Im Rheinland war Raimunt Zieler begehrter Jugendcoach - ein überraschendes Jobangebot später ist der Weltmeister-Papa dabei, den Fußball in Chinas autonomer Region der Inneren Mongolei in einem Pilotprojekt der Regierung als Verbandstrainer auf Vordermann bringen. Der Auswanderer über den Bürokratie- und Behördenwahnsinn in China, mangelhaftes Training in einem infrastrukturellen Paradies - und Chinas langen Weg in die Weltspitze.
SPOX: Herr Zieler, wie um alles in der Welt landet man in der Inneren Mongolei?
Raimunt Zieler: (lacht) Das ist, wie so vieles im Fußball, dem Zufall geschuldet. Es gab in meinem Umfeld eine Person, die seit Jahren berufliche Kontakte nach China pflegte, wenn auch eher im Business-Bereich. Als derjenige eine Anfrage aus China in Sachen Fußball bekam, wandte er sich an den Fußball-Verband Mittelrhein - und dort vermittelte man meinen Kontakt.
SPOX: "Hallo Herr Zieler, bitte kommen sie schnellstmöglich nach China, wir brauchen Sie"?
Zieler: Zunächst ging es nur um Trainingslager für chinesische Teams, die in Deutschland stattfinden sollten. Aber irgendwann kam tatsächlich die Frage, ob ich mir vorstellen könnte, nach China zu gehen. So kam das Ganze ins Rollen.
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SPOX: Und für Sie stand sofort fest, dass das ein Abenteuer ist, das Sie antreten werden?
Zieler: Am Anfang konnte ich ehrlich gesagt gar nichts mit dem Projekt anfangen und wusste in keinster Weise, was mich erwarten würde. Ich habe dann im August vergangenen Jahres einen Schnupper-Besuch gemacht, um Projekt, Leute und die Hauptstadt der Inneren Mongolei Hohhot kennenzulernen. Danach war klar: Das kann ich mir sehr gut vorstellen!
SPOX: Im Oktober 2015 sind Sie ausgewandert und haben dann offiziell Ihren Posten als Verbandstrainer der Inneren Mongolei angetreten.
Zieler: Das war anfangs nicht einfach, weil ich seit zwölf Jahren in einer glücklichen Beziehung bin. Die dreieinhalb Wochen Heimaturlaub im Februar, die ich gemacht habe, waren bislang die einzige Zeit, in der ich meine Familie und Freunde besuchen konnte. Ansonsten skypet man, schreibt sich oder telefoniert.
SPOX: Aus Sicht der Arbeit: Wie bereitet man sich auf einen solchen Kulturschock vor?
Zieler: Neben massenweise Informationen, die man sich aus dem Internet zieht, hat der kurze Vorab-Aufenthalt in China sehr geholfen. Da konnte ich vieles schon im Detail kennenlernen - die handelnden Personen, die Infrastruktur, das Projekt oder auch die Küche. Jobtechnisch, als Fußballtrainer, wusste ich ja sehr genau, was auf mich zukommt. In Bezug auf die sportliche Herausforderung war es deshalb nicht das "große Abenteuer".
SPOX: Wie sieht es mit der Verständigung aus?
Zieler: Ich habe einen Dolmetscher, der in Deutschland studiert hat. Wenn der nicht kann, gibt's noch einen für Englisch. Irgendwie versteht man sich. (lacht)
SPOX: Wie muss man sich denn das "Projekt" vorstellen? Und vor allem: Wie sieht Ihre Aufgabe dabei aus?
Zieler: Ich bin Angestellter der Hohhot Football Association. Und meine Aufgabe - ganz allgemein formuliert - besteht darin, den Fußball in der Inneren Mongolei zu entwickeln und neue Impulse zu setzen. Ich bin stark in der Trainerausbildung tätig, was ein sehr wichtiger Punkt ist. Die Organisation des Jugendfußballs ist hier stark mit den Schulen verknüpft, deshalb besuche ich auch direkt Grund-, Mittel- und Oberschulen, mache Demonstrationstrainings, bin in der Talentsichtung tätig, stelle Auswahlmannschaften zusammen und bin für den in Hohhot ansässigen Profiklub aus der zweiten Liga, Nei Mongol Zhongyou, in beratender Funktion für die Herren- und Frauenmannschaft tätig.
SPOX: Puh...
Zieler: Es gibt Tage, die sind unglaublich stressig, ja. (lacht) Aber man muss bedenken, dass hier alles sehr, sehr langsam anrollt. Die Bürokratie ist ein großes Thema. Jeder, der sich in Deutschland darüber aufregt, dass es bei bürokratischen Prozessen so langsam vorangeht, der darf gerne mal vorbeikommen. Hier lernt man Geduld.
