Seit beinahe 40 Jahren wird Afghanistan von Krieg und Terror zerfressen, den Fußball lieben die Menschen am Hindukusch trotzdem. Ihre Helden spielen in der Hessenliga. SPOX hat mit ihnen gesprochen.
"Lass es mich in einfachen Worten sagen."
Zubayr Amiri, 27 Jahre alt und Mittelfeldspieler in der 5. Liga beim SC Hessen Dreieich, erzählt schon eine ganze Weile. Über seine Vergangenheit in der Jugend von Eintracht Frankfurt. Über die Begeisterung der Afghanen für die Bundesliga. Über eine bange Nacht in einem Hotel in Kabul.
Als es darum geht, was gerade in seinem Geburtsland am Hindukusch passiert, da hält er plötzlich inne. Viermal setzt Amiri zu einem Satz an. Viermal schießt ihm im letzten Moment etwas anderes durch den Kopf. Dann sagt er: "Lass es mich in einfachen Worten sagen. Afghanistan ist nach wie vor das schlimmste Land der Welt."
Für dieses Land spielt Amiri Fußball. In Deutschland trifft er in der Hessenliga auf Vereine wie den SC Viktoria Griesheim, für Afghanistan trägt er das Nationaltrikot mit der Nummer 7. Einem zersplitterten Land, perspektivlos wie wenig andere auf dieser Welt, wenigstens auf diesem Weg etwas geben, irgendetwas - diese Mission hat nicht nur Amiri sich auferlegt.
gettyAfghanische Nationalspieler: Hassan Amin, Zubayr Amiri, Milad Salem (v. l. n. r.)
Afghanistan: Heimspiel in Iran
Die meisten Afghanen haben ihre Nationalmannschaft noch nie in einem Stadion spielen sehen. Mit einer Ausnahme, 2013 war das, verbietet die FIFA seit Jahren Fußballspiele im Land. "Angespannte Sicherheitslage" nennen sie den immer wilder tobenden Krieg dann. In Duschanbe, Dubai oder Teheran spielt die Nationalmannschaft, die ihr eigenes Land nicht betreten darf, ihre Heimspiele.
Auch die Nationalspieler leben meist in anderen Ecken der Welt, viele davon in Europa; in Skandinavien, den Niederlanden und auch: Deutschland. Beim letzten Länderspiel, einem 0:1 gegen Kambodscha, standen sechs in Deutschland lebende Kicker im Kader Afghanistans. SC Kapellen-Erft, SV Waldhof Mannheim, TSG Neustrelitz oder eben Hessen Dreieich heißen dann die Klubs, aktiv in der Oberliga Niederrhein, der Regionalliga Südwest, der Regionalliga Nordost oder der Hessenliga, die ihre Spieler zu den "Löwen von Khorasan" schicken.
Einer von ihnen ist Zubayr Amiri. Zwei Jahre war er alt, als seine Eltern vorm Bürgerkrieg fliehen mussten und es bis nach Deutschland schafften. Nicht viel später, 1996, überrannten die Taliban Amiris Geburtsstadt Kabul und riefen ein islamisches Emirat aus. Unter der Herrschaft der Islamisten wurde auch der Fußball entstellt.
"Viele Spieler von damals sind heute noch traumatisiert", erzählte Zayed Ali Kazemi, Pressesprecher des afghanischen Verbandes, dem österreichischen Fußballmagazin ballesterer. Bis zum Sturz der Taliban 2001 dient das Nationalstadion, das Ghazi Stadion in Kabul, als Gefangenenlager und öffentliche Hinrichtungsstätte. In der Halbzeitpause werden Menschen exekutiert oder Dieben die Hände abgehackt, die Spieler finden blutgetränkte Umkleidekabinen vor. Eine pakistanische Mannschaft, die entgegen der Taliban-Vorschrift nicht vollkommen bedeckt, sondern in kurzen Hosen zu einem Freundschaftsspiel antritt, wird festgenommen. Als Strafe werden den Spielern die Haare abrasiert.
