die wirtschaftliche Lage richtig aufzuklären. Stattdessen pickte sich die sportliche Führung einige wie Marcio Amoroso, Fredi Bobic und mich heraus und stellten uns als gierige Abzocker hin, die nur Probleme machen würden. Wie die anderen Spieler schwieg ich aber, weil ich mich nicht auf das Niveau begeben wollte. In Nachhinein ein großes Versäumnis: Ich hätte die Fans aufklären müssen, wie es damals wirklich war, dann hätten sie mich besser verstanden.
SPOX: Stattdessen bekamen Sie den Ruf, ein schwierig zu führender Spieler zu sein. Wozu auch ein Streit mit dem damaligen Trainer Matthias Sammer beitrug.
Oliseh: Wir sind unterschiedliche Charaktere. Mir geht es auch um Erfolg, aber bei Matthias war Erfolg das einzige Kriterium und Spaß bei der Arbeit interessierte ihn nicht - was auch vollkommen legitim ist. Dennoch wurde unser Verhältnis so thematisiert, weil es einigen anderen die Möglichkeit gab, meinen Weggang zu forcieren. Wenn Matthias und ich uns heutzutage sehen, lachen wir laut darüber und reden lieber über die großartigen Erfolge. Die Mannschaft war international bunt besetzt und dennoch eine verschworene Einheit, gekrönt mit der Meisterschaft und dem UEFA-Cup-Finale 2002.
SPOX: Im Januar 2003 wurden Sie zum VfL Bochum abgegeben, erwiesen sich als große Verstärkung - und erreichten dennoch im März 2004 den Tiefpunkt, als Sie nach einem Spiel wegen einer angeblich rassistischen Beleidigung Ihres Mitspielers Vahid Hashemian diesem eine Kopfnuss verpassten und dessen Nasenbein brachen. Daraufhin mussten Sie Bochum verlassen. Was ist damals geschehen?
Oliseh: Wir Afrikaner sind es gewohnt, dass man Witze über unsere Armut macht. Aber wenn jemand unseren Respekt verletzt, kann man es nicht akzeptieren. Wenn ein Gegenspieler mich beleidigt, stört es mich nicht, weil ich weiß, dass er mich nur provozieren will. Dass mir jedoch ein Mitspieler so etwas sagt, habe ich noch nie erlebt und brachte mich aus der Fassung. Zwischen Vahid und mir ist jedoch längst alles ausgeräumt.
SPOX: Trotz des vorherigen Ärgers und eines arbeitsrechtlichen Streits kehrten Sie im Sommer 2004 nach Dortmund zurück und halfen dabei, den Absturz zu bremsen.
Oliseh: Die Situation sah so aus: Dortmund wurde damals vom Arbeitsgericht dazu verurteilt, 75 Prozent meines Gehalts weiterzuzahlen, auch wenn ich einen neuen Klub finde und von diesem ebenfalls ein Gehalt beziehe. Mir ging es aber nicht darum, Geld zu verdienen. Ich wollte den Namen Oliseh reinwaschen, für den ich so lange gearbeitet habe. Und ich wollte den Fans zeigen, wie sehr ich am BVB hänge.
SPOX: Ist Dortmund Ihr Verein des Herzen?
Oliseh: Schwere Wahl - aber mein Verein des Herzens ist Köln. Zwar war ich dort nur für zwei Jahre, dennoch behandelten mich die Fans, als ob ich einer von ihnen wäre und aus der eigenen Jugend stammen würde. Ohne dieses Gefühl der Sicherheit wäre meine Leistungsexplosion in der zweiten Saison nicht denkbar gewesen. Ich setze mich heute noch gerne in ins Auto und fahre aus meinem belgischen Heimatort die 80 Kilometer nach Köln, nur um dort Essen zu gehen.
SPOX: Dabei haben Sie auch bei den Weltklubs Juventus Turin und Ajax Amsterdam gespielt.
Oliseh: Bei Juventus stand ich mit den besten Fußballern der Welt auf dem Platz, Zidane, Del Piero, van der Sar, Inzaghi, Davids - doch ich fand mich nicht so zurecht. Bei Ajax hingegen lief es super. Zwar ist Köln meine Nummer eins, aber erst in Amsterdam lernte ich Taktik so zu lieben, dass mein Wunsch fortan lautete, Chefcoach zu werden. Ich erkannte erst in Amsterdam, was es tatsächlich heißt, ein Spiel zu lesen. Dass meine Ex-Mitspieler Danny Blind, Michael Laudrup, Frank und Ronald de Boer oder Shota Arveladze wie ich Trainer wurden, ist kein Zufall.