SPOX: Ist das die größte Herausforderung?
Zieler: Die größte Herausforderung ist es, auf einem sehr tiefen fußballerischem Niveau anzusetzen. Die Qualität der Übungsleiter ist mangelhaft, weil es keine systematische Trainer-Ausbildung in China gibt, sondern jeder für sich vor sich hinwurschtelt. Was dann wiederum negativ auf die Qualität der Spieler abfärbt. In Deutschland spricht man vom alters- und entwicklungsgerechten Training - was man hier aber gar nicht im Sinn der deutschen Ausbildunsphilosophie umsetzen kann, weil ein 13-, 14-Jähriger trainiert werden muss wie ein Elfjähriger. Es fehlt an allen Ecken und Enden an Grundlagen.
SPOX: Wie groß ist denn die Region, der Wirkungskreis, in dem Sie tätig sind?
Zieler: Meine Basis ist Hohhot und das Einzugsgebiet ist die komplette Innere Mongolei, also fast dreimal die Fläche von Deutschland. Ich bin hier auch mehr oder weniger ein Einzelkämpfer. Alle Trainer, auch an allen Schulen, sind meine Zielgruppe. Man nimmt sich Themen vor, erklärt, warum man bestimmte Trainingsformen macht und andere besser weglässt oder dass man Fußballspielen am besten durch Fußballspielen, kombiniert mit den jeweiligen Trainingszielen, lernt.
SPOX: Wie kann es sein, dass der Fußball in einem derart großen und fortschrittlichen Land so hinterherhinkt?
Zieler: Es gibt viele und vielseitige Gründe. Der Gravierendste ist für mich, dass die Spieler nicht in einem regelmäßigen Spielbetrieb sind. Es gibt keine Meisterschaft oder Pokalwettbewerbe, in denen man sich jedes Wochenende mit anderen Mannschaften und Spielern im Wettkampf vergleichen kann. Das ist ein großer Missstand! Hier trainiert man vier, fünf Monate, um dann in kürzester Zeit ein regional eng begrenztes Turnier oder eine Stadtmeisterschaft auszuspielen. Die Spieler haben keine Spielpraxis, die ist jedoch extrem wichtig für ihre Entwicklung. Da muss man mittelfristig gute Lösungen finden. Talente im Alter zwischen acht und zehn Jahren gibt es in China viele. Aus den genannten Gründen haben die meisten von ihnen jedoch keine Chance, sich im Leistungsfußball zu etablieren oder überhaupt nach oben zu kommen. Ein weiteres Problem ist auch, dass in China immer die verschiedensten Institutionen in Entscheidungsprozesse involviert sind.
SPOX: Erdrückt die Politik den Sport?
Zieler: Für Fußball in den Schulen ist das Erziehungsministerium zuständig. Dann gibt es aber noch ein Sportministerium. Und ein Bildungsministerium. Und diese drei Ministerien müssen in jeder kleinen Frage einen einheitlichen Weg finden, der von allen gestützt und getragen wird. Stehen in der Schule Prüfungen an, sorgen der Schuldirektor und die Eltern der jungen Fußballer und Fußballerinnen dafür, dass der Fußball hinten anstehen muss. Da kann man sich vorstellen, wie langsam alles voran geht.
SPOX: Staatspräsident Xi Jinping hat sich mittlerweile persönlich eingeschaltet, der Staatsrat einen Aktionsplan verabschiedet: Fußball als Schulfach, Trainerausbildung, Spielerausbildung, Akademien werden gebaut - die Wiederbelebung des chinesischen Fußballs hat höchste Priorität. Was bekommt man davon in der Inneren Mongolei mit?
Zieler: Alles sinnvolle Maßnahmen, aber was man bedenken muss: Es wurde über Jahre hin eine Ein-Kind-Politik gefahren. Ich arbeite also mit einer Generation verhätschelter Einzelkinder. (lacht) Dennoch ist die Fußballbegeisterung hier riesengroß. Und gerade die Innere Mongolei wurde in China als Pilotprojekt auserkoren, um neue Strukturen einzuführen und in der Entwicklung voranzukommen. Das hatte auch den Grund, weil die Jugendlichen in der Inneren Mongolei etwas größer und kräftiger sind, als in anderen Teilen Chinas. Es werden auch für Wintertrainingslager viele Gelder ausgegeben. Der Winter in der Inneren Mongolei ist hart und lang, deshalb haben die Mannschaften die Möglichkeit, die Region zu wechseln und sich trotzdem auf die Turniere vorzubereiten. Alleine das, oder dass man - wie in meinem Fall - einen deutschen Fußball-Lehrer engagiert hat, zeigt, dass man vorankommen will. Aber wie gesagt: Die Mühlen mahlen sehr langsam. Und man wird eine gute Portion Geduld brauchen, bis erste Erfolge sichtbar werden.
