Er war ein Glamour-Star, als es diese im Fußball noch nicht gab, zudem der beste Spieler seiner Zeit. Dennoch starb Jose Andrade in bitterer Armut.
Es war irgendwann im Jahr 1956, als der deutsche Journalist Fritz Hack durch die Armenviertel von Uruguays Hauptstadt Montevideo zog. Er suchte jemanden, an den er sich erinnerte, den der Rest der Welt aber längst vergessen hatte. Obwohl sie ihn alle gefeiert hatten, diesen so unfassbar begabten Typen, besonders im fernen Paris. Die heruntergekommene Baracke, in der Hack seine Zielperson nach fast einer Woche des Umherirrens aufspüren sollte, hatte mit dem einstigen Ruhm nichts mehr gemein.
"In einer spartanisch eingerichteten Behausung fand ich Andrade, der total dem Alkohol verfallen und durch eine Augenverletzung inzwischen halbseitig erblindet war", sagte Hack später. "Meinen Fragen konnte er nicht mehr folgen. Die Antworten gab seine bildhübsche Frau." Rund ein Jahr später starb Jose Leandro Andrade in tiefster Armut. Er war der vielleicht allererste Weltstar, den der Fußball gesehen hatte. Olympiasieger 1924 und 1928 mit Uruguay, Weltmeister 1930, als 'La Maravilla Negra', 'Das schwarze Wunder', gepriesen. Hätte er heute gelebt, er hätte wohl den Status eines Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo.
Zeitsprung. Geboren wurde Andrade um 1900 herum in Salto, der zweitgrößten Stadt Uruguays, aus der auch die heutigen Superstars Luis Suarez und Edinson Cavani stammen. Wahrscheinlich erblickte er am 1. Oktober 1901 das Licht der Welt, eine von mehreren Quellen nennt aber auch den 20. November 1898 als Geburtsdatum. Schon Andrades frühestes Leben ist mit Mythen belegt.
Er wächst bei seiner Tante in Montevideo auf, zur Schule geht er kaum. Stattdessen verdient er sich schon als Kind auf der Straße ein paar Pesos als Straßenmusiker, lebt sehr früh seine vielfältigen Talente aus: Andrade kann singen, ist ein begnadeter Tango-Tänzer - und vor allem deutlich begabter am Ball als all seine Kumpels in der Nachbarschaft, der Sprung nach oben ist nur eine Frage der Zeit. Bei Penarol Montevideo gelingt ihm der Durchbruch zwar noch nicht, dafür aber Anfang der 20er Jahre bei Bella Vista.
Bei Olympia 1924 verzückt Andrade die Pariser Nachtclubs
Andrade wird Nationalspieler, gewinnt 1923 die Copa America. Und erlebt im Sommer 1924, bei den Olympischen Spielen in Paris, den Startschuss seines Ruhms und den Beginn seines schleichenden Absturzes zugleich. 23 Jahre ist er damals vermutlich alt.
Uruguay zaubert sich federleicht durch das Turnier. Andrade ist dabei der herausragende Akteur der Südamerikaner, heute würde man ihn vermutlich Box-to-Box-Player nennen. Er ist überall auf dem Feld, seine Eleganz am Ball beschrieben Zeitzeugen so, dass sie mit jener eines Zinedine Zidane verglichen werden könnte. Technisch und physisch ist Andrade seiner Zeit weit voraus, der Weltverband der Fußballhistoriker und Statitsiker (IFFHS) schreibt über ihn: "Der weltbeste Spieler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts." Und ein deutscher Fußball-Korrespondent urteilte über den Mann, der den Fallrückzieher salonfähig gemacht haben soll: "Ein zielbewussteres, taktisch vollendeteres Spiel lässt sich kaum denken. Sein fabelhaftes Können rief spontan Beifall hervor."
In der Vorrunde schlägt Uruguay die Jugoslawen (7:0) und die USA (3:0) deutlich, im Viertelfinale muss Gastgeber Frankreich (5:1) dran glauben. Und Andrade wird zum Megastar der Spiele, allerdings nicht nur wegen seiner überragenden Leistungen auf dem Platz. Paris ist in den 1920ern das Zentrum der Boheme, einer Subkultur der Intellektuellen, der Künstler oder Schriftsteller, die stets nach dem Neuen, dem Exotischen, dem speziellen Kick sucht.
