London. Englands florierende Hauptstadt, eine Metropole, die Millionen von Touristen Jahr für Jahr in ihre ausladenden Straßen lockt. Ganz in der Nähe von dort, wo das britische Schick zuhause ist, Edelboutique sich an Edelboutique reiht, die Themse die Szenerie durchschneidet und der Big Ben das rege Treiben in den Gassen, Parks und Pubs beobachtet, gibt es auch eine andere Seite.
Einen Steinwurf entfernt von Burberryschals und Barbour-Wachsjacken, Poloklubs, Sternerestaurants und Buckingham Palace, liegen die alten Backsteingebäude Kenningtons im Londoner Süden. Hier, mit ständiger Geldknappheit kämpfend, umringt vom privilegierten Teil der Gesellschaft, wächst zu Beginn des neuen Jahrtausends eine der größten englischen Nachwuchshoffnungen auf: Jadon Sancho.
Wenige Jahre später ist der Junge aus der "Hood", wie er sein Viertel selbst nennt, rausgekommen aus dem verarmten Speckgürtel der Weltstadt. "Das Leben dort wäre nicht gut für mich gewesen, weil es viele schlechte Menschen gab", erklärte er Anfang dieses Jahres im Gespräch mit der BBC bezüglich seiner Heimat. "Ich wollte nur von dort wegkommen. Ich denke ständig daran, was passieren hätte können, wenn ich es nicht geschafft hätte." Konjunktive, mit denen sich der Offensivmann spätestens jetzt nicht mehr auseinandersetzen muss.
Jadon Sancho erstmals im Kader der englischen Nationalmannschaft
Statt in den tristen Gassen Kenningtons abzuhängen, thront der 18-Jährige auf dem von Mikrofonen und Erfrischungsgetränken gespickten Podium, entblößt eine makellose, strahlend weiße Zahnreihe und beantwortet die Frage der anwesenden Journalisten mit Geduld. Nur zu Manchester City, seinem Ex-Klub, möchte er lieber nichts sagen, "wenn das in Ordnung geht", macht er freundlich, aber bestimmt klar. Keine weiteren Fragen zu den Skyblues, denen er im Sommer 2017 den Rücken kehrte, um sich Borussia Dortmund anzuschließen.
Der Grund für das große Interesse der Medien an dem Youngster: Sancho wurde erstmals von England-Trainer Gareth Southgate für die A-Auswahl der Three Lions nominiert, die in der Nations League am Freitagabend zunächst auf Vizeweltmeister Kroatien und drei Tage später auf Spanien treffen. "Ich konnte den ganzen Tag nicht aufhören zu lachen", sagt er, als er auf den Anruf Southgates angesprochen wird. Als erste Amtshandlung habe er seinen Eltern die frohe Kunde übermittelt, verrät er weiter.
Die Berufung in das Aufgebot des WM-Vierten kommt nicht von ungefähr. Derzeit sorgt Sancho nämlich in Deutschland für ordentlich Furore, scheint unter Neu-BVB-Coach Lucien Favre komplett aufzublühen. Die Statistik mit einem Tor und beeindruckenden neun Vorlagen in zehn Pflichtspielen in dieser noch jungen Saison spricht Bände - und legitimiert, dass das ehemalige City-Juwel sich plötzlich mit Fragen zu möglichen Ausstiegsklauseln im dreistelligen Millionenbereich auseinandersetzen muss.
"Das ist verrückt. Ich weiß überhaupt nicht, was ich dazu sagen soll", entgegnet er entrüstet. Das Fußballgeschäft ist schnelllebig, das weiß Sancho nicht erst seit er in aller Munde ist.
BVB-Ass Jadon Sancho: Kommt der Hype zu früh?
Nun geht damit oftmals einher, dass viele Spieler schon in jungen Jahren gehypt werden und ebenjener Hysterie aus verschiedenen Gründen nicht gerecht werden können. Dass Sancho ein ähnliches Schicksal droht, scheint - Stand jetzt - nicht der Fall zu sein.
Als Siebenjähriger schloss sich Jadon, dessen Eltern aus Trinidad und Tobago stammen, bereits dem englischen Profiklub FC Watford an. Dort sah ihn Sayce Holmes-Lewis, der damalige Trainer der Southwark's London Youth Games-Mannschaft, für die Sancho und sein Kumpel Reiss Nelson (aktuell von Arsenal an Hoffenheim ausgeliehen, Anm. d. Red.) gemeinsam aufliefen.
"Als ich Jadon und Reiss das erste Mal sah, dachte ich: 'Diese beiden Jungs sind völlig irre'", erinnerte sich der Jugendcoach im Interview mit dem Mirror. "Jadon hat seine Gegenspieler lächerlich gemacht. Seine Beinschüsse, diese Skills. Man muss bedenken, dass er das gegen andere Auswahlspieler gemacht hat", schwärmte Holmes-Lewis weiter.