SPOX: Wie wechselt man denn als Fußballmannschaft vom Land mal eben die Region?
Zieler: Indem ganze Schulmannschaften, mitsamt ihren Trainern, Betreuern und natürlich Lehrern, in wärmere Gebiete gekarrt werden. Ich habe im Winter vier Wochen lang ein Trainingslager auf der Insel Hainan im Südchinesichen Meer besucht, von minus 15 auf plus 20 Grad, wunderschön! (lacht) Da wurden mehr als 30 Mannschaften aus der Inneren Mongolei mit dem Flugzeug hingeflogen, die dann in Hotels und Herbergen unterbracht sind und teils sogar auf perfekten Kunstrasenplätzen mehrmals täglich trainieren können. Das lässt sich der Staat ordentlich etwas kosten.
SPOX: Gibt es in der Inneren Mongolei für den Winter denn keine Kunstrasen- oder Hallenplätze?
Zieler: Die Infrastruktur an Fußballplätzen, an Kunstrasenplätzen und an Stadien ist meilenweit besser als in Deutschland. Nahezu jede Schule hat einen Kunstrasenplatz mit Tribüne. Ein Traum, ich hätte nie gedacht, dass ich das hier vorfinden würde. Aber: Im Winter frieren die Plätze einfach über. Und Hallen, in denen man Fußballspielen kann, gibt es hier gar nicht. Man kann im Winter also gar keinen Trainingsbetrieb aufrechterhalten.
SPOX: Ist es ein generelles Problem, dass den Verantwortlichen die Geduld fehlt?
Zieler: Die engagierten Personen mit Plänen und Visionen sind einfach abhängig von übergeordneten Institutionen. Die Geduld muss auch und vor allem ich mitbringen, auch wenn ich in meinem Tun komplette Unterstützung habe. Aber ich höre oft: 'Das geht in China deswegen nicht und das geht deswegen nicht...' Beispiel: Ich hätte gerne Auswahlmannschaften, pro Jahrgang die besten Spieler aus einer Region zusammen, um mit denen regelmäßig ein qualifiziertes, zielgerichtetes Training durchzuführen. Das geht aber nicht wie ich es gerne hätte, weil das Erziehungsministerium einverstanden sein muss, die Schuldirektoren einverstanden sein müssen, die Eltern einverstanden sein müssen, das Bildungsministerium einverstanden sein muss...
SPOX: Xi Jinpings sehnlichste Wünsche sind eine WM-Teilnahme, eine WM-Austragung und ein WM-Titel. Und das in nicht allzu ferner Zukunft.
Zieler: Es wird 15, meiner Rechnung nach vielleicht sogar 20 Jahre dauern, bis China zur internationalen Spitze aufschließen könnte. Aber warum sollte man davor nicht eine Weltmeisterschaft organisieren? Das würde dem Ganzen noch einmal Schub geben. Was ich positiv sehe: Mädchen- und Frauenfußball ist weiter als der Herrenfußball.
SPOX: Aber mit den Geldern, den Reformen und der Unterstützung aus der Regierung sollten zumindest die Weichen richtig gestellt sein.
Zieler: Einerseits ja, dennoch fehlt es noch überall. Man bräuchte mehr europäische, qualifizierte Trainer in den Schulen, es müssen Meisterschaften organisiert werden, es muss eine für die Nachwuchsförderung einheitliche Aubildungsphilosophie konzipiert und verabschiedet werden, es muss ein Passwesen eingeführt werden, die Verbände müssen mehr Kompetenzen bekommen. Die Leute wissen, was zu tun ist, aber die Umsetzung und vor allem die Entscheidung für einen für alle verbindlichen Weg dauert. Aber mittelfristig - warum nicht? Wenn ich hier etwas gelernt habe, dann, dass die Chinesen ehrgeizig sind und sich das, was sie sich in den Kopf gesetzt haben, meistens schaffen.
SPOX: Auch mit einer sehr strengen, züchtigenden Art und Weise, die Kinder zu erziehen und zu trainieren?
