Trotz Offerten aus der Bundesliga und Europa entschied sich Tranquillo Barnetta 2015 für einen Wechsel in die USA. Der 31-Jährige über ein nicht annehmbares Angebot von Bayer Leverkusen, die öffentliche Deformation von Max Kruse und seine Ausbootung aus der Schweizer Nationalmannschaft.
SPOX: Herr Barnetta, im Sommer 2015 entschieden Sie sich für einen Wechsel in die USA zu Philadelphia. Ein ungewöhnlicher Schritt für einen Spieler Ihres Alters und mit Ihrer Qualität. Mit 30 Jahren hätten Sie doch sicher auch in der Bundesliga einen Verein gefunden?
Tranquillo Barnetta: Das ist richtig, es gab auch Angebote aus Deutschland und Europa. Die Zeit war aber reif, etwas Neues zu sehen und zu erleben. Nach elf Jahren Bundesliga wollte ich einfach eine Veränderung, neue Ziele, raus aus dem alltäglichen Trott. Hier habe ich die Chance dazu.
SPOX: Hatten Sie keine Lust mehr auf das hektische Bundesliga-Geschäft?
Barnetta: Ich wollte wieder Freude am Fußball haben. Meine letzten Monate in der Bundesliga waren sehr stressig, hier kann ich den Sport wieder wirklich genießen. Der Druck ist auch ein ganz anderer als in Deutschland, deutlich positiver.
SPOX: Ist die Major League weit entfernt von den europäischen Top-Ligen?
Barnetta: In einigen Punkten ja, in anderen nicht. Wir haben beispielsweise seit kurzem ein neues Trainingszentrum, was auch allen europäischen Standards gerecht wird. Das Training ist dem in Europa insgesamt sehr ähnlich, es wird hart gearbeitet. Auf dem Platz ist das etwas anderes, da geht es: Auf die Plätze, fertig, los! Und dann geht es mit Power rauf und runter. In Europa will man immer erst die Null halten oder sauber spielen. Hier gibt man sofort Vollgas. Daran, dass man zu manchen Auswärtsterminen sechs Stunden im Flieger sitzt, muss man sich aber genauso erst gewöhnen wie an die unterschiedlichen Zeitzonen.
SPOX: Fällt es ob des Angebots von fettigen und leckeren Snacks an jeder Ecke schwer, seine Linie zu halten?
Barnetta: Die Möglichkeiten sind unglaublich, hier gibt es wirklich alles und das zu jeder Zeit, das ist schon verlockend. Im Endeffekt gibt es das in Deutschland aber auch alles, man muss nur länger danach suchen. Deshalb ist es mir bisher auch gut gelungen, mein Gewicht zu halten.
SPOX: Haben Sie schon das traditionelle Philly Cheesesteak gegessen?
Barnetta: Ja klar. Es ist schon lecker, so richtig kann ich den ganz großen Hype aber nicht verstehen. Außerdem dürfte das mit dem vielen Käse, dem Fleisch und dem Brot locker den Kalorienbedarf für einen ganzen Tag decken. (lacht)
SPOX: Also haben Sie sich gut eingelebt in den Staaten?
Barnetta: Absolut. Ich bin hier sehr herzlich empfangen worden. Man hat sofort das Gefühl, dass sich der Verein, die Fans und die gesamte Stadt auf einen freuen. Auch deshalb bin ich sehr froh über meine Entscheidung, hierhergekommen zu sein.
SPOX: Dass Sie mal in den USA landen, hätten Sie sicher nicht gedacht, als Sie schon mit 17 Jahren Stammspieler bei Ihrem ersten Verein St. Gallen waren. Was haben Sie für Erinnerungen an diese Zeit?
Barnetta: Das war ein Traum für mich. Ich habe selber immer als Fan hinter dem Tor gestanden und die Mannschaft angefeuert. Und plötzlich war ich Teil davon und durfte sogar regelmäßig von Anfang an spielen. Ich habe St. Gallen sehr viel zu verdanken.
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SPOX: Fällt es einem so jungen Burschen leicht, dabei immer auf dem Boden zu bleiben?
Barnetta: Das kommt auf das Umfeld ab. Ich habe das Glück, ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Familie und meinen Freunden zu haben, die jederzeit dafür gesorgt haben, dass ich nicht abhebe.
SPOX: Weiter ging es für Sie in Leverkusen. Hatten Sie dort Ihre erfolgreichste Zeit in der Bundesliga?
Barnetta: Sowas ist immer schwierig zu sagen. Wir hatten damals eine tolle Truppe in Leverkusen, ich hatte viele Einsatzzeiten und habe auch sehr gute Spiele gemacht. Ich denke gerne daran zurück.
SPOX: Allerdings holte Sie dort auch das Verletzungspech ein: Ende der Spielzeit 2010/11 und Anfang der Folgesaison fielen Sie lange aus ...
