Tim Sparv spielt für den dänischen Meister und Statistik-Klub FC Midtjylland, schreibt Kolumnen für eine finnische Zeitung, betreibt einen eigenen Blog im Internet und macht bald seinen Gymnasialabschluss.
Im Interview erzählt Sparv von seinem biertrinkenden (und dazu stehenden) finnischen Nationalmannschaftskollegen Lukas Hradecky, von einem Oktoberfestbesuch mit seinem Ex-Klub SpVgg Greuther Fürth und seiner Zeit mit Gareth Bale in der Jugendabteilung des FC Southampton. Außerdem erklärt er die interessanten statistischen Ansätze bei Midtjylland - und warum er eine blaue Persönlichkeit ist.
SPOX: Herr Sparv, allerorts wird über die neue UEFA Nations League geschimpft, in Finnland scheint sie gut anzukommen. Bereits vorzeitig sicherte sich Ihre Mannschaft den Aufstieg in Liga B. Wie steht es um die Fußballeuphorie im Land?
Tim Sparv: Es herrscht gerade die beste Stimmung um das Nationalteam, seit ich vor fast zehn Jahren debütierte. Vor einem Jahr wurden wir noch entweder ausgelacht oder bemitleidet - und jetzt spielen wir auf einmal auf sehr hohem Niveau und erzielen gute Ergebnisse.
SPOX: Woran liegt das?
Sparv: Es gibt zwei wichtige Komponenten: Mit Markku Kanerva haben wir einen Nationaltrainer, der eine klare und einfache Spielphilosophie verfolgt, an die sich alle Spieler schnell anpassen können. Bei einer Nationalmannschaft bringt es nichts, sich für besonders clever zu halten und komplizierte Konzepte einzustudieren. Dafür gibt es einfach nicht genügend Zeit. Die zweite Komponente sind unsere aufstrebenden jungen Spieler wie Glen Kamara, Pyry Soiri oder Jasse Tuominen. Sie bringen die Energie mit, die wir zuvor vermisst haben.
SPOX: Im Tor steht Lukas Hradecky von Bayer Leverkusen. Was ist er für ein Typ?
Sparv: Lukas ist ein fantastischer Keeper, aber vor allem ein sehr lustiger Mensch. Er lässt sich nie stressen und lächelt immer. Nach einem Spiel trinkt er gerne mal ein Bier oder zwei - und gibt das auch öffentlich zu. Aus Angst aufzufallen verschweigen das die meisten Profifußballer, obwohl viele mal ein Bier trinken. Viele Spieler sind in der Öffentlichkeit nicht sie selbst und daran tragen auch die Klubs eine Schuld. Sie versuchen lauter gleiche Personen zu kreieren, um Skandale zu vermeiden. Das unterdrückt die Persönlichkeiten der Spieler und sorgt für Langeweile. Lukas macht das nicht mit und deshalb mag ich ihn so gerne. Er gibt sich wie er ist: eine sehr bunte Persönlichkeit.
SPOX: Wie er spielten auch Sie mal in Deutschland, in der Saison 2013/14 in der 2. Liga bei der SpVgg Greuther Fürth. Wie haben Sie die Zeit in Erinnerung?
Sparv: Manchmal fühle ich mich als Halbdeutscher, denn ich arbeite gerne in einem professionellen Umfeld mit guter Organisation und Planung. Genauso war es in Fürth und das hat mich beeindruckt. Obwohl der Klub damals nur in der 2. Liga spielte, herrschten bessere Bedingungen als bei meinem vorherigen Klub, dem niederländischen Erstligisten FC Groningen. Sehr genossen habe ich auch die ausgeprägte Fankultur in Deutschland. Mit am schönsten war aber, dass es eigentlich immer irgendwelche Feste gab. Fasching zum Beispiel und einmal waren wir mit der ganzen Mannschaft beim Oktoberfest in München.
SPOX: Und, wie war es?
Sparv: Jeder trägt dort dieses spezielle Outfit und deshalb musste ich mir natürlich auch eines zulegen. Dafür, dass ich es nur einmal anhatte, hat es sehr, sehr viel Geld gekostet. Eigentlich mag ich Wein lieber als Bier, aber dort hatte ich auch eine Maß. Die Energie in dem Zelt war spektakulär. Ich habe noch Videos auf meinem Handy, die ich mir immer wieder anschaue. Einen Oktoberfestbesuch muss man einmal im Leben gemacht haben.
SPOX: Konnten Sie bei den deutschen Liedern mitsingen?