Zieler: Das kann man nicht ganz von der Hand weisen. Viel wird mit Disziplin gearbeitet. Vor allem die älteren Lehrer gehen in diese Richtung, das bisherige Training ist sehr auf Drill und Strenge ausgerichtet. Die körperliche Fitness hat vielerorts einen höheren Stellenwert, als der Umgang mit dem Ball. Die meisten Fußball-Trainer leiten ihr Training noch mit der Trillerpfeife! Es geht auch viel um Druck: 'Du musst jetzt gewinnen! Verliere ja nicht!' Aber die jüngere Trainer-Generation geht vernünftig mit den Spielern um, da sehe ich keinen Unterschied zu Europa.
SPOX: Könnte das ein Grund für das fehlende fußballerische Niveau sein: Kein Spaß am Sport?
Zieler: Das kann durchaus sein. Erfolg im Sport hat ja auch viel mit Selbstvertrauen sowie der Fähigkeit zu tun, selbständige und eigene Entscheidungen zu treffen. China ist eine Ellenbogengesellschaft. Man muss fleißig sein, zu den Besten gehören, der richtige Kindergarten, auf die beste Schule gehen, damit man etwas wert ist. Bereits bei den Kindern ist der Druck enorm. Die Angst zu verlieren, zu versagen ist deshalb stark verankert. Das ist auch vermutlich der Grund, warum man nicht so viele Spiele macht: Aus Angst, zu verlieren. Und das muss aufgebrochen werden. Ich glaube aber auch, dass da ein Umdenken stattfindet.
SPOX: Wie viel Einfluss und Gewicht hat denn Ihr Wort, vielleicht auch auf einer Ebene außerhalb Ihres Verbandstrainer-Daseins - in Sachen Reformen, die sie anpeilen?
Zieler: Das muss ich noch herausfinden. Man hört mir auf jeden Fall zu. Ich habe auch ein über 100-seitiges Konzept geschrieben zur Entwicklung des Fußballs in Hohhot und in der Inneren Mongolei. Auch für die Schulen habe ich beispielhafte Trainingspläne und Trainingseinheiten für Grund-, Mittel- und Oberschulen verfasst. Ich habe vorgeschlagen, sich jetzt primär auf die Grundschulen zu konzentrieren - weil das ja die Spieler sind, die in zehn, 15 Jahren Weltmeister werden sollen. (lacht) Und das wurde auch so umgesetzt. Ich habe auch ein sehr gutes Verhältnis zum Vizegouverneur, der gleichzeitig der Sportminister ist, und der es gern möchte, dass ich den Finger in die Wunde lege und derartige Sachen offen anspreche.
SPOX: Sie haben bereits den Enthusiasmus für den Fußball angesprochen. Wie haben Sie die vergangene Transferperiode erlebt? Haben die Superstars wie Jackson Martinez noch einmal eine Begeisterungswelle ausgelöst?
Zieler: Ich glaube ja! Die Stadien sind voll, die Stimmung ist hervorragend, die Medienpräsenz steigt. In der Super League, der ersten Liga, wird guter Fußball gespielt, und die ausländischen Spieler tragen natürlich ihren Teil dazu bei - auch wenn die Summen natürlich utopisch sind. Ich sage dann in meiner Position als Verbandstrainer: Stattdessen etwas mehr in den Nachwuchs stecken, wäre mittelfristig effizienter. Insgesamt ist es aber natürlich etwas, das den chinesischen Fußball voranbringt.
SPOX: Und wie lange werden Sie den chinesischen Fußball noch voran bringen?
Zieler: Ich habe Mitte Oktober meinen Dienst angetreten und habe bislang einen befristeten Vertrag über ein Jahr. Im Juli werden wir uns zusammensetzen und die Köpfe zusammenstecken: Was haben wir erreicht? Was können wir noch erreichen? Wie kann's weitergehen?
SPOX: Stand jetzt: Kann's weitergehen?
Zieler: Unter gewissen Voraussetzungen. Ich kann in der kurzen Zeit ja nur Impulse setzen, keine Missionen erfüllen. Wirklich bewirken könnte man etwas, wenn man über einen längeren Zeitraum hier wäre und die Dinge mitentwickeln kann. Ob das passiert, muss ich zunächst mit mir selbst abklären, weil man irgendwann auf dem deutschen Trainermarkt von der Bildfläche verschwindet. Und auch im privaten Umfeld muss man Lösungsmöglichkeiten suchen. Letztlich ist alles auch eine Frage der Alternativen. Außerdem fehlt mir hier auch der Blick auf den Kölner Dom! (lacht) Von der Aufgabe her kann ich es mir aber sehr gut vorstellen, länger zu bleiben.