Barnetta: Das stimmt, nach meinem Kreuzbandriss, den ich mir mit 19 Jahren zugezogen habe, bin ich von schlimmeren Verletzungen verschont geblieben. Allerdings hat mir die Zeit während meiner ersten Verletzung sehr geholfen, damit umzugehen und den Kopf oben zu halten. Es ist aber trotzdem schwer, so lange zuschauen zu müssen und der Mannschaft nicht helfen zu können. Vor allem weil wir in jener Saison auch in der Champions League gespielt haben.
SPOX: Es hieß, Sie hätten im Juni 2012 dennoch eine Vertragsverlängerung abgelehnt. Was hat Sie dazu bewogen?
Barnetta: Ganz so war es ehrlich gesagt nicht. Der Verein war damals einfach nicht sicher, wie es mit mir und meiner Verletzung weitergehen würde. Deshalb hat man mir kein vernünftiges Angebot gemacht sondern viel mehr eines, das man auch bei aller Liebe nicht annehmen konnte. Für mich war es das Zeichen, einen neuen Schritt zu machen.
SPOX: Der hieß Schalke 04 ...
Barnetta: Genau. Ich hatte gute Gespräche mit Schalke und wir sind uns schnell einig geworden. Viele denken, ich würden den Wechsel nach Gelsenkirchen bereuen, weil ich dort nicht so viel gespielt habe wie davor in Leverkusen. Aber man darf nicht nur die einzelnen Aspekte betrachten. Ich konnte dort zum ersten Mal Champions League spielen, auch gegen Real Madrid. Das war eines der Highlights meiner Karriere.
SPOX: Nach der laufenden Saison wurde in Andre Breitenreiter bereits der vierte Coach in den letzten dreieinhalb Jahren entlassen. Sie selber spielten dort unter Huub Stevens, Roberto Di Matteo und Jens Keller. Warum ist es so schwer, auf Schalke erfolgreich zu arbeiten?
Barnetta: Das ist schwierig zu sagen. Während meiner Zeit haben wir eigentlich unter jedem der drei Trainer Anfangs gute Resultate erzielt, sind dann aber jedes Mal in eine Negativspirale geraten, aus der man dann gerade auf Schalke nur noch sehr schwer rauskommt.
SPOX: Woran liegt es konkret, dass man dort nicht in Ruhe arbeiten kann?
Barnetta: Es ist vor allem die Euphorie. Die ganze Stadt und das Gebiet brennen für diesen Verein. Wenn man zwei, drei Spiele gewinnt, ist direkt die Rede von der Meisterschaft. Umgekehrt werden bei einer Niederlage alle sofort nervös und erhöhen den Druck.
SPOX: Also kommt die Unruhe eher von außen?
Barnetta: Ja, zu großen Teilen. Die Journalisten der Umgebung springen sofort auf wenn die Resultate nicht stimmen oder etwas nicht optimal läuft. Wobei, eigentlich ist es völlig egal, ob man erfolgreich ist oder nicht - Druck von außen gibt es auf Schalke immer.
SPOX: Vor allem über Di Matteo war zu lesen, dass er die Mannschaft nicht erreiche und diese in mehrere Grüppchen gespalten sei. Können Sie das bestätigen?
Barnetta: Auch das wurde von außen hereingetragen, es hat keine Grüppchenbildung gegeben - zumindest nicht im extremen Maße. Es ist völlig normal, dass man sich mit manchen Spielern innerhalb eines Teams besser versteht als mit anderen. Ich hatte einige gute Gespräche mit Di Matteo.
SPOX: Die Suspendierung von Kevin-Prince Boateng sorgte damals für große Wellen. Wie haben Sie das im Spielerkreis aufgenommen?
Barnetta: Sowas ist nie einfach. In einer Mannschaft gehören immer alle dazu, wenn dann plötzlich einer weg ist, macht sich das schon bemerkbar und man redet darüber. Gleichzeitig soll man am nächsten Tag so weitermachen, als wäre das völlig normal, als wäre nichts passiert. Aber das gehört zum Profi-Geschäft dazu. Irgendwann muss man das akzeptieren und weitermachen.
SPOX: Sehnten Sie sich manchmal die ruhigen Zeiten in Leverkusen zurück?
Barnetta: Nein, ich wusste ja schon vorher, was mich auf Schalke erwarten würde. Man darf dabei, wie gesagt, nicht die vielen positiven Aspekte vergessen. S04 hat eine riesige Fanszene, in der Veltins-Arena herrscht eine Wahnsinns-Lautstärke, auswärts sind oft 10.000 Anhänger dabei. Insgesamt kann man sagen: Der Druck, der bei Leverkusen manchmal vielleicht etwas zu wenig ist, ist bei Schalke zu hoch. (lacht)
SPOX: Wozu das Schalke-Umfeld in der Lage ist, durften Sie auch schon mal am eigenen Leib spüren, als auf Ihren Social-Media-Kanälen beim Spiel gegen Gladbach ein unglücklicher Post ohne Ihr Wissen abgesetzt wurde. Welche Konsequenzen haben Sie daraus gezogen?