Freudenschüsse in der Nacht
Als Amiri 2011 das erste Mal im dunkelroten Trikot auf dem Platz stand, waren diese Zeiten vorbei. "Sehr große Abenteuer" seien die ersten Male bei der Nationalmannschaft dennoch gewesen: "Wir hatten einmal ein Spiel gegen Palästina in Amman. Ich musste von Kabul nach Dubai fliegen, von da zurück nach Indien und von dort aus erst nach Amman. Obwohl es von Dubai nach Amman keine zwei Stunden gewesen wären. Da habe ich 36 Stunden lang nicht mehr gewusst, was Tag und Nacht ist. Zwei Tage vor dem Spiel." Amiri entschied sich kurz darauf zu einer Pause im Nationalteam.
Es war die Zeit, in der es Nationaltrainer Yousuf Kargar fertig brachte, in einer durch Stammeskulturen gespaltenen Gesellschaft, seit Jahrzehnten im Krieg, eine funktionierende Fußballmannschaft zu formen. Bei den Südasienmeisterschaften im gleichen Jahr verloren die Afghanen erst im Finale gegen Indien mit 0:4, bei der Neuauflage des Endspiels 2013: der sensationelle Turniersieg.
Das bettelarme Land befand sich in einem Rausch. "Die Leute sind fußballfanatisch", erzählt Amiri. "Wenn es möglich wäre, auf afghanischem Boden zu spielen, wäre jedes Stadion mit 100.000 Zuschauern voll." Es gab Public Viewings, Autokorsos - Hunderttausend sollen es gewesen sein, die auf den Straßen den Triumph feierten, damals wie heute eigentlich undenkbar. Doch die Gewehrschüsse, die in diesen Nächten fielen, es waren Freudenschüsse.
Der Fußball schien eines der wenigen Dinge in Afghanistan zu sein, die sich positiv entwickelten. Anfang 2014 fand in Katar ein Trainingslager des Verbandes statt. "30, 40 Spieler haben da vorgespielt", erinnert sich Hassan Amin. Der 25-Jährige spielt heute bei Waldhof Mannheim, damals kickte er in der zweiten Mannschaft der Frankfurter Eintracht. Als einer von drei Spielern wurde Amin für die Nationalmannschaft ausgewählt.
Amins Eltern kamen kurz vor seiner Geburt nach Deutschland, auch sie mussten fliehen. Der gebürtige Darmstädter ließ sich einbürgern - und war plötzlich Nationalspieler. "Ich habe in der zweiten Mannschaft bei der Eintracht vor nicht allzu vielen Leuten in der Regionalliga gespielt. Als Nationalspieler hat man eine ganz andere Reichweite, alle schauen auf einen. Das ist ein komisches Gefühl, im ersten Moment war das gar nicht zu begreifen."
getty"Es ist leicht, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein"
Der Trainerwechsel, der kein Jahr später folgt, ist die quälende Erinnerung daran, dass es so etwas wie Normalität nicht gibt in Afghanistan. Nationaltrainer Kargar wird 2015 auf offener Straße überfallen, fast zehn Mal stechen ihm die Attentäter mit einem Messer in den Kopf. Kargar überlebt. Das Traineramt übernimmt Slaven Skeledzic, Ende des Jahres dann der in Baden-Württemberg aufgewachsene Kroate Petar Segrt.
Vier Mal reiste Amin in diesem Jahr zur Nationalmannschaft nach Kabul, wo sich das Team trotz Spielverbot vor den Partien traf. "Jedes Mal gab es ein Selbstmordattentat", erzählt er: "Es ist leicht, in Afghanistan zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein." Auch die Treffen, beschließt der besorgte Segrt, werden nicht mehr auf afghanischem Boden stattfinden.
Ende 2015 wurde Titelverteidiger Afghanistan bei der Südasienmeisterschaft Zweiter. Amin und auch Amiri waren dabei, als der Flieger mit der afghanischen Natinalmannschaft nach dem Turnier in Kabul landete. "Wir haben unsere Ankunft am Flughafen in den Medien bewusst nicht publik gemacht" erzählt Amin. "Wir wollten verhindern, dass sich die Leute in großen Massen am Flughafen versammeln und die Taliban so ein leichtes Ziel haben."