"Ich kann mich noch daran erinnern, als ich Jadon, Reiss und Ian Carlo (aktuell bei Manchester City unter Vertrag, Anm. d. Red.) ins Drei-gegen-Drei schickte. Meine Trainerkollegen Ahmet Akdaj, Cedric Kobongo und ich versuchten, die anderen drei Jungs zusammenzuhalten. Aber sie wurden komplett auseinandergenommen. Reiss packte einen Trick aus, verteilte Tunnel, danach machte Ian Carlo das auch und Jadon ebenfalls. Wir standen dort und sagten: 'Mein Gott, diese Jungs sind einfach nur phänomenal.' Da waren sie gerade einmal zehn Jahre alt."
Jugendtrainer: Jadon Sancho wird "irgendwann Europas Spieler des Jahres"
Für Holmes-Lewis kommt der rasante Aufstieg Sanchos also nicht überraschend. "Jadon macht Dinge, die sonst niemand macht. Er führt seine Gegner nahezu vor. Wenn er so weitermacht, wird er irgendwann Europas Spieler des Jahres, wenn nicht sogar der Beste der Welt", prophezeite Sanchos Ex-Übungsleiter.
Louis Lancaster arbeitete ebenfalls mit Sancho zusammen, coachte den Rohdiamanten in Watfords U-Team. "Es gab diesen Moment, da saß ich mit meinen Spielern zusammen und habe sie gefragt: 'Wie sehen Eure Träume aus?' Als Jadon an der Reihe war, sagte er: 'Ich möchte für einen europäischen Top-Klub und für England spielen, meine Eltern stolz machen'", sagte Lancaster gegenüber dem Mirror.
Er weiß nur zu gut, bei wem Sancho sich seine Inspiration holte. "Einmal sollte er an der Harefield Academy an der Englischstunde teilnehmen. Wenn man dann an ihm vorbeiging und auf seinen Bildschirm schaute, schloss er sofort den Tab, weil er sich Videos von Neymar angeschaut hatte. Später machte er ein neues Fenster auf und guckte Skill-Videos von Ronaldinho. Das hat ihn unglaublich motiviert."
Lancaster zufolge hat vor allem Sean Sancho, Jadons Vater, erheblichen Anteil an dem positiven Karriereverlauf seines Sohnes: "Sein Vater hatte großen Einfluss auf ihn, er hat ihn immer unterstützt, ganz viele Fragen gestellt und ist einfach toll mit Jadon umgegangen", erzählte Lancaster und schob nach: "Ich freue mich, dass Gareth Southgate einem solchen Spieler die Chance gibt. So etwas haben wir in der jüngeren Vergangenheit verpasst. Ich hoffe, er wird für England abliefern."
Die Leistungsdaten von Jadon Sancho beim BVB
Wettbewerb | Einsätze | Tore | Vorlagen | Minuten |
Bundesliga | 7 | 1 | 7 | 214 |
DFB-Pokal | 1 | 1 | 40 | |
Champions League | 2 | 1 | 153 |
Jadon Sancho: Manchester City statt London-Spitzenklubs
Mit 15 Jahren entschied Sancho sich für einen Tapetenwechsel. Obwohl der FC Chelsea und Arsenal mehrfach bei seinen Eltern vorstellig wurden, wechselte er zu City nach Manchester, wo er auf Jugendleiter Mark Burton traf.
"Wir hatten wunderbare Spieler bei ManCity, aber er war etwas ganz Besonderes. Wenn jemand bei City herausragt, dann weiß man, dass dieser Spieler außergewöhnlich ist", sagte er dem Mirror. Er ergänzte: "Er wollte immer noch mehr erreichen. Als er 16 war, wollte er mit den 18-Jährigen spielen, als er 18 war, wollte er mit den Profis trainieren. Hätten wir ihm die Chance gegeben, als 15-Jähriger schon bei der ersten Mannschaft mitzumachen, hätte ihn das nicht aus der Fassung gebracht. Er ist einfach so ein Typ. Bei uns hat niemand daran gezweifelt, dass er erfolgreich sein wird."
Die Skyblues-Verantwortlichen boten Sancho ein Wochengehalt von 30.000 Pfund, doch er wollte weg, zu einem Verein, bei dem die Chancen auf regelmäßige Spielzeit größer waren als im Etihad. Mehr als sieben Millionen Euro legte der BVB 2017 für ihn auf den Tisch. In seiner Bundesliga-Debütsaison deutete er seine Qualitäten bereits an, wurde aber von einer Bänderverletzung zurückgeworfen.
Mittlerweile hat er sich vollends im Ruhrgebiet eingelebt, mag Schnitzel, hat aber noch nie deutsches Bier getrunken, wie er der Sun jüngst verriet. Dass er sich in Dortmund akklimatisiert hat, liegt auch daran, dass er mit seinem Vater zusammenwohnt, somit nicht gänzlich auf seine Familie verzichten muss. Seine Mutter und Schwester vermisst er dennoch. Die sind nämlich in der Heimat geblieben.
Sollte Jadon eines Tages zurückkehren, nach London, dort, wo seine Wiege in einem alten Backsteinhaus, im Dunstkreis der Schönen und Reichen, stand, dürfte er seiner einstigen "Hood" locker entfliehen können. Das, was er immer wollte. Bis dahin gilt aber: Believe the hype um eines der verheißungsvollsten Talente des Globus.