Sparv: Ich habe damals viel deutsches Radio gehört und dann beim Oktoberfest versucht, die Lieder mitzusingen. 99 Luftballons ging besonders gut, aber das kannte ich auch schon vorher.
gettyDie Karrierestationen von Tim Sparv
Zeitraum | Verein |
2003 bis 2007 | FC Southampton (England) |
2007 bis 2008 | Halmstads BK (Schweden) |
2008 (Leihe) | Vaasan Palloseura (Finnland) |
2008 bis 2010 | Halmstads BK (Schweden) |
2010 bis 2013 | FC Groningen (Niederlande) |
2013 bis 2014 | SpVgg Greuther Fürth (Deutschland) |
2014 bis heute | FC Midtjylland (Dänemark) |
SPOX: Im Sommer 2014 wechselten Sie zum FC Midtjylland. Ein Klub, der auf Basis statistischer Analysen geführt wird. Das Konzept erinnert an den Baseball-Klub Oakland Athletics um Manager Billy Beane. Wie ist Midtjylland auf Sie aufmerksam geworden?
Sparv: Die statistische Herangehensweise des Klubs spielt schon auf dem Transfermarkt eine große Rolle. Midtjylland verpflichtet keine Spieler, die über keine interessanten Statistiken verfügen. Dem angewandten Model zufolge ist die deutsche 2. Liga eine der unterschätztesten Ligen überhaupt. Die besten Teams der Liga werden sogar fast wie Premier-League-Vereine eingestuft. Wir spielten mit Fürth eine gute Saison, waren zeitweise Tabellenführer und scheiterten am Ende als Dritter erst in der Relegation am Hamburger SV. Also hat sich Midtjylland das Team angeschaut und die Schlüsselspieler gesucht. Da haben sie gemerkt, dass ich bei verhältnismäßig vielen Siegen auf dem Platz stand und bei Punktverlusten oft entweder angeschlagen oder gesperrt war. Bei meiner vorherigen Station Groningen war es ähnlich. Ich war nie ein Spieler, der viele Tore oder Assists liefert, aber ich verfüge offenbar über spezielle Führungsqualitäten, die nicht messbar sind. So wurde Midtjylland auf mich aufmerksam.
SPOX: Was halten Sie von dieser Herangehensweise?
Sparv: Der Klub verfolgt einen gänzlich anderen Zugang zum Fußball, als ich ihn davor je erlebt habe. Auch in Fürth haben die Trainer ein bisschen auf Statistiken geschaut, aber in Midtjylland hat der Fußball einen Schritt in die Moderne gemacht.
SPOX: Verantwortlich für diesen Ansatz ist der Multimillionär Matthew Benham. Er verdiente sein Geld einst mit Sportwetten, indem er mit mathematisch-statistischen Analysen Lücken in Buchmacher-Offerten fand. Seit 2012 führt er den englischen Zweitligisten FC Brentford, 2014 übernahm Benham den damals finanziell angeschlagenen FC Midtjylland. Was ist er für ein Typ?
Sparv: Ich habe ihn ein paar Mal getroffen, manchmal ist er hier und ich habe mir auch schon Spiele von Brentford in London angeschaut und ihn dort gesehen. Er ist ein sehr freundlicher und intelligenter Kerl, aber auch jemand, der gerne im Hintergrund steht. Er will keine Interviews geben und meidet die Öffentlichkeit.
SPOX: Seit Benham im Klub ist, gewann Midtjylland die ersten beiden Meistertitel der Vereinsgeschichte. Wie beliebt ist der Klub in Dänemark mittlerweile?
Sparv: Bröndby IF und der FC Kopenhagen haben mehr Anhänger und eine ausgeprägtere Fankultur als wir. Midtjylland macht aber große Schritte in die richtige Richtung, mittlerweile sind die Heimspiele oft ausverkauft und uns begleiten auch auswärts viele Fans. Hoffentlich haben wir irgendwann genauso viele Anhänger wie die beiden großen Hauptstadt-Klubs.
imagoSPOX: Zurück zum Thema Statistiken: Welche Rolle spielen sie bei Midtjylland im Fußballalltag?
Sparv: Alle acht bis zehn Spiele machen wir eine große Leistungsevaluierung, bei der uns der Trainer erklärt, was wir besser machen sollten. Das beginnt bei einfachen Dingen wie Zweikämpfen, Pässen oder Flanken und geht bis hin zu komplizierteren Konzepten wie Expected Goals.
SPOX: Was bedeutet das genau?
Sparv: Expected Goals bezieht sich darauf, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, in einer speziellen Situation ein Tor zu erzielen. Das hängt unter anderem von der Abschlussdistanz, dem Winkel, aus dem der Pass kommt, und der Tatsache, ob mit dem schlechteren oder stärkeren Fuß geschossen wird, zusammen. Es gibt aber noch zahlreiche weitere Variablen. Wir wollen immer die ideale Position für einen Abschluss finden.
