23 Jahre bin ich alt und in letzter Zeit oft etwas, manchmal sogar sehr melancholisch. Dann nämlich, wenn der nächste Fußballer, der seinen Sport während ich aufwuchs prägte, abtritt. Erst ganz langsam und schleichend und mittlerweile immer schneller endet eine Ära. Die Ära, in der ich und meine Gleichaltrigen groß geworden sind.
Dunkel erinnere ich mich an das EM-Finale von 2000. Sechs war ich damals und durfte länger aufbleiben als sonst. 2002 habe ich dann erstmals Panini-Sticker geklebt. Außer die Iren, weil es die irgendwie nicht gab. Zumindest nicht in den Päckchen, die in den Kiosken meiner Heimatstadt verkauft wurden. 2004 wurde ich familienintern mit einem Trikot von Antonios Nikopolidis eingekleidet.
Langsam wurde der Fußball wichtig für mich, aber die Dauerbeschallung, die gelegentlich Richtung Lebensinhalt abdriftet, begann erst mit der WM 2006. Das Traumtor von Philipp Lahm gegen Costa Rica war für mich gewissermaßen der tosende Startschuss.
Und jetzt ist dieser Philipp Lahm - gerade noch ein aufstrebendes Talent - doch tatsächlich so alt, dass er meint, seine Karriere beenden zu müssen. Das muss ich erstmal verarbeiten. In den vergangenen ein, zwei Jahren habe ich es schon geahnt, als Legende um Legende tränenreich verabschiedet wurde, aber mittlerweile bin ich mir sicher: Es werden gerade die letzten Kapitel einer Ära geschrieben. Klar, Ären enden nicht abrupt, sondern fließend, und sie gehen ineinander über. Klar, Lionel Messi und Cristiano Ronaldo, die beiden absoluten Protagonisten der vergangenen Jahre, spielen und treffen immer noch und besiegen alles und jeden.
Aber hinter diesem galaktischen Duo gab es stets diese Konstanten. Jung drängten sie Anfang oder Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends, als meine Fußball-Begeisterung einst entfacht wurde, ins Rampenlicht und tauchten dann stets im Zweijahres-Rhythmus im Rahmen der großen Turniere mit ihren Nationalteams auf. Und an den Dienstag- und Mittwochabenden, die der Champions League gehören, mit ihren Vereinen, denen sie über weite Strecken ihrer Karrieren oder gar immer treu blieben.
Die Konstanten
Da gab es die Italiener, die ihre Hymne inbrünstig schmettern wie niemand sonst. Und keiner wirkte dabei so cool wie Gianluigi Buffon und Andrea Pirlo. Da tauchte mal ein Zaccardo auf oder auch ein Zappacosta oder Zaza, aber Buffon und Pirlo waren die Konstanten.
Und dann gab es die Engländer. Turnier für Turnier trug der Wind im Vorfeld die immergleichen Diskussionen über den Ärmelkanal: Steven Gerrard und Frank Lampard? Nur Gerrrad? Nur Lampard? Die Antwort fiel mal so aus und mal so. Abgedeckt wurden sie jedenfalls von John Terry und gepasst haben sie meist auf Wayne Rooney. Die Vier waren eigentlich immer dabei.
Während sich in der französischen Mannschaft dieser Jahre - von Umstürzen, persönlichen Sperren oder internen Streitigkeiten geplagt - keine wirklichen Konstanten etablierten, hatte Schweden stets Zlatan Ibrahimovic und dessen Akrobatik. Die Niederländer setzten ihre Hoffnungen immerzu und auch immer noch in Wesley Sneijder und Arjen Robben. Mittlerweile wollen sie sogar bei der Wahl ihres Trainers mitbestimmen, aber womöglich sind sie bald selbst welche.
Die Übermannschaft
Gedacht wie ein Trainer auf dem Platz hat stets Xavi. Schon 2006 hat er mit Xabi Alonso und bald auch Andres Iniesta das spanische Mittelfeld organisiert und mit Kapitän Iker Casillas das Team zusammengehalten, Katalanen und Rest-Spanier geeint. Damals, als Spanien im Fußball noch als Versager-Nation galt.
Und dieser Versager-Nation entsprang dann tatsächlich die prägende Mannschaft dieser Ära und auch eine der prägendsten Mannschaften überhaupt, der ganzen Fußball-Geschichte. Damals, als es passierte, passierte es eben. Spanien gewann, begeisterte, gewann, begeisterte, gewann. Erst im Rückblick kommt die Einsicht, dass man Zeuge etwas Besonderen wurde. Zeuge einer Übermannschaft.
