Keine Tränen, keine Ehrenrunde mit den Kindern Niccolo und Angela, nur ein wehmütiger Blick ins weite Rund des Baseball-Tempels Yankee Stadium. Andrea Pirlos Abschied von der Fußball-Bühne passte zu dem Mann, den sein Trainer Marcello Lippi als "leader silenzioso" bezeichnete, als stillen Anführer.
Sein letztes Trikot zog der "leise Revolutionär", wie ihn der italienische Fußball-Verband nach dem letzten Akt einer großen Karriere nannte, auf dem einsamen Weg in die Kabine aus, seine Abschiedsworte sprach er nicht - der zweimalige Champions-League-Sieger (2003 und 2007 mit dem AC Mailand) schrieb sie auf und teilte sie via Twitter.
Sechs Pässe zum Abschied
"Nicht nur mein Abenteuer in New York geht zu Ende, sondern auch meine Reise als Fußballer", schrieb der Weltmeister von 2006 nach dem Playoff-Aus mit dem New York City FC, das 2:0 gegen Columbus Crew war nach dem 1:4 im Hinspiel zu wenig.
Pirlo kam erst in der 90. Minute, die 23.246 Zuschauer bekamen noch sechs seiner einst gefürchteten Pässe zu sehen. Als es vorbei war, winkte er den Fans zu, die sich für ihn erhoben hatten, klatschte müde in die Hände - und verschwand.
Fußballwelt verneigt sich vor Pirlo
Die Welt des Fußballs verneigte sich vor ihm. Juventus Turin, wo er vier Jahre spielte, würdigte Pirlo als "Genie des schönen Spiels", Torwart-Legende Gianluigi Buffon schrieb: "Wer mit Andrea spielte, verstand die Bedeutung des Wortes 'einzigartig'. Ein Champion, der Klasse, Eleganz und Demut hatte."
City-Trainer Patrick Vieira meinte, Pirlo habe den Fußball mit der Art, wie er die Position der Nummer sechs interpretierte, "für immer verändert. Vor ihm ging es da nur um Zweikampf und Balleroberung, jetzt musst du Spielmacher sein."
Pirlo erzwang Löws größten Fehler
2012 zwang der begnadete Regisseur Joachim Löw zum wohl größten Fehler in dessen Trainerkarriere, als er Pirlo im EM-Halbfinale den überforderten Toni Kroos auf die Füße stellen wollte.
Der "Architekt" bestach stets durch Technik und Präzision, uritalienische Lässigkeit und Coolness. Dabei war er als Kicker nicht perfekt: er dribbelte nur im Notfall, bewegte sich oft schleppend. Pirlo suchte das Schöne im Einfachen, erhob das Profane zur Kunst. Sein Spiel war nie geprägt von Zufall.
"Ich schieße, wie es dem Moment entspricht", sagte er einmal über die Art, wie er Freistöße trat, "da berechne ich halt die Position der Mauer, den Winkel - und dann geht's los!" Ein Mathematiker in kurzen Hosen. Pirlo sei "der Beweis der Existenz Gottes", behauptete Buffon, "sein Können macht uns verlegen". Dass der Räuber Hotzenplotz des Fußballs das Geschehen aus seinem von langen Haaren und Rauschebart umwucherten Gesicht stets "voller Weltekel" (11Freunde) zu verfolgen schien, verlieh ihm etwas Mysteriöses.
Mehr Zeit für sein Weingut
Nur sehr selten erklärte er sich in Interviews wie im Oktober, als er das Ende in der Gazzetta dello Sport ankündigte. Wegen Knieproblemen waren seine Einsätze für New York, wo er seit 2015 spielte, seltener geworden, "es ist nicht so, dass man einfach bis 50 weitermachen kann", sagte der 38-Jährige. Über Gefühle sprach er nie, doch nach der Pleite im EM-Finale 2012 oder der im Champions-League-Endspiel 2015 weinte er hemmungslos.
Mit "Maestro" Pirlo verliere der Fußball "ein Talent ohnegleichen", schrieb der Corriere dello Sport, La Stampa kommentierte, diesem "Genie liegt die Welt zu Füßen". Der Junge aus der Provinz Brescia habe "das Fußballspiel erfunden", hieß es im Corriere della Sera. Als Trainer sei Pirlo nicht vorstellbar, "aber jemand, der so mit einem Ball umgehen kann, kann im Leben alles machen".
Auch auf dem Feld bleiben - als Winzer. In seinem Heimatort Capriano del Colle besitzt Pirlo das Weingut "Pratum Coller". Pratum, lateinisch, bedeutet: Rasen.