Andrade ist dafür wie geschaffen. In Europa kannte man dunkelhäutige Fußballer seinerzeit noch nicht, zudem verfügte Andrade durch sein Tango-Können auch über massig Show-Talent. "Gut sieht er aus, der Modellathlet, und zu verkaufen weiß er sich auch. In den Bars und Cafes rund um den Montmatre hält er sich auf", werden Zeitzeugen zitiert. Die Pariser Nachtclubs liegen Andrade zu Füßen, in der französischen Metropole erfährt der eigentlich so schüchterne Junge Ruhm, wird von den Frauen angehimmelt. Und nebenbei gewinnt er mit Uruguay durch Siege gegen die Niederlande im Halbfinale und die Schweiz im Endspiel auch noch Gold bei Olympia.
Im Pariser Nachtleben war er eine so große Nummer, dass ihn betuchte Leute zu sich nach Hause einluden. Andrade schlich sich oft nachts aus dem Mannschaftshotel, vergnügte sich auf schicken Partys. Angel Romano war der einzige Teamkamerad, dem er steckte, wohin er ging. Und als Romano einmal vom Verband geschickt wurde, um Andrade zurückzubringen, traute er zunächst seinen Augen nicht: Die Adresse, die ihm sein Kumpel verraten hatte, gehörte zu einer prunkvollen Pariser Villa. Und Andrade kam auf Geheiß des Zimmermädchens schließlich mit einem seidenen Kimono bekleidet herunter, begrüßte seinen Mannschaftskameraden mit mehreren Frauen in Dessous im Schlepptau.
Andrades Abstieg: Zwei verheerende Schwächungen
Er blieb auch nach Olympia noch einige Monate in Paris. Es fühlte sich für ihn, der arm und in den schlimmsten Gossen Uruguays aufgewachsen war, an wie das Paradies. Und zurück in Montevideo kleidete und verhielt sich Andrade, immer noch unter dem Einfluss der Erlebnisse im goldenen Europa, plötzlich hochmütiger als sonst, nicht selten wurde ihm Arroganz vorgeworfen. Er kostete das Dolce Vita weiterhin aus, ohne dass seine sportlichen Leistungen draunter litten. Mit Nacional Montevideo, wo er von 1925 bis 1931 spielte, holte er Meistertitel um Meistertitel, kehrte während einer ausgedehnten Europa-Tournee des Klubs unter anderem nach Paris zurück.
Irgendwann und irgendwo während jener Zeit steckte sich Andrade mit Syphillis an, prallte zudem im Olympia-Halbfinale 1928 gegen Italien so heftig an den Pfosten, dass er sich eine schwere Augenverletzung zuzog. Zwei Schwächungen, die er zunächst weiterhin wegstecken konnte, weil sein fußballerisches Talent so enorm war. Trotz der Krankheit und des immer schwächer werdenden Augenlichts ist Andrade auch bei der WM 1930 Uruguays wichtigster Mann, führt sein Land zum Titel. Andrade erhält den Bronzenen Ball als drittbester Spieler des Turniers, Uruguay gewinnt alle Spiele, im Finale schlägt man den großen Rivalen aus Argentinien mit 4:2.
Es sollte Andrades letztes von 34 Länderspielen sein. Inzwischen um die 30 Jahre alt, spielt er noch ein paar Jahre für Nacional und Penarol, geht dann kurz nach Argentinien zu den Argentinos Juniors und beendet seine Karriere schließlich im Jahr 1937. Danach wird es sehr schnell sehr still um ihn. Das größte Problem: Zwar war er einst ein Weltstar und bekannt wie ein bunter Hund, viel Geld war mit dem Fußball seinerzeit aber noch nicht zu verdienen. Und Andrade kam nicht damit zurecht, plötzlich nur noch ein x-beliebiger Typ mit finanziellen Problemem zu sein.
Ein Bettler in Paris: Andrade am Boden
Er versuchte sein Glück auch nach der Karriere noch einmal in Paris, endete dort aber rasch als Bettler und kehrte nach Uruguay zurück. Auf dem verletzten Auge sah er immer schlechter, zwei Ehen sollen gescheitert sein, die Stadt Montevideo versuchte ihm mit verschiedenden Anstellungen zu helfen. Doch Andrades Niedergang war nicht mehr zu stoppen, zu oft flüchtete er sich nun wohl auch in Alkoholgelage.
Alles weitere verläuft nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn mehr oder weniger im Ungewissen. Eine Schande, wenn man bedenkt, dass Jose Leandro Andrade einer der Ersten war, der den Weltfußball prägte. Die FAZ schrieb mal über ihn: "Eine vergessene Gestalt aus ferner Fußballzeit, von deren Kunst nur ein paar unscharfe Standbilder und einige schwärmerische Beschreibungen übrig geblieben sind."
Seine Medaillen waren die letzten handfesten Überbleibsel jenes Glanzes. Als Andrade im Oktober 1957 verstarb, fand man die Erinnerungsstücke aus Gold wieder. Aufbewahrt in einem simplen Schuhkarton.