SPOX: Wo befindet sich die ideale Position?
Sparv: Ich würde allen empfehlen, nur aus Strafraumnähe oder von innerhalb des Strafraums abzuschließen. Es ist zwar schön, tolle Distanzschüsse zu sehen, aber der Ertrag ist zu gering. Wenn ich mir im Fernsehen ein Spiel anschaue und da schießt einer aus 25 Metern mit dem schlechteren Fuß, dann werde ich richtig wütend. Das macht einfach keinen Sinn.
SPOX: Welche Rolle spielen Standards bei Midtjylland?
Sparv: Standards sind eines unserer Erfolgsgeheimnisse. Wir zählen fast in jeder Saison zu den Teams, die europaweit die meisten Tore nach ruhenden Bällen schießen. Mit Mads Buttgereit verfügt der Klub über einen eigenen Standard-Trainer, der uns mit seiner Kreativität voranbringt. Mit ihm haben wir sogar unser eigenes Playbook entwickelt, in dem es für alle verschiedenen Standardsituationen mehrere Alternativen gibt. Im Training ist er extrem enthusiastisch und getrieben. Manchmal macht er selbst mit, um zu zeigen, wie ernst es ihm ist. Einmal hat er sich dabei sogar verletzt und ist deswegen zwei Wochen lang herumgehumpelt. Nach dem Training gibt es immer noch eine eigene Videoanalyse für Standards.
SPOX: Haben Sie bei einem Ihrer vorherigen Klubs schon mal einen ähnlichen Fokus auf Standards erlebt?
Sparv: Nein. Bei vielen Vereinen werden Standards nicht ernstgenommen. Da wird am Tag vor einem Spiel zehn Minuten geübt und dann ein Ergebnis erwartet. So funktioniert das aber leider nicht. Gute Standards erfordern Kreativität, viel Training und ausführliche Videoanalysen. Sollte ich mal Trainer werden, werde ich auf jeden Fall einen eigenen Standard-Trainer anstellen.
SPOX: Neue Spieler müssen bei Midtjylland nach der Ankunft einen Persönlichkeitstest absolvieren. Wie sieht der aus?
Sparv: Es sind rund 30 Fragen, bei denen es jeweils verschiedene Antwortmöglichkeiten gibt. Diese muss man ordnen, je nachdem wie zutreffend sie für einen persönlich sind. Anschließend wird das ausgewertet und man bekommt ein 20-seitiges, persönliches Verhaltensprofil. Es zeigt, wie man in speziellen Situationen denkt und reagiert. Ich habe dabei viel über meine Persönlichkeit gelernt.
SPOX: Was für eine Persönlichkeit sind Sie denn?
Sparv: Das Konzept basiert auf Farben, demnach bin ich eine sehr blaue Persönlichkeit. Das bedeutet, ich bin strukturiert, organisiert und diszipliniert. Ich mag es, wenn alles seine Ordnung hat. Wenn ich in eine unorganisierte Umgebung komme, in der Leute spontan handeln, werde ich launisch und nervös. Kleine Probleme werden in meinem Kopf dann auf einmal ganz groß und ich muss mir selbst sagen: "Okay Tim, erstmal ein paar Sekunden durchatmen und dann schaffst Du das."
SPOX: Was sind die anderen Farben dieses Konzepts?
Sparv: Meine Freundin ist beispielsweise eine gelbe Persönlichkeit. Sie ist viel kreativer und spontaner als ich. Wenn wir einen freien Tag haben, dann hat sie lauter Ideen und ich denke nur: "Jetzt erstmal langsam und in Ruhe überlegen, was wir wann machen." Grüne Persönlichkeiten sind familienorientiert, freundlich und sozial. Rote Persönlichkeiten sind Gewinnertypen, die aber auch mal aggressiv und laut werden können. Prinzipiell hat jeder Mensch alle Farben in sich, manche sind aber stärker ausgeprägt.
SPOX: Themawechsel: Sie schreiben einen Internet-Blog. Wie sind Sie denn auf diese Idee gekommen?
Sparv: Das ist eine lange Geschichte. Bis ich 24 oder 25 Jahre alt war, brauchte ich nichts anderes als Fußball. Aber dann bekam ich langsam das Gefühl, dass ich mehr aus meinem Leben machen und mein Gehirn öfter stimulieren muss. Ich brauchte noch etwas anderes, sonst wäre ich verrückt geworden. Und deshalb bin ich zunächst wieder zur Schule gegangen.
SPOX: Zur Schule?