Jahrzehntelang dominierte kein einzelnes Team den Weltfußball über eine so lange Zeit, wie Spanien zwischen 2008 und 2012. Was Siege anging und auch die Spielweise. Drei Titel holte Spanien in Folge und ich beginne mir schon die Worte zurechtzulegen, mit denen ich irgendwann meinen Enkeln von dieser Mannschaft vorschwärmen werde. Genau wie die Generation meiner Eltern von den Holländern der 70er schwärmt. Oder die meiner Großeltern von den Ungarn der 50er.
Die Abschiede
Alles besiegt haben die Spanier auf den Wegen zu ihren Titeln. Buffon und Pirlos Italien, Robben und Sneijders Niederlande und immer auch Deutschland. Das Deutschland von Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm, Lukas Podolski und Miroslav Klose, das nach all den Enttäuschungen gegen Spanien schließlich 2014 selbst den Titel holte und das es fortan nicht mehr gab. Klose beendete seine Karriere 2016 bei Lazio Rom, Podolski wechselt nun nach Japan, Schweinsteiger spielt seit einigen Monaten in den USA und Lahm verabschiedete sich gänzlich.
Tröpfchenweise plätschern die Konstanten, die den deutschen und auch europäischen Fußball der vergangenen Jahre prägten, gerade vom Spitzenniveau in den Ruhestand oder auf andere Kontinente. Schweinsteiger trifft jetzt in den USA auf Lampard und Pirlo. Podolski könnte es in der asiatischen Champions League mit Xavi zu tun bekommen, der in Katar kickt.
Terry reckte vor einigen Wochen seine letzte Trophäe mit dem FC Chelsea in die Höhe, Rooney vielleicht seine letzte mit Manchester United. Entscheidende Rollen hatten sie dabei jedoch keine mehr inne. Xabi Alonso und Gerrard spielen gar nicht mehr, Casillas am Rande Europas in Porto und Iniesta ist zwar noch mittendrin, aber seine traditionell lichte Haarpracht wird nur immer lichter. Genau wie die von Sneijder und Robben.
Die letzten Freuden
Gemeinsam mit Iniesta, Robben und Ibrahimovic ist Buffon einer der letzten Vertreter dieser Ära, der noch auf höchstem europäischem Niveau mitspielt. Und das, obwohl er der älteste ist. Der ewige Gigi eben, aber auch er ist nicht ewig. In den Tagen vor dem Champions-League-Finale seiner Juventus gegen Real Madrid, seiner womöglich letzten Chance auf den Henkelpott, solidarisierte sich die Fußball-Welt mit Buffon wie selten mit einem einzelnen Spieler zuvor. "Dem Gigi würde ich es schon gönnen", wehmütelten tausende Fans überall in Europa. Ganz unabhängig davon, mit welchem Verein sie es halten: Jeder wünschte Buffon diese Freude.
Wahrscheinlich wussten es die meisten nicht, aber sie wünschten Buffon diesen Titel, diese Freude nicht nur, weil er einfach so ein verdammt cooler Typ ist, dem Dreitagebart und Sonnenbrille stehen wie niemandem sonst, sondern weil er ein Relikt dieser endenden Ära war und ist. Einer Ära, deren Vertretern man eben große Freuden wünscht, letzte Freuden.
Manchen wurde sie bereitet, wie Lahm und Schweinsteiger, die 2013 und 2014 ihre großen Titel gewannen. Anderen nicht, wie Gerrard, der 2014 so knapp den lange ersehnten Meistertitel mit Liverpool verpasste. Oder Buffon, der eben nie den Henkelpott gewann, zumindest bisher nicht. Auch Ibrahimovic hat ihn nie gewonnen, stattdessen humpelt er in Krücken und es ist unklar, wie es mit ihm weitergeht.
Letztlich ist das aber auch egal, weil das Vermächtnis dieser Spieler nicht an Titeln zu messen ist. Sie haben etwas viel Größeres geschafft: Sie haben eine Ära geprägt. Wobei nein, sie waren eine Ära. Und nun, da sie reihenweise abtreten, schaffen sie Grund für reichlich Melancholie. Etwa an diesem 9. Juni, an dem einst Lahm den Ball ins Tor von Costa Rica schoss und gewissermaßen den Startschuss dieser Ära markierte. Zumindest für mich.