Johan Cruyff verlor sich bei der Beschreibung eines Ideals des von ihm so maßgeblich geprägten Spiels einst in einem scheinbaren Widerspruch: "Der einfache Fußball ist der schönste. Aber einfacher Fußball ist zugleich auch am schwersten", sagte die kürzlich verstorbene Oranje-Legende einst.
Johan Cruyff - Bilder einer Legende
Und der schönste Fußball, das war speziell aus Sicht der Holländer seit den 1970er Jahren stets das einst innovative und einer Zäsur gleichkommende 4-3-3. Seit den Zeiten von Trainer Rinus Michels und Johan Cruyff, seinem verlängerten Arm bei Ajax Amsterdam und dem FC Barcelona, gilt das Spielsystem mit den beiden Flügelstürmern als heilig.
Doch die internationalen Erfolge niederländischer Teams sind lange her, der letzte datiert mit dem UEFA-- Cup-Sieg von Feyenoord Rotterdam aus dem Jahr 2002. Die Nationalelf erreichte zwar 2014 in Brasilien das WM-Halbfinale, aber nicht zuletzt deshalb, weil Louis van Gaal sich nicht um den heiligen 4-3-3-Gral scherte und seine Elf stattdessen in einem 5-3-2 aufs Feld schickte. Das sorgte in den Niederlande für mächtig Ärger, von einer "Todsünde" sprach die Ikone Arie Haan, von einer "Verpflichtung gegenüber dem Spiel als solchen" Johan Cruyff.
4-3-3- als heilige Kuh
Die Erkenntnis, dass "form follows function" - das System wird durch die spielerischen Möglichkeiten der Akteure bestimmt - auch eine Option ist, setzt sich in Holland immer noch kaum durch. "Alle unsere Jugendmannschaften spielen das 4-3-3. Lediglich der zentrale Mittelfeldspieler agiert nun etwas defensiver", erklärt der Journalist Sander van Hal von Endemol.
Sein Kollege Pieter Zwart von der Fachseite Catenaccio pflichtet ihm bei. "Manche Trainer sind sogar vertraglich verpflichtet, dieses System spielen zu lassen."
Während es mittlerweile die Maxime des modernen Spiels ist, als Spieler möglichst viele Rollen auf dem Feld ausüben zu können, ist diese grundlegende Erkenntnis in Holland noch nicht gereift. "Wir leben noch immer in der Vergangenheit", konstatiert van Hal.
Ungeachtet der Entwicklungen im Weltfußball, flexibel auf Spielverlauf und Gegner reagieren zu können, streben die holländischen Teams immer noch primär nach offensiver Dominanz. Derart starr berauben sie sich anderer Optionen.
"Es ist sicher auch ein Problem, dass die Spieler in unseren Jugendakademien nur lernen, was sie bei eigenem Ballbesitz tun. Wir bringen ihnen nicht bei, was zu tun ist, wenn der Gegner deutlich besser ist und wie man als gesamtes Team verteidigt", sagt van Hal.
Es hapert an der Basis
Nach Ansicht der holländischen Experten liegt das Problem aber nicht nur an der System-Doktrin, sondern auch auf den Bänken von Amsterdam bis Eindhoven: Ein mangelndes Taktik-Verständnis der Trainer macht auch Pieter Zwart mitverantwortlich für die Misere. Zudem sei die Ausbildung nicht so intensiv wie das zehnmonatige deutsche Pendant.
Es gibt in Holland, wie hierzulande einst für die 1990er-Weltmeister, für ehemalige Profis - trotz der eigentlichen Abschaffung dieser Praxis - immer mal wieder eine verkürzte Ausbildung. Jüngstes Beispiel dabei: Clarence Seedorf. Aus Sicht vieler Experten trägt das dazu bei, dass die neue Trainergeneration den Talenten nicht zum ganz großen Sprung verhilft.
Das Niveau der Eredivise, das "von Jahr zu Jahr schlechter wird" (van Hal), ist indes ein weiteres großes Problem: Bleiben die Talente zu lange in der Heimat, haben sie Angst, durch das schwache Niveau irgendwann den Anschluss zu verpassen. Wechseln sie hingegen zu früh zu Spitzenklubs, finden sie sich dort auf der Bank wieder oder landen eben gar nicht erst bei solchen.
Die Misere des niederländischen Fußballs ist insofern grundsätzlicher Natur. Er hat gerade im U-Bereich noch immer einige Talente zu bieten, aber es fehlt an der Quantität der Qualität. Unterm Strich bedürfte es eines Umbruchs, um international wieder eine Rolle zu spielen.
Veränderungen tun Not
Um dieses schwierige Unterfangen zu bewältigen, setzte der niederländische Verband (KNVB) 2014 eine Kommission unter der Leitung des ehemaligen holländischen Jugendtrainers und Sportdirektors (u.a. Anschi Machatschkala) Jelle Goes ein, um den heimischen Fußball aus der Diaspora zu führen.
Im Mai dieses Jahres soll der unter der Mitarbeit ehemaliger Stars wie Marco van Basten oder Ruud Gullit entwickelte Masterplan vorgestellt werden. Bis dahin blocken die Verantwortlichen alle Anfragen der mehrheitlich kritisch eingestellten Journalisten.
Die Notwendigkeit dieser Maßnahme demonstriert aber nicht nur das Verpassen der EM 2016, sondern vielmehr auch die erschreckende Bilanz der wichtigsten U-Teams: Drei der jüngsten vier Europameisterschaften verpasste Oranjes U21, die WM fand die letzten fünf Male ohne die U20 statt
Die größten Talente wie etwa Uniteds Memphis Depay bekommen keine Zeit, sich in den U-Teams zu beweisen. Vielmehr werden sie bereits in der Elftal gebraucht, was viel über den Zustand des holländischen Fußballs aussagt.
Nicht alles Gold, was glänzt
Denn in Holland bräuchte es dringend Ersatz für die Goldene Generation um Spieler wie Wesley Sneijder, Robin van Persie oder Arjen Robben, von denen längst nur noch letzterer höchsten Ansprüchen genügt. So lastet die Hoffnung auf den schmalen Schultern von jungen Männern wie Ajax' Jairo Riedewald oder Riechedly Bazoer (beide 19).
Dass die Spieler im sogenannten "besten Fußballalter" wie etwa Daley Blind (United) oder Daryl Janmaat von den Magpies schlicht nicht den allerhöchsten Ansprüchen genügen, ist die eine Sache.
Verdeutlicht wird das Nachschub-Problem aber vor allem durch eine Statistik. Zwischen den Youngstern und den Routiniers klafft eine schmerzhafte Lücke: Mit nur 25 Prozent hatte Holland während der EM-Quali den geringsten Wert in der wichtigen Altersspanne der Jahrgänge 85 bis 89.