Sparv: Mit 16 habe ich in Finnland die erste Ausbildungsstufe abgeschlossen und dann mit der Schule aufgehört, um in die Jugendakademie des FC Southampton zu übersiedeln und mich dort ganz dem Fußball zu widmen. Mit 25 beschloss ich schließlich, meine schulische Ausbildung fortzusetzen und mit dem Gymnasium anzufangen. Das geht sehr flexibel und online, ich mache es ganz entspannt und in meinem eigenen Tempo. Ich muss noch sechs Kurse belegen, dann darf ich zur großen Abschlussprüfung antreten. Sollte ich diese bestehen, dürfte ich mich bei einer Universität einschreiben. Das wäre eine gute Grundlage für die Zeit nach dem Ende meiner aktiven Karriere.
SPOX: Wie haben Ihre Bekannten auf die Schulrückkehr reagiert?
Sparv: Als ich das damals meinen Freunden erzählte, haben sie mich natürlich ausgelacht. Es ist ja schon lustig, dass ich jetzt mit 31 dasselbe lerne wie normale 17- oder 18-Jährige. Ich liebe es aber, mir neue Sachen anzueignen und ich brauche einfach etwas zum Nachdenken, wenn ich vom Training heimkomme.
SPOX: Zurück zu Ihrem Blog.
Sparv: Ich habe immer schon gerne geschrieben und deshalb begann ich vor einiger Zeit, ein- oder zweimal im Monat Kolumnen für eine finnische Zeitung zu verfassen. Dabei geht es um alle möglichen Themen, von Erziehung bis Politik. Und dann kam ich irgendwann auf die Idee, einen eigenen Blog zu betreiben.
SPOX: Was wollen Sie damit erreichen?
Sparv: Für mich ist es eine Plattform, mich auszudrücken und meine Gedanken zu Wort zu bringen. Ich kann dort mit anderen Leuten diskutieren und vielleicht jemanden inspirieren. Da ich meine Texte auf Englisch schreibe, entwickle ich mich auch sprachlich weiter.
SPOX: Wie sieht das Feedback aus?
Sparv: Hauptsächlich positiv und aufmunternd. Mich hat es sehr gefreut, dass Midtjylland einige Blogs von mir an Eltern von Jugendspielern geschickt hat. Einmal hielt ich für unsere Jugendspieler eine Vorlesung darüber, was es bedeutet, ein Fußballprofi zu sein. Dabei ging es um Ernährung, Spielvorbereitung und Freizeitgestaltung.
SPOX: Wie eng ist der Austausch mit den Jugendspielern generell?
Sparv: Wir hatten mal ein halbjähriges Projekt, bei dem einige Profis zu Mentoren für bestimmte Jugendspieler ernannt wurden. Ein, zwei Kollegen und ich haben das nach Ablauf des Projekts einfach weitergeführt. Ich bin der Mentor eines Jungen, der auch aus Finnland kommt, im zentralen Mittelfeld spielt und Linksfuß ist. Das ist eine Win-Win-Situation. Ich schaue mir seine Spiele an, mache Videoanalysen mit ihm und gebe ihm taktische und technische Tipps. So kann er von meinen Erfahrungen profitieren. Ich lerne wiederum, wie ich junge Spieler mit meinen Botschaften erreiche und entwickle so meine Führungsqualitäten weiter.
SPOX: Sie selbst verbrachten Teile Ihrer Jugend beim FC Southampton. Mit 16 übersiedelten Sie alleine von Finnland nach England. Wie war das für Sie?
Sparv: Für einen Jungen aus einem kleinen finnischen Dorf war das natürlich ein großer Schritt, aber gleichzeitig eine der besten Erfahrungen meines Lebens. Es waren Jugendliche aus verschiedensten Ländern dort und wir haben alle zusammen in einem alten Hotel gewohnt. Dort gab es eine Familie, die sich um uns kümmerte und jeden Tag für uns kochte.
gettySPOX: Wurden von dieser Gruppe noch andere Spieler außer Ihnen Profi?
Sparv: Es waren viele dabei, die später in der Premier League spielten: Gareth Bale, Adam Lallana, Theo Walcott und noch ein paar andere. Wir unternahmen damals viel gemeinsam, waren im Kino, haben Pool gespielt oder Fußball geschaut. Wir hatten aber auch Pflichten und mussten zum Beispiel immer die Kabinen der Profimannschaft putzen.
SPOX: Wie haben Sie Gareth Bale in Erinnerung?
Sparv: Er war sehr geerdet, leise und schüchtern. Keiner von denen, die am Abend ausgebrochen und in einen Club gegangen sind. Am besten in Erinnerung geblieben ist mir, wie unglaublich viele Extra-Schichten Gareth gemacht hat, um Freistöße zu üben. Manchmal habe ich beim Mittagessen aus dem Fenster geschaut und da stand er allein auf dem Platz und hat immer noch Freistöße geschossen.