Die Ankunft ihrer Helden blieb bei den Fans keine Sekunde lang ein Geheimnis. "Wir haben vom Flughafen bis zum Verbandsstützpunkt beinahe drei Stunden gebraucht. Die Leute haben uns zugejubelt, Junge, Ältere, Frauen, Männer, Kinder. Das hat einen sehr mitgenommen. Bei einigen sind im Bus Tränen geflossen."
Die Mannschaft befindet sich derweil in einem Wandel. Noch vor wenigen Jahren sah Amiri Mitspieler, "die teilweise um ihr Überleben kämpfen. Um etwas zu essen kämpfen, um ihre Existenz kämpfen. Das merkt man an der Mentalität, die Jungs waren eiskalt". 2015 fand sich der Mittelfeldspieler in einer anderen Mannschaft wieder. "Die jungen Leute schauen fern, haben Handys, erleben mehr von der Welt und wissen, was abgeht. So bewegt man sich vom Denken her aufeinander zu."
Acht Jahre bis zum Bus
Erfolgstrainer Segrt trat Ende 2016 zurück. Er hatte den Lieblingsspieler des Fußball-Präsidenten aus dem Kader für ein Freundschaftsspiel gestrichen. Während man den Coach vor der Abreise unter falschen Vorwänden in seinem Büro aufhielt, schmuggelte der Verband den Spieler in den Mannschaftsbus und schickte ihn auf die Reise. Segrt betreute seine Löwen nie wieder.
In diesem Bus saß auch Milad Salem. Der heute 29-Jährige hatte seine erste Einladung zum Nationalteam bereits 2008 bekommen, die "etwas unseriöse" Anfrage lehnte er ab. In den kommenden Jahren wollte er für Afghanistan spielen, es kamen ein Meniskusschaden, ein Kreuzbandriss und Pflichten mit den Klubs in die Quere. Acht Jahre vergingen, ehe er 2016 in eben jenem Bus Platz nahm.
Salem spielt jetzt für ein Land, das zerstört ist, das er als Fußballer nicht einmal betreten darf. "Ich bin mit zwei Jahren nach Deutschland gekommen", erzählt er, "und habe das Land wegen des Bürgerkriegs seitdem leider nicht mehr besuchen können."
Beim Rückzug der internationalen Kampftruppen um 2014 sollen die Taliban wieder so kampfstark gewesen sein wie bei ihrem Sturz vor 16 Jahren, berichtet die Süddeutsche Zeitung. Beinahe die Hälfte der Landesfläche und jeder zehnte Bewohner wird von den Islamisten kontrolliert, so viele zivile Opfer wie 2016 gab es noch nie am Hindukusch. Im vermeintlich sichersten Teil des Landes, dem Diplomatenviertel der Hauptstadt, reißt Ende Mai eine Bombe einen metertiefen Krater in die Straße. 150 Menschen sterben, 450 werden verletzt. "Es gibt dort keine Sicherheit", beteuert Amiri. "Keine Sicherheit für irgendeinen Menschen."
getty"Alle 200 Meter steht ein Panzer"
Amiri war ein einziges Mal in seinem Vaterland. "Damals war mir sehr, sehr mulmig", sagt er. "Ich muss ehrlich sagen, dass ich mich definitiv nicht trauen würde, nochmal nach Afghanistan zu reisen. Alle 200 Meter steht ein Panzer, man weiß nicht, ob jeden Moment etwas passiert."
Auch Amin, der das Land seiner Eltern nur aus Erzählungen kannte, bis er es als Nationalspieler das erste Mal betrat, berichtet von einem "bescheidenen" Eindruck: "Ich hatte mir mehr erhofft, zum Beispiel von der Infrastruktur. Es sind seit etlichen Jahren ausländische Mächte im Land, viel aufgebaut wurde aber nicht, das hat mich überrascht."
"Vor allem", sagt Salem, "merkt man, wie gut man es in Deutschland hat. Es gab auch Mitspieler, die in Afghanistan selbst gespielt haben, bei denen hat man gemerkt: Die Woche, in der sie mit uns unterwegs sind, geht es ihnen gut. Danach kommen sie aber wieder in eine Welt mit vielen Problemen zurück". In Deutschland, sagt er, "gibt es im Vergleich dazu einfach keine Probleme. Das muss man ganz klar sagen".