Barnetta: Ehrlich gesagt kenne ich mich mit den sozialen Medien überhaupt nicht aus. Deshalb habe ich die Betreuung dieser damals in die Hände eines Studienkollegen meines Bruders gegeben, der sich um alles gekümmert hat. Seit dem Vorfall hatten wir aber keinen Kontakt mehr, ich habe mir direkt im Anschluss professionelle Unterstützung geholt. Letztlich war es eine dumme Situation, es ist aber auch nicht so dramatisch, wie es damals gemacht wurde.
SPOX: Deutlich dramatischer hat es kürzlich Max Kruse erwischt. Wir haben Sie das aus den USA verfolgt?
Barnetta: Kruse hat mir wirklich leidgetan, das ist eine der schlimmsten Eigenschaften der Medien. Sie können dich extrem schnell hochjubeln und feiern, genauso schnell hacken sie aber auf dir rum, wenn ein Spieler Erfolg hat, der ein Stück weit anders lebt als der typische Profi. Ich bin mir sicher, dass die Medien über viele Spieler solche Geschichten kennen, sie kommen aber einfach nicht raus, solange man unter dem Radar bleibt. Wenn man ehrlich ist, hat jeder in der Jugend mal Scheiße gebaut. Dass ein so talentierter Spieler dann wegen solcher Dinge in dem Maße unter die Räder kommt, ist einfach schade.
SPOX: Welchen Anteil daran messen Sie den neuen Medien zu? Über Facebook, Whatsapp und Co. verbreitet sich heute alles binnen Minuten weltweit.
Barnetta: So wild sehe ich das nicht. Wer ein normales Leben führt, braucht davor keine Angst zu haben. Natürlich ist es einfacher geworden, einen Spieler zu fotografieren, der am Abend vor dem Spiel ein Bier trinkt. Aber das geht ja nur, wenn man auch wirklich am Abend vor dem Spiel ein Bier trinkt.
SPOX: Ist das in Amerika anders?
Barnetta: Den Fußball betreffend schon, das mediale Interesse ist hier nicht so enorm wie in Europa. Bezogen auf Football oder Baseball ist es aber absolut vergleichbar, wie man am Fall von Laremy Tunsil gesehen hat, von dem nur wenige Stunden vor dem sicheren Draft ein Video enthüllt wurde, auf dem er Marihuana konsumiert.
SPOX: Die EM werden Sie dieses Jahr auf der Couch verfolgen. Hatten Sie seit Ihrer Nichtnominierung im März vergangenen Jahres nochmal Kontakt zu Trainer Vladimir Petkovic?
Barnetta: Nein, wir haben seitdem nicht mehr miteinander gesprochen, deshalb konnte ich mich auch frühzeitig darauf einstellen, dass ich in diesem Sommer nicht in Frankreich sein werde.
SPOX: Erfuhren Sie damals wirklich in den Medien von Ihrer Nichtnominierung?
Barnetta: Ja, ich habe es in der Zeitung gelesen, gesprochen hat vorher keiner mit mir. Genau das hat mich auch so geärgert und enttäuscht. Ich bin der Letzte, der irgendwelche Ansprüche stellt, auch wenn ich damals bei Schalke Stammspieler war und in der Champions League gespielt habe. Aber ich war immer da, wenn mein Land gerufen hat, habe stets alles gegeben und mich komplett in den Dienst der Mannschaft gestellt. Deshalb war der Umgang mit mir respektlos und das habe ich auch so zum Ausdruck gebracht.
SPOX: Haben Sie seitdem an die Nationalmannschaft gedacht?
Barnetta: Nein, ich musste mir ja überhaupt keine Gedanken machen, was ich tun würde, wenn eine Einladung kommt, weil absolut sicher war, dass keine kommt. Die Nationalmannschaft ist kein Thema für mich. Ob sie irgendwann wieder eins sein kann, weiß ich nicht.
SPOX: Und wenn nach der EM doch wieder eine Nominierung kommt?
Barnetta: (lacht) Dann müsste ich gut überlegen.
SPOX: Wie abhängig wären diese Gedanken vom Trainer.
Barnetta: Das möchte ich lieber nicht kommentieren.
SPOX: Sie haben noch rund ein Jahr Vertrag in den USA. Haben Sie schon Pläne oder Gedanken für die Zeit danach?
Barnetta: Es wäre auf jeden Fall schön, nochmal zuhause in St. Gallen zu spielen. Das ist einer meiner letzten Träume und wäre sicher auch ein schöner Abschluss meiner Karriere. Aber im Fußball ist es immer schwierig, so etwas zu sagen. Angebote, Verletzungen: Man weiß nie, was passiert. Zunächst möchte ich hier erfolgreich sein und meine Zeit genießen. Dann werden wir sicher Gespräche führen und dann wird man sehen. Ich denke aber schon, irgendwann in den nächsten drei bis vier Jahren wieder in St. Gallen zu sein.
SPOX: Dort wird man Ihnen sicher nicht das Gehalt zahlen können, das Sie in der Bundesliga oder in Amerika verdienen und sicher woanders noch verdienen könnten. Nimmt man das für so eine Herzensangelegenheit in Kauf?
Barnetta: Absolut, gar keine Frage. Was ich dort verdiene - oder nicht - ist absolut nebensächlich, es ist ein Herzenswunsch, nochmal für St. Gallen zu spielen.