SPOX: Sie besitzen seit diesem Sommer die UEFA-Pro-Lizenz und könnten jedes Team trainieren. Wann nehmen Sie die erste Stelle im Profifußball an?
Oliseh: In den vergangenen Monaten und Jahren wurde mir unter anderem angeboten, als Jugendtrainer bei Ajax oder als Co-Trainer bei Standard Lüttich einzusteigen. Ich lehnte jedes Mal ab, weil es zeitlich nicht gepasst hat und ich zunächst unbedingt die Lizenz bekommen wollte. Aber jetzt fühle ich mich bereit.
SPOX: Derzeit arbeiten Sie als TV-Experte sowie Zeitungskolumnist und besitzen eine Beratungsagentur. Dabei könnten Sie wohl von heute auf morgen beim nigerianischen Verband anfangen.
Oliseh: Ich wurde vor einiger Zeit gefragt, ob ich nicht nach Nigeria zurückkommen und eine ähnliche Rolle einnehmen wolle wie Matthias Sammer beim DFB. Die Position des Sportdirektors hätte schon was, dennoch entschied ich mich dagegen. Einerseits, weil die Korruption noch schlimmer geworden ist. Andererseits, weil ich meiner Familie keinen Umzug nach Nigeria zumuten möchte.
SPOX: Sie stellen Familie vor Job?
Oliseh: Ich bin für alles dankbar, was ich in Afrika erreicht habe. Die Leute sind noch immer verrückt nach einem und haben nichts vergessen. Der Nachteil dessen ist aber, dass dort weder ich noch meine Kinder normal leben könnten, weil ich diesen Volkshelden-Status innehabe. In unserem belgischen Heimatdorf in der Nähe von Eupen sind wir hingegen eine ganz normale Familie. Ich habe in dem gleichen Örtchen schon gelebt, als ich mit 16 aus Nigeria nach Belgien gezogen bin. Für die Menschen dort bin ich kein Star, sondern nur Sunday. Dieses bodenständige Umfeld ist perfekt für das Heranwachsen meiner Kinder.
SPOX: Sie sind der etwas andere Fußballer. Ein Indiz dafür: Sie traten bereits mit 32 Jahren vom Leistungssport zurück, in der Nationalmannschaft haben Sie sogar mit 27 Schluss gemacht. Können Sie gut loslassen?
Oliseh: Ich glaube: ja. Deswegen ließ ich die Karriere in Genk ausklingen. Ich hätte damals auch von Dortmund zu Portmouth oder Panathinaikos wechseln können, aber ich wollte aus freien Stücken aufhören und nicht dazu gezwungen werden. Ich befürchtete, gesundheitliche Folgeschäden zu erleiden, nur weil man den richtigen Zeitpunkt verpasst. Mein Opa sagte mir sehr oft: 'Das Leben ist eine Bühne. Jeder hat seine Zeit im Scheinwerferlicht, aber man sollte freiwillig Platz machen für den nächsten.' Seinen Rat habe ich befolgt.
SPOX: Sie hatten eine sehr innige Beziehung zu ihrem 1997 verstorbenen Opa. Was hat Sie so verbunden?
Oliseh: Als ich ganz klein war, sind meine Eltern mit mir vom Land in die Hauptstadt Lagos gezogen und bauten eine LKW-Transportfirma auf. Wir mussten nicht hungern, aber wir waren auch nicht wohlhabend und es gab weniger rosige Zeiten. Für die Sommerferien wurde ich immer zu meinen Großeltern ins Dorf geschickt - und es war herrlich. Mit dem ersten Sonnenstrahl bin ich mit dem Opa raus und half dabei, das Land zu bestellen. Dabei erklärte er mir, worauf ich in der Wildnis zu achten habe und wie ich mich verhalten soll, wenn ich Löwen, Geparden und andere wilde Tiere sehe. Und nachmittags konnte ich Schwimmen oder Fußballspielen.
SPOX: Welche Vorstellung hatte Ihr Opa von der Bekanntheit des Enkels?
Oliseh: Sein großer Traum war es, am Fernseher mich und Nigerias Nationalteam im Olympia-Finale 1996 zu sehen. Wegen des Zeitunterschieds nach Atlanta blieb er deswegen sogar bis nach Mitternacht wach - das einzige Mal in seinem Leben. Ein Jahr später starb er im Alter von 110 Jahren. Ich hoffe, ich habe nicht nur den Namen Oliseh, sondern auch seine Gene geerbt. (lacht)
Sunday Oliseh im Steckbrief