"Zubayr Amiri 7 the Afghanistan Cristiano Ronaldo !"
Für die Menschen in Afghanistan kommen Salem und die anderen aus einer Parallelwelt. Die Menschen beten ihre Helden an, egal, woher sie den Weg auf sich nehmen, um mit der schwarz-rot-grünen Flagge auf der Brust Fußball zu spielen. Bis zu seinem Abschied vom FSV Frankfurt war Salem als Drittligaspieler der höchstspielende Kicker im Nationalteam. "Das hört sich super komisch an", gibt er zu, "auch für mich".
Auf YouTube gibt es ein Video, "Zubayr Amiri 7 the Afghanistan Cristiano Ronaldo !", ein pixeliger Zusammenschnitt von Amiri im Nationaltrikot. "Es ist eine Ehre, auch wenn es natürlich sehr gewagt ist", sagt der und lacht. "Aber wenn ich den Leuten dadurch ein Lächeln aufs Gesicht zaubern und ihr Ronaldo sein kann, nehme ich das natürlich herzlich in meine Hand und gebe weiter mein Bestes."
Im Hier und Jetzt könnte es sportlich aber besser laufen für den afghanischen Ronaldo und seine Mannen. Erstmals will sich das Land für die Asienmeisterschaft 2019 qualifizieren, helfen soll dabei der neue Trainer und Weltenbummler Otto Pfister. Aktuell belegen die Löwen von Khorasan in der Qualifikationsgruppe hinter Jordanien, Kambodscha und Vietnam den letzten Platz, bei vier ausstehenden Spielen ist die Lage aber nicht aussichtlos.
Im Land selbst beginnt bald die Endrunde der Afghan Premier League, die 2012 als eine der skurrilsten Spielklassen der Welt ins Leben gerufen wurde. Mittels Reality-Show und SMS-Voting wurden aus 10.000 Bewerbern Spieler ausgewählt und auf acht Teams verteilt. Die "Adler vom Hindukusch", "Sturm Harirod" oder die "Habichte von Spin Ghar" treten seitdem für die verschiedenen Regionen des Landes gegeneinander an.
Die Meisterschaftsrunde im Sommer dauert allerdings nur ein paar Wochen, reichlich kurz für die fußballverrückten Afghanen. Die Spiele finden in Kabul statt, ein Spielbetrieb im kompletten Land wird noch lange Jahre eine Utopie bleiben. Die Spieler verdienen während der knapp zwei Monate 90 Dollar. Ein Durchschnittsgehalt.
Warum sie alle wiederkommen
"Die Leute", sagt ein nachdenklicher Amin, "haben dort so wenig Perspektiven, so wenig, auf was sie sich freuen können." Auch deshalb kommen Spieler wie Hassan Amin, Zubayr Amiri und Milad Salem zurück. Trotz fehlender Länderspielpausen in Regional- und Oberligen, trotz der deshalb schwierigen Situation mit den Vereinen, trotz Flügen jenseits der zwölf Stunden. Jedes Mal.
Amin sagt, er werde oft gefragt. Nach Perspektiven als Nationalspieler, ob das jetzt ein Sprungbrett sei für ihn. "Wir sind keine Topadresse im Weltfußball", sagt er dann. "Wir spielen für diese Nationalmannschaft, weil wir den Leuten etwas zurückgeben und Freude schenken wollen." Kurz: "Wir tun das für die Leute in Afghanistan, deren Leben in keiner Weise ein Zuckerschlecken ist, um sie wenigstens diesen einen Tag glücklich zu machen."
Auch Salem betont: "In Afghanistan bis du als Fußballer Nationalheld. Da gab es Jungs in meinem Alter, die hatten Tränen in den Augen, als wir ihnen nur die Hand geschüttelt haben." 90 Minuten Fußballspielen, für ein Land und seine Leute, damit diese einmal nicht an Angst, Krieg und Bomben denken müssen. "Diese 90 Minuten, die wir für die Leute Fußball spielen", sagt Salem dann noch, "können ihnen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern."